Materialien 1973
Der Norden
Es ist recht heiß, als wir uns am Nachmittag des 1. Mai zu einer Demonstration auf Initiative der „Arbeitersache“ am Anhalter Platz in Milbertshofen treffen. Es sollte die erste Demonstration wer-
den, die dieses Viertel je erlebt hat: die Transparente werden entfaltet: „Wir wollen leben – Tag gegen die Arbeit“ lauteten die Parolen, mit denen wir durch einen Teil des Münchner Nordens ziehen wollen, in dem man nach Meinung des Stadtrates „eigentlich gar nicht mehr leben kann.“
Milbertshofen, das ist die Mitte der Region „Norden“, die von den Fabrikhallen der Kraus-Maffei und MAN im Westen bis zum Bundesbahnausbesserungswerk im Osten reicht, eine chaotische Stadtlandschaft aus Produktionsstätten, Kraftwerken, Gaskesseln, Großtankanlagen, Kasernen, Truppenübungsplätzen, Stadtautobahnen sowie alten und neuen Wohnsiedlungen, von denen es scheint, dass sie sich kaum noch gegen die sie bedrohenden Industrie- und Verkehrsanlagen zur Wehr setzen können.
In diesem Bereich wohnen bzw. arbeiten über zweihunderttausend Menschen – die Milbertsho-
fener Bevölkerung hat mit fünfundvierzig Prozent den absolut höchsten Anteil an Arbeitern in München, neunzehn Prozent sind Ausländer. Und hier kann man eigentlich nur „wohnen“ und arbeiten. Hier gibt es kein Gymnasium, kein Kino, kein Theater, zuwenig Kindergärten, Spielplätze und Freizeitmöglichkeiten. Die Versorgung mit Ärzten, Zahn- und Fachärzten ist katastrophal.
Unsere Transparente sind mehrsprachig wie die Teilnehmer: deutsch, italienisch, griechisch, türkisch. Als wir losgehen, sind die Kinder vorne: „Wir wollen spielen“… auf Spielplätzen zum Austoben, nicht in stickigen Hinterhöfen vollgestellt mit Mülltonnen, nicht auf Straßen verstopft durch lärmende LKW’s …
Wir erreichen ein Wohnheim an der Milbertshofener Straße mit meist ausländischen BMW-Ar-
beitern, Ein Bewohner hatte uns erzählt: „Ich zum Beispiel hocke nach Arbeitsschluss regelmäßig in der Kneipe herum, spiele mit Kollegen Karten und zische ein Bier nach dem anderen, Schon während der Arbeit habe ich meine fünf Halbe getrunken.
Ins Wohnheim gehe ich so spät wie möglich – und dann auch nur zum Schlafen. Manchmal viel-
leicht noch zum Fernsehen. Andere Kollegen verbringen ganze Wochenenden vor dem Flimmerka-
sten, Was soll man schon machen? Kreuzworträtsel lösen? Von Wohnen kann jedenfalls nicht die Rede sein. Es ist eine Frechheit, diese Gefängnisse als „Wohnheime“ zu bezeichnen. Zu viert sind wir auf engstem Raum zusammengepfercht. Es gibt keine Gemeinschaftsräume und keine Kantine, wo man sich unterhalten könnte. Im Fernsehraum muss man still sein. Oft arbeiten die Zimmerge-
nossen in verschiedenen Schichten, so dass man sich zwar kaum kennt, aber dauernd gegenseitig stört. Am Eingang sitzt ein Polizist und passt auf, dass uns niemand besucht.
Was ist das für eine Wohnung, in der man nicht einmal seine Freunde empfangen darf, geschweige denn sein Mädchen, oder gar seine eigene Frau?“
Per Megaphon erklärt jemand die Forderungen der Demonstranten: „Quandt und Kuehnheim sol-
len mal ins Wohnheim – Kuehnheim und Quandt sollen mal ans Band.“ Die Heimbewohner an den Fenstern freuen sich über die Solidarität, einige schließen sich der Demonstration an. Begleitet von „Überwachungspersonen“ in Uniform und in Zivil (ausgerüstet mit walky-talkies) ziehen wir weiter zum Wohnheim für „männliche Auszubildende der Deutschen Bundespost“ am Milbertshofener Platz. Das Heim ist völlig verriegelt, die Türen verschlossen, die Roll-Läden heruntergelassen, nur aus den Dachfenstern winken einige Jugendliche. Um sie zu erreichen, bauen wir Flieger aus unse-
ren Flugblättern. Bei der Schlusskundgebung berichtet einer der Lehrlinge:
„Kurz bevor die Demonstration an unserem Lehrlingsheim vorbeizog, erließ unser Heimleiter Haug ein Ausgehverbot; wir mussten die Roll-Läden herunterlassen und durften die Demonstra-
tion nicht einmal aus der Haustüre heraus anschauen.“
Besonders große Zustimmung findet unsere Forderung bei der Kundgebung vor BMW in der Riesenfeldstraße: „Lastwagen und Lackgestank – raus aus der Riesenfeldstraße.“ Diese Straße gegenüber dem BMW-Werk ist lückenlos mit Wohnhäusern bebaut. Aber ausgerechnet hier werden der Großteil der produzierten Autos auf großen LKW’s abtransportiert.
Heute am Feiertag herrscht natürlich Ruhe und man riecht nichts, doch wenn gearbeitet wird, ziehen von hier die Lackgifte über den ganzen Osten von Milbertshofen. „Nur ein Prozent der Abgase geht in die Atmosphäre“, erklärte man uns auf einer Betriebsbesichtigung bei BMW – übrigens eine sehr empfehlenswerte Sache: Besichtigungen (unverbindlich) sind möglich (sie beginnen im BMW-Museum am Petuelring 130) Montag mit Freitag: Für Gruppen 9 Uhr und 13 Uhr 30, für Einzelgäste 13 Uhr 30. Für Gruppen über fünf Personen rechtzeitige schriftliche Anmeldung an BMW-AG, 8 München 40, Postfach. Das Ganze ist kostenlos! Man erfährt dabei einiges zur „unternehmerischen Leistung“ der BMW – in einer Multi-Media-Show wird man durch die Hallen geführt, kann die konkreten Arbeitsbedingungen studieren und vielleicht sogar hin und wieder ein Gespräch mit den Arbeitern führen, die gegenwärtig pro Tag sechshundert Autos pro-
duzieren.
Was man nicht erfährt, haben wir aus Statistiken, Geschäftsberichten und Veröffentlichungen der Presse errechnet: So erwirtschafteten die achtundzwanzigtausend Beschäftigten der BMW im Jahr unserer Demonstration (1973) einen Umsatz von 2,6 Milliarden DM. Pro Monat fließen im Durch-
schnitt 2.000 DM den Beschäftigten zu (an sich eine blöde Zahl, da darin die Gehälter von Top-Manager bis zum Hilfsarbeiter verarbeitet sind), während Herr Quandt und seine Gruppe, Großak-
tionär (heute über fünfundsechzig Prozent der Aktien) allein pro Monat vier Millionen DM Gewinn auf ihrem Konto verbuchen konnten.
Doch BMW ist nur eine der vielen Produktionsstätten im Münchner Norden, in denen tagtäglich die Arbeiter durch ihre Arbeit die Summen auf den Konten der Aktionäre steigen lassen. Hier werden Kunststoffverarbeitungsmaschinen, Müllverbrennungs- und Gefriertrocknungsanlagen, Lokomotiven aller Systeme, Panzer (bei Kraus-Maffei), LKW’s und Omnibusse (bei MAN), Halbleiter (bei Siemens), LKW-Ladekräne, Rolltreppen und Müllbehälter. (bei Rathgeber) , chemische Produkte (bei CWM-Bärlocher), Bremsen etc. (bei Süd- und Knorr-Bremse), Textilien (bei Ralph) und vieles andere mehr produziert.
Kaum errechenbare Summen kassiert der Staat aus der hier geleisteten Arbeit. Allein BMW zahlte laut Geschäftsbericht 1973 155,4 Millionen DM an den Fiskus und dieser wiederum investiert das Geld in Projekte. die mit Sicherheit nicht der Befriedigung von Bedürfnissen der hier wohnenden und arbeitenden Bevölkerung dienen: in Kasernen, Schießplätzen, Munitionslager, Heizkraftwer-
ke, Autobahnen, Klärwerke und Müllverbrennungsanlagen.
„Münchner Merkur“ im Januar dieses Jahres:
„Misshandelter Münchner Norden
Gesucht wird ein neuer Typ von Bürger: ein weitgehend abgestumpfter Mensch, am besten ohne Ohren und Nase und weitgehend blind. Und den Mund soll er auch halten können. Ein solcher Mensch zweiter Klasse wäre der Idealbürger für den Norden der Region München, wo sich vor allem die Öffentliche Hand geradezu überbietet, die Landschaft mit den unangenehmsten Ein-
richtungen voll zupflastern und der Bevölkerung eine Watschn nach der anderen herunterzuhau-
en.“
Einsehen kann der Autor des Artikels allerdings nicht, warum das immer so weiter geht, unter dem Motto:
„Weil es im Norden ohnehin schon stinkt und kracht und greislich ausschaut, lädt man dort auch gleich alle weiteren missliebigen Einrichtungen unserer Gesellschaft wie auf einem Hinterhof ab,“ will die Stadt die Industriezone entlang des Mittleren Rings ausweitern, forciert der Freistaat Bayern die Einrichtung eines Großflughafens nördlich des Stadtgebietes und will der Bund gar einen der gigantischsten Rangierbahnhöfe des Kontinents zwischen Allach und Milbertshofen errichten.
Ein Bewohner des Nordens meint dazu in einem Leserbrief an den Münchner Stadtanzeiger:
„Womit haben wir Nordler so viel Glück auf einmal verdient? Hängt es damit zusammen, dass nördlich von Bogenhausen und dem Mittleren Ring kaum einer der Verantwortlichen mit seinen Familien wohnen muss? … Es könnte aber tatsächlich einmal der Punkt erreicht sein, an dem die überwiegend im Süden und Westen wohnenden „Großkopferten“ erkennen müssen, dass sich die oft als geistig und finanziell minderbemittelt, gesellschaftlich minderwertig angesehenen Bewoh-
ner der Nordregion … nicht mehr länger nur als anteilnahmsloses und geduldiges Stimm- und Arbeitsvieh behandeln lassen wollen. Sie werden in Zukunft an ihre Umwelt und an ihre äußeren Lebensbedingungen dieselben Anforderungen stellen, wie sie den Mitbürgern der anderen Regio-
nen in und um München längst als selbstverständlich zugestanden sind.“
Doch momentan sind die Bürger noch zum größten Teil damit beschäftigt, weitere Verschlechte-
rungen zu verhindern. So setzt sich seit über drei Jahren der „Koordinationskreis“ Rangierbahn-
hof-Nord, München 50, Steinheide 13 gegen die Pläne der Deutschen Bundesbahn zur Wehr. Ausgegangen war diese Initiative von der Bürgervereinigung Allach-Untermenzing, die die Ver-
nichtung eines der letzten Münchner Mischwälder (Allacher Forst) befürchtete – einmal durch den Bau des Rangierbahnhofes, zum andern durch die geplante Verbindung zwischen der Autobahn Stuttgart und Nürnberg. Inzwischen hat dieses Gremium aus den verschiedensten Bürgergruppen eine Menge Verbündete erhalten. Die Stadt München ließ gar ein Gutachten anfertigen, dessen Ergebnis den Standort München Nord eindeutig als den schlechtesten bezeichnet.
Lang und hartnäckig ist auch der Kampf der Bewohner des Erdinger Mooses (nördlich der Stadt-
grenze) gegen den Bau des Flughafens München II. Gegenwärtig muss sich die Regierung mit einundzwanzigtausend schriftlichen Einsprüchen der Bürger „auseinandersetzen“. Wer heute durch die Gemeinden im Moos zwischen München und Freising fährt, wird immer wieder mit den Parolen der Flughafengegner konfrontiert, und diese gehen mit der „Obrigkeit“ nicht gerade zim-
perlich um: So stand bis zum Sommer vergangenen Jahres in der Mitte der Gemeinde Pulling ein Maibaum, an den die Pullinger schwarze Särge gehängt hatten mit den Aufschriften: Goppel, Merk, Huber, Streibl etc.
Und am 9./10. November 1974 konnte man in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift „Flughafengegner stürmen Feuerwehrhaus – Proteste der Pullinger werden handfest – Ausgelegte Planungsunterlagen zerrissen“ lesen:
„Im Zusammenhang mit der Auslegung der Planunterlagen ist es nach Angaben der Regierung von Oberbayern am Donnerstagabend in Pulling bei Freising zu tumultartigen Szenen gekommen. Ge-
gen 20 Uhr habe eine größere Anzahl von Pullinger Bürgern den Schulungsraum im Feuerwehr-
haus „gestürmt“, wo die Planunterlagen zur Einsichtnahme ausliegen. Binnen weniger Minuten sei der Raum völlig überfüllt gewesen. Freisings Landrat Schrittenloher vermutet hinter diesem Vor-
fall eine „gezielte Aktion“, um zu demonstrieren, dass der Raum zur Einsichtnahme in die Plan-
unterlagen zu klein ist und das Verfahren somit nicht rechtmäßig durchgeführt werden könne.
Wie ein Beamter des Landratsamtes Freising nach Abzug der Pullinger Bürger feststellte, waren aus mehreren der insgesamt achtundzwanzig Aktenordner Unterlagen entfernt und mehrere Pläne zerrissen worden. Auch fehlten in den PIanunterlagen plötzlich vier Gutachten. Wegen des großen Gedränges in dem Raum sei nicht festzustellen gewesen, wer die Unterlagen entwendet und be-
schädigt hat. Die Regierung sah sich genötigt, sämtliche in Pulling ausgelegten Planunterlagen zu erneuern. Um die Emotionen nicht noch weiter anzuheizen, werden die Behörden auf eine Anzeige gegen Unbekannt vermutlich verzichten.“
Und waren am 19. September 1974 über vierhundert Bürger mit Sprechchören und schwarzen Fahnen vor das Großtanklager der Esso und anderer Mineralölkonzerne an der Detmolder Straße gezogen, um Maßnahmen gegen die Geruchs- und Lärmbelästigung (dreihundert bis vierhundert Tanklastzüge pro Tag) zu fordern, so folgten ihnen gut ein Jahr später die Bewohner des Olympia-
dorfes und der -pressestadt, um den seit Marckolsheim international bekannt gewordenen Chemi-schen Werken München in der Riesstraße den Kampf anzusagen. Unter der Parole „Blei in den Knochen – bringt den Bürger zum Kochen“ trafen sie sich vor dem Münchner Rathaus und über-reichten dem Oberbürgermeister neben einer Unterschriftenliste mit dreitausend Namen gegen die Ausweitung der Produktion in Moosach ein riesiges Bleiherz.
Dennoch: ein Überblick über den Münchner Norden wäre unvollständig, ja falsch, würde man in dieser „Wüste aus Stahl und Beton“ (Ton Steine Scherben) nicht die vielen Oasen sehen, die ein Leben hier durchaus möglich machen können. Wir – zwei Mitarbeiter an diesem Buch – haben in letzter Zeit den Norden entdeckt und fahren/gehen mittlerweile schon lieber
# ins Milbertshofener Zentrum als in eine Kneipe nach Schwabing,
# zum Baden an den Feldmochinger See als etwa ins Strandbad von Starnberg,
# in einen Biergarten an der Feldmochinger Straße als an den Chinesischen Turm in Schwabing,
# zum Essen beim „Eichelsberger“ in Moosach als …
Daß dem so ist, hat viele Gründe … einige, längst nicht alle, seien hier in Kürze erwähnt.
Das Milbertshofener Stadtteilzentrum stellt einen ersten Ansatz (von Leuten, die größtenteils aus der ehemaligen Gruppe „Arbeitersache“ hervorgegangen sind) von Selbstorganisation dar, zu dem Zweck – „in München – vorwiegend in der Region Milbertshofen – Jugendlichen und Erwachse-
nen durch Förderung von Selbstorganisation Hilfestellung bei der Lösung ihrer sozialen Probleme zu leisten.
Hierbei sollen Schranken, die aufgrund von Herkunft und Nationalität unter den Bewohnern bestehen, abgebaut werden.
Diesem Zweck soll gedient werden durch:
a) Betreiben des „Mathias Kneißl Kellers“. Dieser soll in Clubform geführt werden.
b) kulturelle und der Kommunikation dienende Veranstaltungen, wie Musikdarbietungen, Film- und Theatervorstellungen.
c) Beratung der Vereinsmitglieder in Fragen, die ihre rechtliche Situation am Arbeitsplatz betref-
fen, und im Wohnbereich.
d) Einrichtung einer Werkstatt, in der Vereinsmitglieder die technischen Voraussetzungen gegeben werden, kleinere Reparaturen selbst auszuführen oder sich von anderen Mitgliedern des Vereins zeigen zu lassen, wie man so was macht.
Der Verein stellt seinen Mitgliedern zur Durchführung des oben bezeichneten Zwecks Räume in München 40, Nietzschestr. 7a und b zur Verfügung und übernimmt in diesem Bereich die sachge-
rechte Anleitung und Betreuung.“
(aus der Satzung des Vereins „Milbertshofener Zentrum“). -
Und wenn man heute an den Werktagen in die Nietzschestr. kommt, so hört man häufig im Keller die Betonmischmaschine laufen: die Leute vom Zentrum bauen gegenwärtig ihre Clubräume aus (wer helfen will, sollte mal hingehen) – spätestens im Herbst will man fertig sein. Schon heute ko-
chen die „Milbertshofener“ sich und ein paar Gästen jeden Abend ein Essen, bekommt man preis-
werte Getränke, finden Theater-, Film- und Musikveranstaltungen statt (im noch provisorischen Clubraum), gibt’s hier eine Elektrowerkstatt, eine Druckerei, Motorrad- und Fahrradwerkstätten, treffen sich hier einige Gruppen:
# eine Gruppe, die die Geschichte der Rätedemokratie und des Anarchismus aufarbeitet (sonntags 19 Uhr),
# das Kollektiv Rote Hilfe:
„Wir – das Kollektiv Rote Hilfe München – haben bisher Gefangene betreut, haben ihnen geschrie-
ben, haben sie besucht. Natürlich ist das nur eine Seite unserer Arbeit gewesen. Wir haben auch versucht, die Öffentlichkeit über die Zustände in den Gefängnissen aufzuklären, wir haben die Aus-
beutung der Gefangenen angeprangert und den mittelalterlichen Strafvollzug angegriffen. Ob Mannheim, Straubing, Kaisheim oder Aichach – es gibt keine Unterschiede.
Und wir haben – und das unterscheidet uns von allen ähnlichen Gruppen und Organisationen – dabei nie die Hintergründe und Zusammenhänge vergessen. Das Gefängnis, der Knast, ist keine zufällige Institution und Kriminalität weder eine Erbkrankheit noch persönliches Pech oder mora-
lisches Versagen. Kriminalität ist das Produkt einer Gesellschaftsordnung, die das Eigentum zum Wertmesser zur Beurteilung eines Menschen hochgejubelt hat (‚Hast du was, dann bist du was.’), die die Menschen in Besitzende und Nichtbesitzende einteilt, einer Gesellschaftsordnung, in der ein Prozent der Bevölkerung neunzig Prozent des gesamten Reichtums an Geld und Sachwerten besitzen.
Zu unserer Arbeit gehört es auch, die Diffamierung aller Unterdrückten und Eingesperrten in Er-
ziehungsheimen, Gefängnissen und Irrenanstalten zu bekämpfen und das heißt besonders, die Angehörigen zu unterstützen.
Ihnen in Rat und Tat zur Seite zu stehen, Rechtsbeistand zu leisten, gemeinsame Besuche zu orga-
nisieren, sie im Kampf gegen die Bürokratie zu beraten und ihre Vereinsamung und Vereinzelung in der Nachbarschaft und im Betrieb aufzuheben.
Wir haben deshalb daran gedacht, im Stadtteilzentrum Milbertshofen Beratungsstunden einzu-
richten, für Mietprobleme, für Arbeits(losen)probleme, für Schulprobleme, für Knastprobleme.
Wir – das Kollektiv Rote Hilfe München – sind eine Vereinigung unabhängiger Linker, die keiner Partei oder Organisation angehören. Wir halten nichts von Parteien und Organisationen; die haben bisher immer nur an sich gedacht, an ihre Funktionäre und Bonzen. Wir brauchen keine Funktio-
näre und Bonzen, wir organisieren uns selbst, wir packen unsere Probleme selber an, wir übertra-
gen keinem die Verantwortung für uns, wir wollen selber über uns bestimmen und wir wollen alle zusammen eine neue, bessere Gesellschaftsordnung schaffen, ohne Ausbeutung und Unterdrük-
kung, ohne Bonzen und Funktionäre.
Treff jeden Donnerstag Nietzschestr. 7b, Zimmer 3, 20 Uhr.“
Der Schülerhort:
„Tagsüber benutzt der Schülerhort die Räume. Es ist eine Gruppe von Eltern, die vor 1½ Jahren ihre Kinder einschulten, und die keinen Platz im städtischen Hort bekommen. Da trotzdem beide Eltern arbeiten müssen, haben wir damals beschlossen, keine Schlüsselkinder aus unseren Kindern zu machen, sondern selbst einen Hort zu organisieren. Wir versuchen die Arbeit im Hort an den Interessen der beteiligten Eltern zu orientieren. Unsere Erzieher arbeiten nicht, wie sie es sich vorstellen, sondern wie es an den Elternabenden besprochen wird. Jeden Mittag bekommen die Kinder eine warme Mahlzeit und nachmittags eine Brotzeit. Die Hausaufgaben machen die Kinder in der Gruppe zu viert.“
Eine von den (Mit-)Initiatorinnen des „Zentrums“ gegründete Frauengruppe hat gegenwärtig ihre Arbeit zugunsten einer Mitarbeit an der Zentrumsarbeit selbst zurückgestellt. Die Frauen planen allerdings in absehbarer Zeit ihre Gruppe neu zu konstituieren.
Soweit einiges zu den Aktivitäten in Milbertshofen.
Was gibt es sonst noch im Münchner Norden?
Da ist zum Beispiel der Feldmochinger See – wie auch der Lerchenauer- und der Fasaneriesee -, ein Produkt ehemaliger Kiesbaggereien, die Ufer wurden in den letzten Jahren abgeflacht und begrünt. Sie sind von allen Seiten her zugänglich – Schilder mit „Privat – Betreten verboten“ gibt es hier nicht. Das Wasser ist meist klar, lediglich gegen Ende des Sommers trübt sich der Lerche-nauer See aufgrund der hohen Besucherzahl ein wenig ein (er liegt unmittelbar an der Wohnsied-lung Lerchenau}.
…und die „Nordler“ haben ihre Seen erobert. Hier treffen sich – meist in größeren Gruppen – Deutsche wie Ausländer zum Baden und Grillen. All die bürgerliche Selbstdarstellung wie sie in den Restaurants und an den Ufern der Seen im Süden zu finden ist, fehlt hier. Man verpflegt sich selbst oder holt sich was an den kleinen Kiosken, die kaltes Flaschenbier, Wurst- und Fischsem-
meln zu erträglichen Preisen verkaufen.
Den Plänen der Stadt, dieses Gebiet unter dem Namen „Drei-Seenplatte“ in eine große, parkähnli-
che Erholungslandschaft umzuwandeln, stehen die Bewohner ablehnend gegenüber. Ein Feldmo-
chinger: „Die Pläne zum Ausbau „ sind ein Irrsinn. Bei der Vorstellung einer künstlichen Erho-
lungslandschaft, die Tausende von Autos in die Gegend lockt, kommt einem das kalte Grausen.“
Und die Feldmochinger, Moosacher, Allacher und Langwieder tun recht daran, sich gegen solche Pläne zu wehren, macht doch gerade die Struktur dieser Stadtteile noch Leben möglich:
# So wird zum Beispiel sechsundfünfzig Prozent der Fläche Feldmochings landwirtschaftlich ge-
nutzt; die Traktoren der Bauern gehören zum Straßenbild.
# So gibt es in Moosach noch „sechsundzwanzig Wohngebäude von landwirtschaftlichen Betrie-
ben“ sowie eine Wohnsiedlung an der Dachauer Straße, die so genannte Borstei, entstanden zwischen 1924 und 1929. Die siebenundsiebzig Häuser mit je zehn Wohneinheiten, völlig ab-
getrennt vom Durchgangsverkehr, haben ihre eigene Versorgung mit Läden, Ärzten und Ge-
meinschaftseinrichtungen.
# So wohnen in Langwied ganze drei Personen auf einem Hektar, dagegen in Haidhausen zwei-
hundertdreiunddreißig Personen auf einem Hektar.
# So sind viele der zahlreichen Wirtshäuser noch nicht dem vereinheitlichenden Renovierungstrip, denn „dahockadidioaweidahocka“ (Spruch über dem Stammtisch im „Scharfen Eck“ an der Feld-
mochinger Straße 386).
Ein Reporter der Hamburger „Zeit“ sieht das so:
„Feldmoching ist ein Vordorf Münchens, wo man mit jener vegetativen Gelassenheit seine könig-
lich-bayrische Ruhe pflegt, die man in der Landeshauptstadt pseudo-weltmännischer Betriebsam-
keit geopfert hat. Feldmoching hat jene Patina angesetzt, deren man sich auch am Marienplatz noch immer gern rühmt: dort ein altes Wirtshaus; hier ein Kramerladen, in der dritten Generation betrieben; drüben ein Winkel voller Erinnerungen; da eine Ecke versteinerte Geschichte.“
Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 122 ff.