Materialien 1974

Aktion § 218 organisiert sich in ganz Deutschland

Am 3. Juni 1971 bezichtigen sich 374 Frauen, abgetrieben zu haben.
Das Echo in der Presse ist gewaltig.

22. Juni 1971: Staatsanwalt Sechser ordnet in den Wohnungen von zwei Mitgliedern der Aktion 218 Hausdurchsuchungen an. Die Aktion 218 soll dadurch kriminalisiert werden: Die Bevölkerung ist empört und solidarisiert sich.

Hunderte von Selbstbezichtigungen und Tausende von Solidaritätsunterschriften folgen Schlag auf Schlag. In der Aktion 218 organisieren sich Tausende von Frauen auf bundesweiter Ebene.

Am 6. November 1971 finden in der ganzen BRD Demonstrationen und Aktionen statt. In München gehen über zweitausend Frauen für die ersatzlose Streichung auf die Straße.

Seitdem: Die Aktion 218 unterhält Beratungsstellen für die Frauen, die durch die ungeheuerliche Verschleppungstaktik der Bundesregierung nach den Wahlen in die Illegalität gezwungen werden. Diese Frauen müssen gegen ein Gesetz verstoßen, das zur Zeit kaum mehr angewandt wird, aber jederzeit gegen sie wieder eingesetzt werden kann.

Verhütungsmittel und ihre Folgen werden untersucht, Informationen über gute und schlechte Frauenärzte gesammelt.

Am 2. Juni 1973, also zwei Jahre nach Beginn des Kampfes der Frauen gegen den § 218, ruft Kar-
dinal Döpfner zu einer Großkundgebung „Aktion für das Leben“ auf. Er lässt seine Gläubigen, die die Pille nicht nehmen dürfen, in Autobussen, als Kaffeefahrt getarnt, zum Odeonsplatz bringen. Frauen, die für die Abschaffung des § 218 eintreten, werden von der Polizei rücksichtslos zusam-
mengeschlagen und verhaftet; Männer, die gegen das brutale Vorgehen der Polizei protestieren, ebenso. Alle werden im Polizeipräsidium widerrechtlich und gegen ihren Willen erkennungs-
dienstlich behandelt. Währenddessen tönt vom Odeonsplatz der Song für’s Leben, Frauenärzte und kirchliche Würdenträger reichen sich die Hand.

Im Februar sagen Berliner Frauengruppen den Ärzten, die die Zwangslage der Frauen ausnützen, den Kampf an. Im März kündigten vierzehn Ärzte und Ärztinnen öffentlich eine Abtreibung an und führten sie durch. Gleichzeitig unterschreiben 329 Ärzte und Ärztinnen einen Text, in dem sie sich der Abtreibung oder der Beihilfe der Abtreibung selbst bezichtigen. Sie haben der Heuchelei ein Ende gemacht.

Überall in der BRD fanden am 16. März 1974 Kundgebungen, Demonstrationen und Aktionen statt. In wenigen Wochen wird nach vierjähriger Verschleppung im Bundestag über die Reform des § 218 entschieden werden. Obwohl die Forderung nach Abschaffung des Paragraphen die einzige ist, die wirklich die Interessen der Frauen vertritt, ist sie nicht in die Regierungsentwürfe eingegan-
gen und auch von der Presse weitgehend unterschlagen worden.

Es stehen einerseits drei mehr oder weniger weit gefasste Indikationsentwürfe zur Debatte, auf der anderen Seite die Fristenlösung.

Indikationslösung:

Eine Abtreibung ist nur in einigen genau festgelegten Fällen zugelassen, z.B. bei Gefahr für das Le-
ben oder die Gesundheit der Frau, bei drohender Missbildung des Kindes, wenn die Frau vergewal-
tigt worden ist, oder wenn ein sozialer Härtefall besteht.

Um zu beweisen, dass solche Gründe vorliegen, sollen wir vor einer Ärztekommission erscheinen und uns rechtfertigen. Wir lehnen solche Gutachterkommissionen ab! Nur wir selbst können be-
urteilen, ob wir ein Kind wollen oder nicht – nicht irgendein Arzt, der unsere Situation nicht kennt, und der dazu noch teures Geld für sein Gutachten einstreicht – in München zum Beispiel der Psy-
chiater Dr. Gangloff, der in seiner luxuriösen Praxis in der Briennerstraße 100 Mark für ein 5-Mi-
nuten-Gutachten verlangt.

Fristenlösung:

Ihre Befürworter sehen diese Argumente gegen die Indikationslösung ein. Sie plädieren für die Fristenlösung, weil sie meinen, bis zum dritten Monat werde die Frau ihre Schwangerschaft be-
merkt haben, ihre Entscheidung getroffen und einen Abbruch bekommen haben. Die 3-Monats-
grenze sehen sie als eine Art Schutz gegenüber der Frau, die man vor gesundheitlichen Schäden einer späteren Abtreibung bewahren will. Es ist klar, dass eine Frau eine Abtreibung so früh wie möglich haben will, wenn sie sich schon einmal dazu entschieden hat, und es ist wahr, dass es weniger schädlich ist, den Eingriff früher zu machen.

Warum ist die Fristenlösung eine Falle?

1. ist es oft nicht möglich, die Schwangerschaft rechtzeitig festzustellen, besonders bei Frauen, die vorher die Pille genommen haben. Wir kennen in München viele Fälle, wo Frauenärzte durch Schlampigkeit und Desinteresse die Feststellung einer Schwangerschaft wochenlang herausge-
zögert haben.

2. Muss die Frau sich bei der Fristenlösung von einer Beratungsstelle zwangsberaten lassen, sie wird registriert und verliert wieder Zeit.

3. entsteht eine weitere Verzögerung, weil viele Krankenhäuser, besonders die konfessionellen, sich weigern, den Eingriff durchzuführen. Hier in Bayern ist das besonders schlimm. Schon jetzt ken-
nen wir Fälle, wo Frauen mit dem Erlaubnisschein der Gutachterkommission in der Hand wochen-
lang von einer Münchner Klinik zur andern gerannt sind und überall abgewiesen wurden. Einer dieser Frauen bot man schließlich Aufnahme im Harlachinger Krankenhaus an – aber sie musste ihre Einwilligung geben, sich gegebenenfalls gleichzeitig die ganze Gebärmutter herausnehmen zu lassen. Die Frau war 16 Jahre alt und völlig gesund.

Fünfzig Prozent der Krankenhäuser sind konfessionell gebunden und haben angekündigt, dass sie die Fristenlösung boykottieren werden. Unter diesen Vorraussetzungen ist es nicht für alle Frauen garantiert, innerhalb der 3-Monatsfrist eine Abtreibung zu bekommen. Die Verlierer werden wie bisher Frauen mit wenig Geld, wenig Information und wenig Zeit sein.

Die Krankenkassen haben sich bereits geweigert, die Kosten zu übernehmen. Es werden also wie in England private Abtreibungskliniken entstehen, wo die bisher illegal arbeitenden Abtreiber-Ärzte sich dann legal bereichern können. Aus alledem folgt, dass die Fristenlösung zwar auf dem Papier schön aussieht, aber keine wirkliche Liberalisierung bedeutet.

Ersatzlose Streichung des § 218

Zwar werden wir auch bei der ersatzlosen Streichung nicht vor privaten Abtreibungskliniken be-
wahrt. Aber sie ist für die Frauen die einzige Chance nach all den beschriebenen Schwierigkeiten, doch noch eine Abtreibung zu bekommen. Abschaffung des § 218 bedeutet: Freigabe der Abtrei-
bung bis zum Ende des sechsten Monats. Diese späten Fälle kommen in der Praxis jedoch kaum vor. Diejenigen, die heute noch vorkommen, sind nicht Folgen des Leichtsinns und der Unzurech-
nungsfähigkeit der Frauen, sondern es sind Folgen des geltenden Rechts, es sind Fälle, wo Frauen monatelang herumgeirrt sind, bis sie eine Möglichkeit zur Abtreibung fanden.


Blatt. Stadtzeitung für München 19 vom 22. März 1974, 4 f.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Frauen

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