Materialien 1973
Bürgeraktion gegen den Schulnotstand
Münchner Eltern und Lehrer haben sich in dieser Bürgeraktion zusammengeschlossen, weil sie sich mit den untragbaren Zuständen an unseren Schulen nicht abfinden wollen.
Die Millionenstadt München ist von den herrschenden Mißständen besonders stark betroffen: Lehrermangel, Schulraumnot, Schichtunterricht, Unterrichtsausfall. Mehr als die Hälfte aller Volksschulklassen haben vierzig und mehr Schüler. In über 1.000 Klassen gibt es Schichtunter-
richt. Unterrichtsstunden fallen aus oder Wahlfächer werden nicht unterrichtet. Doppelführung oder Zusammenlegung von Klassen sind an der Tagesordnung.
Die Leidtragenden dieses Schulnotstandes sind Schüler, Eltern und Lehrer. Pädagogisch sinnvoller Unterricht ist in Mammutklassen von mehr als vierzig Schülern nicht möglich. Eine individuelle Förderung der Kinder ist damit ausgeschlossen. Vor allem Schüler aus Arbeiterfamilien, deren berufstätige Eltern keine Zeit haben, die Mängel des Unterrichts auszugleichen, bleiben auf der Strecke.
Eltern, Schüler, Lehrer und fortschrittliche Bildungspolitiker haben diese Mißstände seit langem erkannt und entscheidende Reformen gefordert. Nennenswerte Verbesserungen wurden auf die-
sem Weg in Bayern nicht erreicht. In vielen Städten der BRD konnten jedoch Bürgeraktionen, die z.B. mit der Forderung „Kleine Klassen“ an die Öffentlichkeit traten, Erfolge erzielen. Sowie das CSU-Kultusministerium in den 50er und 60er Jahren die Zwergschulen pries und förderte und die Entwicklung der Mittelpunktschulen verhinderte, so werden heute Reformvorhaben speziell auf dem Sektor des Schulhausbaus, die die integrierte Gesamtschule ermöglichen würden, eindeutig verhindert. Damit soll das dreigliedrige Schulsystem – Volksschule, Realschule, Gymnasium – erhalten werden. Aus der Erfahrung mit der Bewegung zum Rundfunkvolksbegehren wissen wir, dass auch in Bayern über den Weg der Bürgeraktionen positive Veränderungen erreicht werden können.
Eine durchgreifende Änderung auf dem Gebiet der Bildungspolitik ist nicht durch Spendenaufrufe von Elternbeiräten möglich, sondern nur, wenn wir gemeinsam eine drastische Erhöhung der fi-
nanziellen Mittel verlangen und durchsetzen.
Als erste Schritte fordern wir:
* Keine Klassen mit mehr als fünfundzwanzig Kindern. Verwirklichung dieser Forderung vorrangig in den ersten beiden Jahrgangsklassen.
* Wir verlangen die sofortige Aufhebung der Verordnungen, die eine Teilzeitbeschäftigung von Lehrkräften verhindern.
* Für verfassungswidrig halten wir es, befähigte Pädagogen nur wegen ihrer fortschrittlichen poli-
tischen Einstellung vom Schuldienst fernzuhalten. Alle Bestrebungen, angehende Lehrer verstärkt zur Bundeswehr einzuziehen sind abzulehnen. Der Lehrermangel zwingt im Gegenteil dazu, Leh-
rerstudenten vom Wehrdienst zu befreien.
* Stufenweiser Abbau des Schichtunterrichts. Dies kann durch rationellen Schulhausbau, vor allem durch kostensparende Schnellbauverfahren, sichergestellt werden.
* Einbeziehung der Elternbeiräte und Lehrerorganisationen in alle Fragen des Schul- und Bil-
dungswesens, wirksame Mitbestimmung der Elternbeiräte und der Schüler.
Kontaktadressen: Elmar Korinthenberg, Tel.: 1573823, Barbara Schreer, Tel.: 186359, Bürgeraktion gegen Schulnotstand.
Blatt. Alternative Stadtzeitung 3 vom 3. August 1973, 22.