Flusslandschaft 1959

Frieden/Abrüstung

Von München aus planten seit 1958 das Komitee gegen Atomrüstung, Hans Werner Richter und Robert Jungk den „Europäischen Kongress gegen Atomrüstung“, der am 17. und 18. Januar 1959 in London gemeinsam mit der Campaign for Nuclear Disarmament stattfindet. Es nehmen neben den beiden Genannten u.a. teil: Bertrand Russel, Karl Barth, Günter Anders, J.B. Priestley, die bri-
tische Biologin Antoinette Pirie aus Oxford, Joseph Rotblat, Mitglied der Pugwash-Konferenzen, und Kanonikus L. John Collins, Bischof von Llandaff. Außer Deutschen und Engländern sind Nor-
weger, Schweden, Österreicher, Schweizer, Holländer, Belgier und Franzosen anwesend. Der Kon-
gress gründet eine permanentes Europäisches Komitee gegen Atomrüstung.1

„Alle diejenigen, die die Gefahren einer nuklearen Aufrüstung und eines atomaren Krieges auszu-
sprechen wagen und die den guten Willen, die Gefahr zu vermeiden, als Gewissenspflicht erklären, dürfen nicht diffamiert werden, als ob sie ihrem Land in den Rücken fallen wollten, während sie primär aus Gewissensgründen, aber auch in Deutschland gerade aus nationalen Motiven nicht schweigen können. Und die öffentliche Meinung wird nie mehr schweigen.“ Prof. Dr. Aloys Wenzl, München.2

Im Juli spricht Nobelpreisträger Prof. Linus Pauling bei der Internationale der Kriegsdienstgeg-
ner
(IdK) zum Thema „Kein Krieg mehr!“ Er betont die Gefahren der radioaktiven Verseuchung durch Atombombenversuche. Die Vorbereitung der Veranstaltung leitet IdK-Mitglied Gerhard Ralle, Mitarbeiter des „Friedenskomitees der Bundesrepublik Deutschland“.

Für den 28. August lädt die IdK in die Max-Emanuel-Brauerei in der Adalbertstraße 33 ein. The-
ma: „Jahrgang 1922. Wir bleiben Zivilisten. Wie?“ Etwa tausend Menschen sind anwesend.

Am Abend des 2. September demonstrieren zweitausendfünfhundert Menschen gegen die Wehrer-
fassung des Jahrgangs 1922. Sie tragen unter dem Transparent „Jahrgang 22: Nein“ einen großen Kranz wie für eine Beerdigung vom Königsplatz zum Ehrenmal des Unbekannten Soldaten. „… Aber auch Frauen der 22er zogen mit, einige mit ihren Kindern. In einem offenen Brief, der am Königsplatz verlesen wurde, laden die ehemaligen Soldaten des Jahrgangs 1922 den Bundesver-
teidigungsminister Franz Josef Strauß zu einer öffentlichen Diskussion nach München ein. Am Grabmal des Unbekannten Soldaten sprach Pfarrer Emil Volz, Augsburg, Worte des Gedenkens für die Gefallenen. ‚Wir sind grundsätzlich bereit, die zivilen Tugenden zu verteidigen’, sagte Pfarrer Volz, ‚unser Nein zum Wehrdienst ist unser Ja zum zivilen Leben.’ Der Protest der 22er verlief würdig und ohne Zwischenfälle.“3

Am 16. Oktober versammeln sich etwa tausend Angehörige der Jahrgänge 1922 und 1939 im Bür-
gerbräukeller
an der Rosenheimer Straße 11 in Haidhausen. Ein Redner meint, Eisenhower habe einmal gesagt, im Krieg würden sich Leute umbringen, die sich nicht kennen, für ein paar Leute, die sich sehr gut kennen, aber nicht umbringen.

Beim Düsseldorfer Prozess gegen Mitglieder des Westdeutschen Friedenskomitees (WFK) im No-
vember steht auch die einundsiebzigjährige ehemalige Sozialdemokratin Edith Hoereth-Menge vor Gericht. Als die Schwerkranke auf einem Stuhl ins Gericht getragen wird, überreicht ihr eine indi-
sche Journalistin einen Blumenstrauß. Im Zuhörerraum brandet Beifall auf.4

William S. Schlamm5 meint auf Einladung des Ringes Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) am 3. Dezember bei einem Vortrag in der Technischen Hochschule, dass man in der Aus-
einandersetzung „mit dem Osten“ auch ein „militärisches Risiko“ eingehen müsse. Es kommt zu Tumulten.

(zuletzt geändert am 25.5.2020)


1 Vgl. Europa ruft. Der Europäische Kongress gegen Atomrüstung — London, 17./18. Januar 1959, München (1959); vgl. Hans Magnus Enzensberger: „Europa gegen die Bombe“ in Blätter für deutsche und internationale Politik 2 vom Februar 1959.

2 Zit. in Das Argument 2 vom 24. Mai 1959, 4.

3 Abendzeitung 211 vom 3. September 1959, 1.

4 Die „andere Seite“ vermerkt hämisch: „Der Name der ehemaligen sozialdemokratischen Stadträtin in München, Edith Hoereth-Menge, Vorsitzende des Friedenskomitees der Bundesrepublik Deutschland, war in der ‚Friedensbewegung‘ Aus-
hängeschild einer Unzahl von Unternehmungen. In den letzten Jahren, als die mit Mercedes-Limousine und KP-Kraftfah-
rer ausgerüstete Friedenskämpferin infolge Alterserscheinungen dem politischen Kurs nicht mehr wendig genug folgen konnte, wurde sie in ihrer Position wieder ‚abgebaut‘. Sie behielt aber, soweit bekannt, die Begünstigungen, die ihr aus ihrer früheren Repräsentationsrolle erwuchsen.“ Verschwörung gegen die Freiheit. Die kommunistische Untergrundarbeit in der Bundesrepublik. Hg. von der Münchner Arbeitsgruppe „Kommunistische Infiltration und Machtkampftechnik“ im Komitee „Rettet die Freiheit“ [unter Mitarbeit von Hans Hartl], München (Frühjahr 1960), 112.

5 (* 10. Juni 1904 als Wilhelm Siegmund Schlamm in Przemyśl, Galizien, Österreich-Ungarn, heute Polen; † 1. September 1978 in Salzburg), befreundet ab 1920 mit Wilhelm Reich, schrieb bis in die 1930er Jahre für kommunistische Zeitungen, wechselte aber im US-amerikanischen Exil zum Konservatismus. Joseph McCarthy, der Vorsitzende des 1947 gegründeten Komitee für unamerikanische Umtriebe, verhalf Schlamm zu einer Karriere in den USA. Nach seiner Rückkehr nach Europa 1959 schreibt er als einer der bekanntesten „Kalten Krieger“ für Die Welt des Axel-Springer-Verlags. Er meint, Pazifisten und Atomkriegsgegner verdienten „nichts als Verachtung und den Sowjetstiefel im Genick.“ William S. Schlamm, Die Gren-
zen des Wunder. Ein Bericht über Deutschland, Zürich 1959, 184.