Materialien 1973
Kirche, Staat und Demokraten
Vortragsreihe des OV München
Der Ortsverband München veranstaltete in Zusammenarbeit mit der GEW in den Monaten Juni und Juli eine Vortragsreihe mit dem Thema „Kirche. Staat und Demokraten“, die sich mit sechs Einzelvorträgen über drei Wochen erstreckte.
Die Vortragsreihe wurde eröffnet mit einem Referat von Dr. Karlheinz Deschner, bekannt durch seine kritischen Bücher „Abermals krähte der Hahn“, „Das Jahrhundert der Barbarei“, „Mit Gott und den Faschisten“ u.a., zum Thema „Christentum und Sexualität“. Das Referat bot einen kritischen ideologiegeschichtlichen Abriss der einschlägigen kirchlichen Lehren und einen Vergleich derselben mit den konkreten Verhaltensweisen von Kirche und Klerus im Laufe der Geschichte. Differenziert wurde nachgewiesen, wie die Diffamierung des Geschlechtlichen (Sexualität = Sünde) zu übermäßigen Schuldgefühlen und damit zur Liebesunfähigkeit führte und führt. Aggressivität ist dann die notwendige Folge solcher psychischen Prozesse.
Dr. Knut Walf, Dozent für Kirchenrecht an der Universität München und exponiertes Mitglied der Sozialdemokratischen Wählerinitiative, referierte über „Der lautlose Umbruch – Katholische Kirche und Gesellschaft in der BRD“. Er beleuchtete aus seiner Sicht die Entwicklung des Katholizismus in den letzten Jahren. Einerseits sieht er eine Tendenz zur wachsenden Mündigkeit der Laien, die aber in den offiziellen Verlautbarungen der Kirche nicht zum Ausdruck kommen. Auch die sog. progressive Theologie führt innerhalb der Kirche ein Schattendasein. Die Einflussnahmen der Kirche auf die Öffentlichkeit sind differenzierter und weniger provokativ geworden. Das ist das eigentlich Neue am Neoklerikalismus, denn die Zielsetzungen der Amtskirche sind nach wie vor klerikal im schlechtesten Sinne des Wortes.
Rechtsanwalt Erwin Fischer, Beiratsmitglied der Humanistischen Union, trat für eine klare und entschiedene Trennung von Staat und Kirche ein, die er trotz der im Grundgesetz vorgesehenen Ausnahmen letztlich für ein Gebot unserer Verfassung hält. Kritisch setzte er sich mit den Passagen der letzten Regierungserklärung von Willy Brandt zu dieser Frage auseinander. Das Thema seines Vortrags lautete „Sozialliberale Koalition und Kirche“.
Der bekannte Schriftsteller Otto F. Gmelin bot mit seinem Referat „Der Kulturkampf der Kirchen gegen die Frau“ eine wertvolle Ergänzung der Ausführungen von Dr. Karlheinz Deschner. Er zeigte, wie die kirchliche Ideologie seit Jahrhunderten die Unterdrückung der Frau begründet und verfestigt hat.
Prof. Dr. Ulrich Sonnemann zeigte in seinem Vortrag „Theologische Kopfbräuche in Deutschland und wie man sie los wird“, wie die autoritären theologischen Denkstrukturen in das säkularisierte politische Denken übernommen wurden und nach wie vor als antidemokratische Elemente einer demokratischen Bewusstseinsbildung im Wege stehen.
Prof. Dr. Hubertus Halbfas, Professor für Religionspädagogik in Reutlingen, schloss die Vortragsreihe mit seinen Ausführungen „Über Aggressivität und Friedensunfähigkeit im Christentum“. Er ging aus von den erschreckenden Ergebnissen jüngerer sozialempirischer Untersuchungen. die zeigen, dass Christen eher zu aggressivem Verhalten neigen als Nichtchristen. Unter den Christen sind es wiederum die regelmäßigen Kirchgänger, die stärker aggressiv sind als die Nichtkirchgänger, und unter den Kirchgängern wiederum sind die Katholiken eher geneigt, aggressiv zu reagieren als protestantische Gläubige. Die sozial-empirischen Untersuchungen, auf die sich Prof. Halbfas bezog, erarbeiteten diesen Befund vor allem an Auseinandersetzungen um Probleme wie die Todesstrafe, den Kriegsdienst oder die atomare Abschreckung Auch eine diesbezügliche Untersuchung der europäischen Geschichte zeigt, dass das christliche Abendland keineswegs friedfertiger war als andere Kulturkreise. Im Gegenteil, die europäische Geschichte ist eher mehr als die Geschichte anderer Kulturkreise von Kriegen und gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägt. Dass das Christentum entgegen seinem eigenen Anspruch nicht in der Lage war, die Friedfertigkeit der menschlichen Gesellschaft zu fördern, ist nach Ansicht von Prof. Halbfas zum guten Teil bereits in den Anfängen christlicher Ideologie begründet. Er belegte dies am Vergleich des alttestamentlichen jüdischen Friedensbegriffs mit dem neutestamentlichen paulinischen. Während das jüdische „Schalom“ einen sozialen Frieden meint, ist der paulinische Friedensbegriff als der Friede zwischen dem individuellen Menschen und seinem Gott zu verstehen. Ein solcher egozentrischer Friedensbegriff ist nur sehr schwer in soziale Verantwortung zu übersetzen.
Mitteilungen der Humanistische Union 63 vom 26. Juli 1973, 2 f.