Materialien 1974
Nackt im Frühlingsgewitter
Nostalgie ist nichts anderes als ein schlechtes Gedächtnis
für schlimme Ereignisse und ein gutes Gedächtnis für hübsche.
Manfred Gruner
Neulich ging ich mal wieder über die Leopoldstraße, einfach weil Frühling ist und ich sehen wollte, was ich neues brauchen kann. Das Ergebnis war niederschmetternd. Ich schlich nach Hause und dachte: da kannst du dich gleich in den Sarg legen, gegen so viel Aufmachung kannst du nicht an mit nichts als deinem Bewusstsein. Da wird wieder Staat gemacht mit Samt und Seide und die Preise sind entsprechend.
Zu den vielen looks ist mal wieder ein neuer hinzugekommen: der Nazi-look. Anklänge gab es schon ne ganze Weile, aber jetzt sehen auch die Frisuren verdammt nach den 30er Jahren aus, nachdem sich die Schultern gehoben und die Blümchenmuster nach Küchenschürzenart voll durchgesetzt haben. Man denkt an Feldherrnhalle, an Heil Hitler und an Gestapo.
Naja, werden jetzt die Gebildeten unter uns sagen, diese Mode trug man aber auf der ganzen Welt und nicht nur in Nazideutschland. Das ist richtig, jedoch von der gruppendynamischen Theorie ausgehend muss doch einfach global konstatiert werden, dass Prädikate in diesem Kampf um die Weltherrschaft nicht einseitig und eindeutig verteilt werden können.
Ich meine, dass diese Zeit nicht nur in Deutschland schlimm verlaufen ist, sondern dass Gewalt und Gegengewalt einander bedingen: nicht die KZ’s waren das Schlimme, sondern die weltpolitischen Fakten, die KZ’s in einem hochzivilisierten Land in dieser extremen Weise möglich machten. Na gut, werden wie- der andere sagen, was sagt das schon. KZ’s gibt es in bestimmten Teilen der Welt heute noch und wird es auch immer geben. Klar. Aber ich lebe in Mitteleuropa, mein Bewusstsein, meine Aktionen und Reaktionen sind die Summe meiner Erfahrungen und meines Wissens, ich reagiere auf bestimmte Reize. Wenn es blitzt, weiß ich: es donnert bald.
Was hat nun so ein Ruck in der Mode eigentlich zu bedeuten? Ich persönlich kriege Schiss, weil ich den Verdacht habe, dass mit der Übernahme von Formen auch gewisse Inhalte transportiert werden. Frage an materialistische Historiker: ist schon mal ausgehend vom historischen Materialismus untersucht worden, welche Inhalte (abgesehen von den schon bekannten) aus der Antike in die Renaissance geflossen sind und was sie konkret bewirkt haben? Und kann man daraus Schlüsse auf vergleichbare Renaissancen ziehen?
Ist in der Renaissance nicht nach einem Jahrtausend strenger christlicher Moralvorstellungen aller Variationen ein Zeitalter der Sinnenfreude nach antikem Muster angebrochen? Kam da nicht gleichzeitig eine erstmalig stringente Kritik an der Kirche auf? Da ist z.B. an Leonardos Verkündigung überraschend eine deutliche Verweltlichung christlicher Inhalte zu sehen: der Engel sieht aus wie ein schwules Mannequin, die Madonna ist reine Pose, eine eitle Schauspielerin, nichts ist mehr von der verinnerlichten Jungfräulichkeit der Goldgrundmadonnen übrig, das Ganze ist ein wunderschönes Bühnenbild, die neuerfundene Perspektive verrät Freude an der Natur, an der Welt, an der Veräußerlichung, an der Pose, Staffage und Form und an der Sinnlichkeit. Wurden in der Renaissance nicht auch wieder die antiken Bewusstseinsinhalte lebendig mit der Logik: das Wirkliche als das Vernünftige? (Was übrigens damals schon ein Fragezeichen wert gewesen wäre)!
Welche Inhalte sind nun aus dem Jugendstil in die Nostalgiewelle geschwemmt worden? Der Jugendstil war eine Befreiungsbewegung der Jugend aus der Strenge des Klassizismus. Abgesehen von der Befreiung von Korsetts, wucherten die Formen ins Naturhafte, ins Fantasievolle, ins Okkulte, ja genau, auch ins Okkulte. Immer, wenn erstarrte Formen verlassen werden und die Wogen der Befreiung hochschlagen, schwappen sie auch hinüber in das Reich des Unbegreiflichen, das in klassischen Perioden verleugnet oder ignoriert worden ist.
Sind wir nicht auch mal wieder auf solch einem Trip? Klar, ich bin z.B. sauer, wenn ich in der Abendzeitung die Spalte mit den Horoskopen nicht finde, man hat schließlich ein Anrecht darauf, zu wissen wie der Tag verläuft.
Befreiung hängt vom Bewusstsein der Knechtschaft ab. Bei uns wird sich nur noch von den Moden befreit. Unsere Ungeduld und unser Unbehagen werden auf Äußerlichkeiten gelenkt, von denen wir uns dann befreien dürfen: das ist eine Wohltat, wenn die Hosen mal an einer anderen Stelle kneifen oder die BH’s mal gerade nicht in sind. Zurück zum Jugendstil. Mir kommt es fast so vor, als wollte man die letzten 70 Jahre noch einmal zurückschrauben, noch einmal das Jahrhundert von vorne anfangen, wiederholen, einfach weil es so schief gelaufen ist und womöglich demnächst in den Graben geht. Was zeigt der Wiederholungszwang in der Psychoanalyse? Dass eine Entwicklungsphase nicht abgeschlossen ist. Das kann man wohl sagen: im Augenblick schnurren die letzten Stile an uns vorbei wie bei einem Ertrinkenden die wichtigen Stationen seines Lebens.
Und wie ist das nun mit der Emanzipation? Zeigt sich der Grad der Emanzipation, der heute erreicht ist, an der Eleganz, mit der eine elfenbeinerne Zigarettenspitze benutzt wird, oder am Schwung eines Schals, oder an der Geste, mit der man eine Zwillingsrose am Gürtel präsentiert?
Wie wird denn eigentlich Mode gemacht? Aus welchen Reservoiren speist sie sich? Da werden die Stile durchgeblättert und man entschließt sich für einen, von dem man meint, dass er durchkommen könnte. Auch der Modeschöpfer ist aber ein Kind seiner Epoche, er nimmt mehr oder weniger bewusst Strömungen auf, an seinem Ohr rauschen Tagesereignisse, Kulturnachrichten, Kriege, (der Vietnam-Protest hat zynischerweise den Military-look geboren), Morde, Vergewaltigungen, die Hochzeit des Jahres usw. vorbei, er registriert genau wie jeder andere Zeitgenosse den Zustandspegel seiner Gesellschaft und formt daraus sein Angebot. Er hat, wie man so schön sagt, Intuition! Marcuse sagt über Intuition: sie ist das Ergebnis methodischer geistiger Vermittlung. Eine solche Aussage macht allerdings Schluss mit der Legende vom Genie. Wenn das doch die Leute wüssten!
Na, zurück zum Text. In Krisenzeiten, in revolutionären Situationen geht es dann mit der Mode mal andersrum. So hat die Studentenbewegung einen Stil geboren: die langen Haare, die unmodischen Kleider. Das wurde von der großen Mode aufgegriffen und zu Geld gemacht. Zu einem Teil konnte das deshalb geschehen, weil die Bevölkerung sich bewusst oder unbewusst mit der Studentenbewegung oder mit Teilaspekten identifiziert hat, zum Teil aber auch deshalb, weil damit der revolutionäre Charakter dieser Haltung entschärft werden konnte: wenn schon ein Polizist einen Bart, lange Haare und Jeans trägt, dann ist es mit dem Protest nicht mehr weit her. Die Menschheit kann zu Erkenntnissen kommen – wie immer, sie werden systematisch in Mode umgesetzt, in Ästhetik verwandelt und verlieren damit ihre Brisanz. Sie werden zu Schnörkeln, zu Ornamenten und sie sind heute die ästhetischen und philosophischen Zugeständnisse an ein wissenschaftsgläubiges Publikum und bringen Profit. Klasse! Die Hinterlassenschaft des 19. Jahrhunderts ist eine Bombe mit Schnörkeln. Wenn die mal hochgeht!
Verdammt noch mal, es ist aber jetzt immer noch nicht geklärt, was ich anziehen soll. Nazi-look kommt nicht in Frage, der verursacht mir zu schlimme Assoziationen. Auf den Konkurrenzkampf wie gehabt mag ich mich auch nicht mehr einlassen, dazu ist mein solidarisches Gewissen schon zu ausgebildet. Jugendstil ist also auch nicht drin – obwohl der schön ist. Meine Freundin sagt: Mensch Inge, sieh dir doch die Männer zu diesen Mädchen an, die kommen doch für uns sowieso nicht in Frage. Allerdings!
Also, der Geschmacklosenlook ist zur internationalen Jet-Set-Jugend vorgedrungen. Immerhin kann man jetzt genau auseinanderhalten, wohin man gehört. Da gibt es unter anderem auch noch die Sekretärinnen- und Lehrerinnentypen, (nichts gegen Sekretärinnen und Lehrerinnen, die müssen sich schließlich solide anziehen, weil ihr Job es verlangt, Lehrerinnen werden sogar vom Kultusministerium dafür benotet!). Geschmack ist eine Klassenfrage. An meinen Kleidern kann man erkennen, aus welcher Schicht ich komme oder zu welcher ich gehöre oder gehören möchte. Kleider machen Leute, das ist ein alter Spruch. Wenn ein Jet-Set-Girl heute einen Fetzen, womöglich in reiner Seide, trägt, echt oder nachgemacht, den vor 35 Jahren eine Kleinbürgerin am Sonntag in die Kirche angezogen hat oder eine Hausfrau zum Putzen, dann ist das entweder Zynismus oder grenzenlose Naivität.
Aber nackt können wir schließlich auch nicht rumlaufen, dafür ist unser Klima einfach nicht geeignet.
Inge Heinrichs
Blatt. Stadtzeitung für München 22 vom 16. Mai 1974, 8 f.