Materialien 1973

Nachruf

Wie macht man es, wenn man ein kluges Kultusministerium ist? Man lässt eine auf Elterninitiative aufgebaute private Grundschule am ausgestreckten Arm verhungern, weil einem das Konzept nicht passt, nimmt die wesentlichen Punkte aus dem pädagogischen Konzept raus und lässt sie an einer staatlichen Grundschule ausprobieren. Effekt: man kann sich mit Federn schmücken, die nicht auf dem eigenen Mist gewachsen sind und behält das Heft in der Hand zum Zwecke repressiver Überwachung des Lehrpersonals, beziehungsweise Verschleierung der marxistischen und psychoanalytischen Grundidee. Die freie Schule in der Rheinstraße in Nordschwabing musste im August 1973 geschlossen werden. Das ist schon einige Monate her – aber die Problematik der Existenz einer solchen Schulform ist aktuell – wie viele Anfragen aus Deutschland an ihre Gründer beweisen.

Zu untersuchen wäre, wie weit „Kreativität“ (eine weit verbreitete Vokabel im Kultus-Jargon) dazu benutzt werden kann, angepasste Staatsbürger zu erzeugen, bzw. die selben kreativ in den Produktionsprozess zu integrieren. Wo liegen da die kleinen Unterschiede in der Methode? Den Leuten in der freien Grundschule kam es nämlich darauf an, Kreativität als eine geistige Qualität zu entwickeln und zu fördern, die geeignet ist, jedes Phänomen noch einmal und neu zu hinterfragen und vor allem auch auf seine sozialen Inhalte hin zu untersuchen. Soziale Inhalte nicht im Hinblick auf Lebens-, Kranken- und Rentenversicherung, sondern auf den kommunikativen Charakter des Zusammenlebens von Individualisten, die sich im Konkurrenzkampf zerreiben.

Also, die Schule gibt es nicht mehr, weil die Eltern, die einfach fast alles – außer der didaktischen Wissensvermittlung – selbst gemacht haben (es gab Arbeitskreise und Ausschüsse für jedes Sachgebiet, von der Pädagogik bis zum Finanzkram) keine größeren Schulbeiträge mehr aufbringen konnten und wollten, denn es sollte keine elitäre Schule für Intellektuellenkinder , sondern auch eine Schule für Kinder von minderbemittelten und sozial tiefer stehenden Eltern sein.

Dem Kultusministerium passte diese Schule nicht. Das Konzept, das von vielen Fachleuten als gut befunden worden war. wurde seiner Meinung nach nicht befolgt und konnte auch nicht befolgt werden – ohne das dazugehörende Geld. Und das hat das Ministerium nicht herausgerückt. Außerdem sah man es nicht gern, dass „Nichtfachleute“ auf „Fachgebieten“ tätig waren.

Die Zuschüsse, die genehmigt worden sind, weil die Schule anerkannt (aber nicht gefördert) worden war, wurden prinzipiell erst am Jahresende abgerechnet. Das hieß: die Schule musste Kredite aufnehmen, um die Rechnungen (mitsamt der Zinsbelastung durch den Zahlungsverschub) zu bezahlen.

Dann wurden die Schulden einfach zu hoch. Die Preise stiegen, wie jeder weiß, sowieso von Monat zu Monat. Die Kinder bekamen nämlich, da es eine Ganztagsschule war, ein Mittagessen, ebenso mussten die „überflüssigen“ Lehrer (es gab nur fünfundzwanzig Kinder in einer Klasse) genauso wie Lehrmittel teilweise selbst bezahlt werden. Die Bankschulden beliefen sich etwa auf DM 400.000,—. Dem gegenüber standen zwar Realwerte wie Gebäude, Inventar, Forderungen an den Staat, die man dagegen hätte aufrechnen können. Da die Vorsitzenden der Gesellschaft, die diese Schule gegründet hatte, aber mit ihrem persönlichen Vermögen hafteten, falls die Liquidationsschwierigkeiten einen „betrügerischen Konkurs“ ahnen lassen, war der Ofen eben eines Tages aus.

Die Kinder, nach einem Konzept erzogen und belehrt, das in einem anderen Rhythmus als dem der Staatsschulen vorging, stehen jetzt ganz beschissen da. Sie sind laut Prüfung objektiver Staatsschullehrer, in ihrer intellektuellen Entwicklung ihren Altersgenossen überlegen, ihrem Wissenstand nach aber, also was die sogenannten Kulturtechniken wie lesen, schreiben, rechnen angeht, unterlegen. Sie sind unheimlich gut und überzeugend im Mitreden und im Verteidigen ihrer Belange, aber bei der Frage: ein Hausbesitzer hat zehn Wohnungen, für jede Wohnung bekommt er DM 480,-, der Hausmeister wohnt umsonst, wie viel verdient der Hausbesitzer? – müssen einige passen, weil ihnen unter anderem wurscht ist, wie viel der Hausbesitzer verdient. Das ist einfach nicht ihre Problematik.

Indessen wird dem Konzept auch jetzt noch der Vorwurf gemacht, dass Solidarität und soziales Verhalten auf dem Papier standen, die Kinder aber ein solches Verhalten selten an den Tag legen. In den staatlichen Schulen wird soziales Verhalten eingepaukt und erzwungen. Die Brutalitäten werden auf dem Schulweg oder anderswo ausgetragen. Das Konzept der freien Grundschule sah vor, soziales Verhalten über die sinnliche Erfahrung und die bewusste Verarbeitung der eigenen Entscheidung zu überlassen, also in zwischenmenschlichen Bereichen keine Mahnungen zu erteilen, sondern Erfahrungen machen zu lassen. Dieses Konzept müsste im Laufe des ganzen Erziehungsprozesses, nämlich bis zum Erwachsenenalter – und darüber hinaus! – durchgehalten werden. Lehrer, Eltern und Mitmenschen wären daran gleichermaßen beteiligt.

Jetzt müssen also diese Kinder in ein Schulsystem integriert werden, dessen Inhalte und Ziele ihnen böhmische Dörfer sind. Arme Kinder, arme Eltern. Das Kultusministerium und die schadenfrohen Staatsschulen lachen sich ins Fäustchen: Extrawürste gehen eben ins Auge!

Aber eins ist sicher, die Kinder hatten ein paar gute Jahre, sie hatten positive Lernsituationen, positive Erfahrungen mit Pädagogen, sie sind deshalb in der Mehrzahl vielleicht in ihrer Persönlichkeitsentwicklung so stabilisiert, daß sie jetzt frustrierenden und diskriminierenden Schulsituationen eher gewachsen sein werden als Sechsjährige, deren Selbstwertgefühl von Anfang an nur von Leistung und Wohlverhalten bestimmt worden ist.

Inge Heinrichs


Blatt. Stadtzeitung für München 17 vom 22. Februar 1974, 6.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: SchülerInnen

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