Materialien 1973

Wir tragen den rosa Winkel

Die HAM ist auferstanden

Es gibt sie wieder, die Homosexuelle Aktion München. Vielleicht erinnert sich jemand an unser erstes öffentliches Auftreten im Juli 1973 in der Kaufingerstraße. Wir waren damals nach dem Praunheimfilm „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt“ zusammengekommen und schmissen den Infostand in der Kaufingerstraße mit großer Euphorie. Leider hatten die meisten damals Beteiligten zu große Erwartungen. Jeder wollte sich emanzipieren, aber die wenigsten kannten den Weg zur Befreiung.

  • Weil wir keinen Raum hatten,
  • weil die ganze Gruppe ziemlich ohne Konzept dastand,
  • weil die wenigsten verstanden hatten, warum und wie die Liebe zwischen Männern in unserer Gesellschaft unterdrückt und verachtet wird.

Deshalb waren aus sechzig Leuten im Juli sechs im November geworden. Innerhalb kürzester Zeit lebten die Leute wie der isoliert vor sich hin. Im März 1974 wurde die HAM beerdigt.

Damals machte sich ein letztes Aufgebot daran, einen Raum für ein schwules Kommunikationszentrum zu suchen. In diesem sollte man sich freimachen können von dem Scheißverhalten, dass uns in den Kneipen auf gedrängt wird, in die unsere Scheißgesellschaft ihre Schwulen zwingt. Dieses Zentrum, die Teestube, existiert nunmehr schon seit einem Jahr. Es hat den Anspruch, zwischenmenschliche Beziehungen zu ermöglichen, die mehr sind, als die zum größten Teil sexorientierten Kontakte, die Schwulen in unseren Kneipen, Parks und Toiletten knüpfen. Es sollte sozusagen eine Insel sein, inmitten einer uns verachtenden Öffentlichkeit und inmitten einer Subkultur, die uns nichts anderes als Sex bieten kann.

Aber es war mit einer solchen Konzeption schon von Anfang an unsicher, ob in der Teestube wirklich mehr gemacht werden kann, als krampfhaftes Bemühen um ein neues Verhalten. Leider ähnelt nun die Atmosphäre wirklich immer mehr der einer Stammkneipe!

Einige Leute in der Teestube haben nun begriffen, dass es zur Emanzipation der Schwulen und aller anderer Männer nicht ausreicht, guten Willen und eigene Räume zu haben. Dieselben Inseln haben wir in den Kneipen auch und den guten Willen ebenfalls. Aber auf solchen Inseln innerhalb feindlicher Umwelt und sextoller Subkultur können wir durch rumhocken nichts verändern – weder uns noch die Gesellschaft. Wenn wir unser Schwulsein verbergen müssen, dann können wir auch hier nur das tun, – was wir in den Kneipen taten: unser Schwulsein austoben!

Aber wo der Schwanz zuviel kriegt, reichts für den Rest des Menschen nicht mehr! Wir wollen in unserer Freizeit nicht nur an Sex denken dürfen, sondern auch an alles andere, was einen Menschen ausmacht!

Deshalb haben wir beschlossen, gegen unsere Verachtung und Unterdrückung zu kämpfen. Wir werden noch dieses Jahr Schwule Wochen veranstalten. Wir tragen den ROSA WINKEL. Wir werden uns gegen die Diskriminierung von Liebe zwischen Mann + Mann in unserer Bewusstseinsindustrie wehren. Wir werden gegen Polizeiaktionen auf Klos Geeignetes unternehmen.

Wir haben uns lange genug verkrochen

Aber es ist uns auch klar, dass die Schwulendiskriminierung in unserer Gesellschaft nicht vom Himmel gefallen ist, sondern ihre materiellen Ursachen auf dieser Erde hat. Wir Männer müssen uns klarmachen, dass wir uns nicht lieben dürfen (und dann auch nicht wollen), weil das Gesellschaftssystem der Ausbeutung und Unterdrückung uns Männer dazu zwingt, in der Familie und Öffentlichkeit die Unterdrücker der Frauen zu sein. Dieses System sozialisiert den Mann zu einem harten, gefühlskalten verstandesbetonten, eben männliche Wesen und raubt ihm dabei alle „weiblichen“ Züge seines Charakter! Wenn er dann so toll „männlich“ geworden ist, verachtet er alles, was diesem Ideal nicht entspricht: Frauen, Kinder, Schwule und sich selbst, weil er merkt, das er auch etwas für Männer übrig hat!

Ob wir Schwulen dann pervers sind, oder ob wir als arme Kranke bezeichnet werden, (wie das Kirchen, „verständige“ Eltern, verblödete Psychiater, K-Gruppen und die Rechtssprechung vieler „sozialistischer“ Staaten tun) ist egal. Auch Hitler sah uns als Kranke an, aber unsere Heilung hätte dem arischen Volk zuviel gekostet. So kamen wir ins KZ. Unsere Stellung war mit derjenigen der Juden die niederste im KZ, nur bekamen wir von der BRD keine Entschädigung, sondern wurden nach dem Nazi-Paragraphen 175 wieder verknackt! Als Erkennungszeichen trugen wir den ROSA WINKEL im KZ. Heute tragen wir ihn wieder, um zu zeigen, dass wir diese Gesellschaft als ein neues KZ empfinden nicht nur für Schwule, sondern für alle, die frei sein wollen.

Wir wollen nicht länger der Abschaum der Menschheit sein, weil wir das tun, wovon andere nur träumen! Lange Haare sind nicht die einzige feminine Eigenschaft, die ein Mann entwickeln kann. Die Unterdrückung der Homosexuellen und der Homosexualität in uns Männern ist das Werk eines Systems, das auf Unterdrückung beruht.

Schwulsein, Genosse, kann schön sein,
wenn wir uns gegen die Unterdrückung wehren!

Wir treffen uns jeden Freitag um 20 Uhr in der Teestube, Am Glockenbach 10 (Nähe Thomas). Jeder „Schwule“ und jeder „Normale“ ob Männlein oder Weiblein, der sich mit unseren Zielen solidarisiert, kann kommen. Wir brauchen Leute. Etwas „lockerere“ Kneipenabende sind in der Teestube an Mi-Sa-Sonntagen ab 20 Uhr. Bis dann, Euer Magnus Dalessandro.

P.S. Wer Fragen hat, zu Artikel oder sonst, soll mal schreiben ans Blatt, den obigen Namen drüber.


Blatt. Stadtzeitung für München 48 vom 20. Juni 1975, 9.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Schwule/Lesben

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