Materialien 1974

Was hat die Polizei im Kopf?

… Die ersten Hausbesetzer waren am Freitagabend gegen 21.45 Uhr im Gasteig-Spital. Bis ca. 11 Uhr hatten sich ungefähr hundertsiebzig Leute im Speisesaal im ersten Stock zusammengefunden. Währenddessen werden auf der Strasse Flugblätter verteilt, auf denen für den morgigen (Samstagabend) ein Fest mit Musik und Essen für 2,— DM angekündigt ist. Jemand hat einen Plattenspieler mitgebracht, Bier ist auch da, eine Art Fest entwickelt sich. Die Tür zum Haus und das Eisentor zu Strasse werden jetzt verbarrikadiert. Man ist gerade dabei, Gruppen für die Küche und andere Arbeiten einzuteilen, als gegen 23.15 Uhr die Münchner Polizei, die Bereitschaftspolizei und der Bundesgrenzschutz (zur Räumung auffordern).

Fünfzehn Minuten später stürmen mehrere hundert Polizisten das besetzte Gasteigspital. Die Bereitschaftspolizei (Kindergesichter mit Helmen und Visieren, durchsichtigen Schutzschildern) hat ein Absperrseil um den Gebäudekomplex gezogen, sie stehen Schulter an Schulter, um das Haus vor den ungefähr dreihundert Leuten „zu schützen“, die sich inzwischen eingefunden haben. Gesprächsversuche mit diesen Visiergesichtern: Was schützt ihr hier eigentlich vor wem? bleiben fruchtlos, sie grinsen höchstens furchtsam. Alle haben eine Pistole an der Hüfte. Alle sind Befehlsempfänger.

Ihre erfahrenen und älteren Kollegen räumen inzwischen im Inneren des Hauses auf: blitzschnell wird in Parterre eine Art Büro aufgeschlagen, die ersten Demonstranten, die sich freiwillig abführen lassen, werden hier fotografiert, Fingerabdrücke werden genommen. Dann gehts in die Ettstraße, wo schon seit 18 Uhr die leer geräumten Zellen warten. Ganz offensichtlich hat die Polizei von der geplanten Hausbesetzung erfahren (totale Organisation des nächtlichen Großeinsatzes und ein einige Tage vorher abgelaufenes Gasteig-Schutzmanöver).

Den Blatt-Mitmachern Dilloo und Jutta wird als einzigen (Dilloo präsentiert einen Presseausweis) nach der erkennungsdienstlichen Behandlung freier Abzug gewährt. Kriminalbeamter Nitzschke grinst freundlich zu Dilloo: „Na, was schreiben sie denn jetzt? Da kommt doch sicher die Polizei wieder schlecht weg?“

In den Münchner Tageszeitungen stand am Montag, dass zur Räumung des Gasteig-Spitals zweihundertfünfzig Polizisten angetreten wären. Das stimmt nicht. Es waren mindestens siebenhundert uniformierte, schwerbewaffnete Männer, mit Funksprechgeräten, Feldtelefonen, Absperrseilen, Schilden, Helmen und Visieren ausgerüstet. Ich habe die Einsatzwagen gezählt. Einige Exemplare des mobilen Einsatzkommandos (Anti-Terroristentruppe, direkt dem Bundesministerium unterstellt) mit ihren barettartigen Kopfbedeckungen und einteiligen Kampfanzügen waren auch da. Die sehen aus wie im Kino. Aber hier wars Ernst.

Nicht alle Besetzer stellten sich freiwillig zur erkennungsdienstlichen Behandlung im Parterre, einige lassen sich die Treppe heruntertragen. Alle verweigern nähere Angaben zur Person. Manche haben sich die Telefonnummer eines Rechtsanwaltes auf den Arm geschrieben. Das erweist sich später als nützlich. Männer und Frauen werden getrennt abtransportiert, jeder Gefangenenwagen, der hinter der von den Schilden der Bereitschaftspolizei geschützten Absperrungen Richtung Ettstraße fährt, wird von Sprechchören und erhobenen Fäusten der in langen Reihen vor dem Seil stehenden Leuten begrüßt und verabschiedet.

Sprechchor der Leute auf der Strasse: Wie viel seid Ihr noch? Antwort aus dem ersten Stock: Hun-dert! Zwischenfall auf der Straße: der Abtransport der Besetzer in kleinen Gruppen läuft pausenlos: ein offenbar betrunkener Mann, den die Bereitschaftspolizei hinter ihre Reihen auf dem Bürgersteig hat passieren lassen, wird von zwei Stadtpolizisten festgehalten. Er wehrt sich und schreit: „Wieso darf ich hier nicht durchgehen, erklären Sie mir das!“ Die Polizisten schleifen ihn zum Absperrseil, einer tritt ihn, er liegt am Boden, wird noch mal getreten, die Demonstrantenmenge stürzt sich auf die schlagenden Polizisten, eine Massenschlägerei droht. Die Polizei zerrt fünf Leute in die Absperrzone, verprügelt sie, alle anderen weichen auf den gegenüberliegenden Bürgersteig zurück und haben Angst. Die fünf (darunter ein Mädchen) werden nach schweren Fußtritten und Schlägen abgeführt. Wir beschließen, nach Hause zu gehen, um weitere Provokationen und Verhaftungen zu vermeiden.

Bis kurz vor 4 Uhr nachts sind alle Hausbesetzer in der Ettstraße inhaftiert – die ganze Nacht hindurch laufen die Vernehmungen und die erkennungsdienstlichen Behandlungen. Alle werden von drei Seiten fotografiert, Fingerabdrücke von allen zehn Fingern, … „Haben Sie gefärbte Haare?“ Keiner sagt etwas aus, nur einige Schüler werden dazu überredet, einen kurzen Lebenslauf zu unterschreiben.

Ein erst 15jähriges Mädchen wird von einem Kriminalbeamten überredet, ihre Eltern anzurufen, dann nimmt er ihr den Hörer aus der Hand und sagt: „Ihre Tochter hat sich einer linksradikalen Gruppe angeschlossen. Kommen Sie her!“ Sie kommen, warten und werden dann zu ihrer Tochter hereingelassen, als sie gerade auf dem Fotografier-Stuhl sitzt. Der ganze Mechanismus ist einem elektrischen Stuhl nicht unähnlich.

Die Zellen in der Ettstraße sind in dieser Nacht ungewöhnlich gut besetzt. In drei Räumen für normalerweise je acht Personen sind ungefähr hundertsiebzig Leute eingesperrt, Stimmung ist gut, die Wände werden bemalt, morgens gibt es trockenes Brot mit Muckefuck. Mittags gibt es Erbsensuppe, die durch die inzwischen eingeschlagenen Fenster auf den Hof geworfen wird.

Bis zum frühen Nachmittag werden die meisten – einzeln – entlassen. Drei Leute – darunter Ebba, die diesen Text layoutet – werden bis Sonntagmittag festgehalten, weil sie in München keinen festen Wohnsitz angeben können. Rechtsanwalt Jürgen Arnold hilft vor dem Ermittlungsrichter.

Unsere Ohnmacht gegen den immer übermächtiger, menschenfeindlicher und lebensbedrohender werdenden Staatsapparat, hier unmittelbar durch die schwerbewaffnete Polizei zum Greifen personalisiert, war eine gute, weitertragende Erfahrung für uns alle. Wir wollen uns mit Händen, Füßen und unserem Kopf gegen einen solchen Staat, gegen solch eine Polizei wehren! Wir müssen den schlüpfrigen Zipfel unserer Freiheit unseres Rechts als Bürger festzuhalten versuchen, auf keinen Fall loslassen, möglichst weiter oben fassen! Die Gasteig-Aktion war ein Anfang.


Blatt. Stadtzeitung für München 17 vom 22. Februar 1974, 5.1

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1 Die Abteilung Schutzpolizei/Kriminalpolizei im Polizeipräsidium München leitete nach Erscheinen dieses Artikels gegen das Blatt ein Verfahren wegen verleumderischer Beleidigung ein.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Hausbesetzungen

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