Materialien 1973

Stummfilm-Porno unterbelichtet

Leute, die an der Ecke Prinzregenten-Lerchenfeldstraße auf und abgehen, warten nicht unbedingt auf die Linie 20. Es hat sich auch unter nicht Schwulen schon herumgesprochen: rings um die dortige Anstalt wird ein öffentliches Bedürfnis abgewickelt. ‚Klappe’ heißt das im Jargon. Wer’s noch nicht weiß, dem sei es erklärt: Hier treffen sich im Schlummerlicht die Schwulen. Sie schlendern die Parkwege entlang. Wenn sie Glück haben, sehen sie in der Finsternis den Umriss eines anderen, der ihnen gefällt. Signale – und dann kann dreierlei passieren: Entweder läuft gar nix, weil der andere nicht will, oder es läuft ganz schnell und stumm was hinterm Busch. Hose hoch, im besten Fall ein ‚Servus’, dann nichts wie weg. Oder drittens: Manche schaffens auch und reden miteinander und fahren vielleicht zusammen weg.

Was treibt sie eigentlich dorthin? Die meisten Schwulen leugnen, da jemals hinzugehen. Angeblich sei das nur der Bodensatz, aber soviel kann es gar nicht geben, denn meist ist’s rappelvoll. Die Untersuchungen von Martin Dannecker und Reimut Reiche (‚Der gewöhnliche Homosexuelle’, S.Fischer Verlag, 19.80 DM) zeigt dagegen, dass mindestens zwei Fünftel aller Schwulen ab und zu Partner auf der Klappe suchen.

Dazu zählen überdurchschnittlich viel Jugendliche. Wie das? Dort ist es nicht nötig, seine Anonymität aufzugeben. Als Schwuler sich unter Schwulen zu zeigen, erfordert mehr Selbstakzeptierung, als man glaubt.

Und – die Partnersuche ist dort denkbar einfach. Die Mühe mit Flirt, Kontakt und Gespräch fällt weg. Auf Schönheit und sexy Samtjeans kommts nicht an. Im Dunkeln sieht man eh nichts. Die Klappe macht es möglich: mit der Unterdrückung leben, ohne sie als Unterdrückung zu empfinden.

Trotzdem: muss dieses verklemmte Schweigen, muss der Stummfilmporno im Halbdunkeln sein?

Man müsste miteinander reden lernen. Auch. Denn beim Reden brauchts ja nicht zu bleiben. Und nicht nur dort am Englischen Garten, auch am Sendlinger Tor, an der Maximiliansbrücke und am Stachus-S-Bahnhof.

Lokale Betäubung

In München gibts eine Menge Wirtschaften und Restaurants und Diskotheken und Lokale und – DIE LOKALE. ‚Die’ Lokale erscheinen in den Stadtführern immer mit einem kalauernden Hinweissatz. ‚Hier ist man unter sich’, oder ‚Hier sind die Damen keine Damen und die Herren keine Männer’. Oder so ähnlich.

Lokale, in denen ‚man’ sich trifft, sich treffen muss, sind nicht das Wahre. Sondern Ergebnisse der Repression auf der einen und mangelnder Emanzipation auf der anderen Seite. Besser wäre natürlich: raus aus den ‚Klubs’ und rein in die allgemeinen Lokale — das Ende der schwulen Puffs, raus aus dem Ghettotingeltangel.

In der derzeitigen Situation haben diese Läden aber noch ihre Funktion. Sie sind ein (noch) notwendiges Übel. So richtig gut und ohne weiteres empfehlenswert ist keins.

Aber immerhin: Die Atmosphäre wird auch in der Subkultur langsam weniger beklemmend, das Publikum gemischter. Heteros und Frauen werden nicht mehr vor die Tür gesetzt, die Lokale, die bei diesem Trend nicht mitmachen, gehen schlecht oder pleite.

Jugendliche sind in den einschlägigen Schuppen relativ selten. Entweder sie trauen sich nicht (das wäre dann ein Fehler) — oder sie fühlen sich nicht darauf angewiesen und gehen in die normalen Kneipen. Wenns so wäre, wär es prima.

Sich mit sich selbst im stillen Kämmerlein herumzufrustrieren, das ist jedenfalls nichts. ‚Raus aus den Zimmern – rein in die Emanzipation!’ Die Subkultur ist wenigsten der halbe Weg. Bloß steckenbleiben sollte man dort nicht.

Um neben klugen Worten wenigstens noch einen Tip zu geben: an Lokalen finden wir vielleicht diese noch am ehesten zum Mal Reinschnuppern zu empfehlen: Pils 2000, Dultstraße (Macht schon am Nachmittag auf), Mandy’s, Baaderstraße, gegenüber Buttermelcherstraße (so ab 10/halb 11 Uhr) Cosy (im alten Blow Up am Elisabethplatz) weils gemischt und die ganze Woche durch bis 3 Uhr offen ist.

Rüdiger Becker/Hans Brandenberg

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Schwule organisieren sich: VSG (Verein für sexuelle Gleichberechtigung)

Schwule Selbstorganisation ist so neu nicht. Aber seit der Änderung des § 175 kommen Schwulengruppen immer mehr aus dem Untergrund heraus. Und sie verstehen sich zunehmend weniger als Zirkel von Leidensgenossen, sondern als politische Emanzipation. Denn: ‚Die Unterdrückung der Homosexualität ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Unterdrückung.’ (Motto des ‚Pfingsttreffens’ 1973 der bundesdeutschen Schwulengruppen). Das wissen ja auch Nicht-Schwule: Sexualität wird nicht angstfrei ausgelebt, sondern sublimiert, kanalisiert, tabuisiert. Diese verklemmte Einstellung der Gesellschaft trifft die Schwulen nur in besonderen Maße.

Warum aber dann spezielle Schwulengruppen? Da sind ja die Schwulen wieder unter sich, die Ghetto-Situation bleibt bestehen. Warum leisten Schwule Emanzipationsarbeit nicht in anderen fortschrittlichen Gruppen?

Wir meinen: Schwule Gruppen haben eine Funktion, die von anderen Organisationen, Gruppen und Parteien nicht erfüllt werden kann (oder will?). Es gibt halt einfach keine Gruppe in München, die so intensiv versucht, Sexualpolitik aufzuarbeiten wie der VSG. Als Vorhut und Teilgruppe der betroffenen Gesamtgesellschaft stellt die Arbeitsgruppe ‚Sexualität und Gesellschaft’ Zusammenhänge zwischen der individuellen Situation der einzelnen Mitglieder und den gesellschaftlichen Bedingungen für diese Situation her. Aber das ist nur eine von drei Untergruppen des VSG. Die zweite, die AG ‚Rat und Tat’ versucht sehr ernsthaft und engagiert, bei individuellen Problemen durch Information, Vermittlung von Fachleuten und praktische Assistenz zu helfen. Die dritte Gruppe, die ‚AG Freizeit’ will die Isolation des einzelnen überwinden helfen, intern und durch Stärkung des Selbstbewusstseins auch im Alltag.

Wichtige Funktionen für eine Schwulengruppe also, die freilich mit anderen Gruppen verstärkt zusammenarbeiten sollte. Etwa 65 Mitglieder aller Alters- und Berufsgruppen sind im VSG zusammengeschlossen. Sie treffen sich jeden Montag um 20 Uhr im ‚Alten Peter’ (Ecke Klenze-/Buttermelcherstraße). Neben Berichten aus den drei Arbeitsgruppen stehen Diskussionen über allgemein wichtige Probleme auf dem Programm. Zum Beispiel: ‚Sexualität im Beruf’. Das heißt bei Schwulen konkret: Soll man zum Betriebsfest die Alibifrau oder lieber den Freund mitnehmen? Was tun, wenn die Kollegen montags mit ihren Sex-Erlebnissen vom Wochenende prahlen? Der Austausch von Erfahrungen könnte bei manchen ein erster Schritt dazu sein, auch am Arbeitsplatz das Versteckspiel aufzugeben und selbstbewusst aufzutreten.

Kontaktadresse neu: VSG, 8 Mü 80, Postfach 801928.

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Schwule treffen sich: Kommunikationszentrum Teestube
‚Tee trinken und abwarten’ (Redensart andersrum)

Das ist wohl nix für Glitzerknaben, Modetucken und Herrenreiter. Die bringen ihre Silberstiefelchen schon gar nicht über den tristen Hinterhof des Anwesens Pestalozzistraße 20, wo sich im Rückgebäude seit Juni das Kommi-Zentrum ‚Teestube’ angesiedelt hat. Wie der Name schon sagt: Hier gibt’s Tee, aber auch Bier und Kekse. Nicht im kommerziellen Ausschank, sondern wegen der Steuer und so gegen kleine Spenden. Hier treffen sich Schwule, die sich freischwimmen wollen von den üblichen Subkultur-Ritualen. Hier kann man schon mal mit Leuten reden, ohne dass es Überwindung kostet und Verpflichtungen nach sich zieht. Hier kann man auch ‚Mensch, ärgere Dich nicht’ oder Schach spielen, ‚Micky Maus’, ‚him’ und Flugblätter von Schwulengruppen lesen. Im karg, aber gemütlich eingerichteten Raum, der dem Ex-a-Theater gehört und für Schwule nur samstags von 16 – 24 Uhr freigegeben ist, hat sich aber kein ‚Markt der einsamen Herzen’ etabliert. Denn die Cliquenwirtschaft überwiegt. Die schönen Knaben bleiben eh’ aus (Narzißten werden hier nicht bewundert) und die, die schöne Knaben suchen, dann halt auch. So sind es immer wieder dieselben, die rund um den Bullerofen an der Theke oder auf Matratzen sitzen und aus irgendeinem Solidaritätsgefühl immer wieder kommen. Aber wenn nicht bald was geschieht, bleiben die vielleicht auch eines Tages weg. Der Teestuben-Verein, der das ganze betreibt, macht sich zur Zeit Gedanken, was man tun könnte, um auch Aktionen in Gang zu setzen und die Konsumhaltung der Besucher abzubauen. Erstes Ergebnis: ein Fest am 30. November. Von Schwulen für Schwule, Nicht Schwule und Noch-Nicht-Schwule.


Blatt. Stadtzeitung für München 33 vom 15. Novmber 1974, 8 f.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Schwule/Lesben

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