Materialien 1974

Stellungnahme eines Vaters, dessen Tochter wegen Gasteigbesetzung angeklagt ist

Auf die Einladung zum 5. November 1974 zur gerichtlichen Verhandlung darf ich folgendes mitteilen:

Meine Tochter besucht in München eine Sozialpädagogische Fachoberschule und machte im letzten Jahr ein Praktikum, in dem sie freiwillig in Arbeitsgemeinschaften sozial schwache und gefährdete Kinder betreute. Obwohl sie erst 16 Jahre ist, ist sie weit überdurchschnittlich engagiert im Einsatz für Randgruppen unserer Gesellschaft.

Völlig unverständlich erscheint es uns allen in unserer Familie, dass nach Zeitungsberichten und zuverlässigen Informationen auch im Fernsehen in mehreren Städten in unserer Bundesrepublik Wohnraum sinnlos abgerissen wird, und dafür Büroräume oder andere Gebäude errichtet werden, nur weil sie mehr Geld bringen.

Unsere Tochter haben wir zum kritischen und selbstständigen Menschen erzogen; deshalb wundern wir uns nicht, dass sie konsequenterweise sich an Demonstrationen beteiligt, die sich gegen die sinnlose Zerstörung von Wohnraum wenden, zumal gerade in München noch Wohnungsnot besteht.

In dieser Zeit können Hausbesetzungen unserer Meinung nach unerlässliche Mittel sein, um die Öffentlichkeit auf unerfreuliche Erscheinungen hinzuweisen.

Und wem soll es nicht Zornröte ins Gesicht treiben, wenn man in Zeitungen, Zeitschriften. Rundfunk und Fernsehen erfährt, wie oft Wohnungen abgerissen werden, die sinnvoll für eine Gemeinschaft genutzt werden könnten. Auch in unserer Kleinstadt haben wir Beispiele für beschämendes Verhalten von Behörden und Ämtern.

Ich selber bin u.a. auch Lehrer an der hiesigen Landespolizeischule Niedersachsens in Münden und diskutiere mit den Polizei-Oberschülern öfter Fälle, die Sie von Amts wegen zu behandeln haben. Immer wieder stelle ich fest, wie viele Polizeibeamte sich auf Seiten der Jugendlichen stellen, die sich für eine gute Sache engagieren, also im idealistischen Sinne handeln, wobei sie verständlicherweise dann und wann auch die Grenzen des Erlaubten überschreiten.

Ich bitte das Amtsgericht, diese Gedankengänge bei der Verhandlung zu berücksichtigen, weil meine Tochter ein empfindliches Organ für Recht und Unrecht hat und wir sie zur Offenheit und zum Bekennermut im Rahmen unserer demokratischen Gesellschaft erzogen haben.

Hochachtungsvoll


Blatt. Stadtzeitung für München 36 vom 20. Dezember 1974, 5.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Hausbesetzungen

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