Materialien 1973

Gequälte proben großen Aufstand

Münchner wollen überleben

Die Anwohner der Landshuter Allee am Münchner autobahnähnlichen „Mittleren Ring“ bezeichnen ihre Bürgerinitiative gegen Verkehrslärm und Luftvergiftung als „Aufstand der Gequälten“. Sie erklären: „Wir wollen überleben.“ Und sie sind bereit, mit „Händen und Füßen“ gegen „Lärm- und Abgasterror“ zu kämpfen, um nicht „Selbstmord auf Raten“ zu begehen. Sollten all ihre öffentlichen Proteste nicht weiterhelfen, haben sie „Demonstrationen zur Hauptverkehrszeit“ angedroht: „Wir sperren den Mittleren Ring mit unseren Leibern!“ Es sind 50.000 Menschen – alle schwer umweltgeschädigt. Mitten durch dichtbesiedelte Wohngebiete – darum die Bezeichnung MITTLERER Ring – wird ein geballter Pkw- und Lkw-Verkehr geführt. Und trotzdem werden hier auch jetzt noch von profitsüchtigen Bauherren Wohnungen errichtet, die als „menschliche“ Behausungen gelten.

Bayerisch unverblümt schildern mir im Münchner Gewerkschaftshaus drei Wortführer der Bürgerinitiative, warum sie sich nicht mehr mit „windelweichen Ausflüchten abspeisen“ lassen. Verleger Rudolf Rother verweist darauf, dass 200 Meter links und rechts von Autobahnen in Kürze schon nichts mehr angepflanzt und kein Vieh mehr weiden wird: „Es sollte doch zu denken geben, dass Menschen da leben müssen, wo es selbst für Pflanzen und Rindviecher verheerend wirkt.“

Auch der SPD-Stadtrat Klaus Jungfer gehört zu den Betroffenen: „Tag und Nacht donnern die Fahrzeuge an unseren Häusern vorbei. Die Auspuffgase, der von Straßen und Reifen abgeriebene Staub verpesten die Luft. Der Lärm lässt uns nicht mehr schlafen. Die Ärzte halten die Zustände für bedrohlich – vor allem für Kinder und alte Leute. Wir haben Messungen von Lärm-, Abgas- und Staubexperten durchführen lassen. Ergebnis: Schadstoffe und Lärmpegel haben die gerade noch zulässige Höchstgrenze um das 8- bis 10fache überschritten. Die Menschen fühlen sich als Stiefkinder der Stadt. Der Mittlere Ring darf nicht zur Selbstmörderschlinge werden und die Smogsituation der Stadt München verschlimmern. Wenn wir einseitig den Individualverkehr ausbauen, statt die Massenverkehrsmittel, wird München unbewohnbar und es kommt zum Verkehrskollaps.“

SPD-Stadtrat Dr. Dietmar Keese ergänzt: „Damit wir aus dem Hexenkessel herauskommen, werden von der Bürgerinitiative – abgesehen von der langfristigen Zielsetzung – dringliche Sofortmaßnahmen gefordert. Mein Parteifreund, der bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Hans-Günter Naumann hat sie in einem Schreiben an den bayerischen Innenminister Dr. Bruno Merk (CSU) zusammengefasst:

* Sperrung des Mittleren Rings für Kraftwagen, besonders in den Nachtstunden
* Ausbau lärmschützender Vorrichtungen
* Einbau schalldichter Fenster
* Ausbau einer leistungsfähigen Umgehungsstrecke
* Umleitung des Urlaubsverkehrs 1973 an München vorbei.

Auch der Münchener Arbeitsphysiologe Prof. Dr. med. Müller-Limmroth (den ich in seinem Institut aufsuchte) unterstützt die Bürgerinitiative. Seine Vorschläge: Strenge Radar-Kontrolle der 60-km/h-Geschwindigkeitsbegrenzung, da sonst die Rollgeräusche die Motorengeräusche noch übertreffen. Schalldämpfende Tujahecken-Bepflanzung und „Grüne Welle“ nur für niedrige Geschwindigkeit. Die Bayerische Landesregierung und die Münchener Stadtverwaltung werden rasch handeln müssen. Die Bürgerinitiative will endlich Taten sehen.

Heinz Brandt


Metall 10 vom 15. Mai 1973, 3.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Umwelt

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