Materialien 1974
Wer schützt uns vor dem Staatsanwalt?
Justiz in München
Dreizehn Zuschauer eines politischen Prozesses wurden am Dienstagnachmittag letzter Woche von bewaffneten Polizisten im Gerichtsgebäude Pacellistraße zunächst eingeschlossen, dann verhaftet und – zum Teil mit Handschellen – in die gut besuchten Gefängniszellen in der Ettstraße abgeführt. Die Münchner Zeitungen haben über den Vorfall nicht berichtet.
Der Schauplatz des Geschehens ist der Prozess gegen Teilnehmer der Demonstration am ‚Roten Antikriegstag’ (es ist bereits der elfte Prozess und weitere werden folgen). Die Demonstration – 2. September 1972, Zeit der Olympiade – endete vor dem Karlstor in einer Massenprügelei.
Die Anklage gegen Alexander Haschemi, Bernd Reisser und Hubert Lehmann lautet auf besonders schweren Landfriedensbruch in Verbindung mit besonders schwerem Widerstand gegen die Staatsgewalt. Außerdem haben die drei gegen das Versammlungsgesetz verstoßen. (Während der Olympiade hatte sich das Amt für öffentliche Ordnung besondere Schutzmaßnahmen für das Friedensfest der Völker einfallen lassen, wie z.B. eine Art Bannmeile um das Olympiagelände und ein generelles Demonstrationsverbot in der Fußgängerzone. Demonstranten verstellen die Aussicht auf die postgotische Rathausfassade und die Auslagen von Woolworth – so ähnlich die Begründung des Amts für öffentliche Ordnung).
Da ich bei der Demonstration nicht dabei war (Bilder davon, Helme, Schlagstöcke grob gerastert habe ich in der Tagesschau gesehen), weiß ich nicht, wer zuerst auf wen eingeprügelt hat. (Die Richter werden darüber auch nicht richten können, egal, wie das Urteil ausfällt).
Die Beweismittel gegen die drei sind unscharfe Fotos eines Reporters von der Bild-Zeitung (gibts immer noch) und vierzehn Zeugen, darunter zehn Polizisten, einer davon Polizeiprofizeuge Forstner, der mit seinen vielen Aussageterminen im Gerichtsgebäude bereits recht ausgelastet ist.
Die Fotos werden von den drei Verteidigern (Fischer, Ahues und Flint) als Beweismaterial abgelehnt.
Am ersten Verhandlungstag, Montag, dem 28. Januar sitzen die Zuhörer dicht gedrängt im viel zu kleinen Raum, es gibt nur siebzehn Sitzplätze. Größere, ungenutzte Säle befinden sich im gleichen Stockwerk. Auf Antrag der Verteidigung werden noch 4 Stühle hereingebracht. Im Verlauf der Verhandlung bekommt ein Zuhörer eine Ordnungsstrafe von 100,— DM wegen Anstimmens eines Sprechchors. Am frühen Abend wird dann die anwesende Öffentlichkeit ausgeschlossen, die sechs bis acht Polizisten, die nach Dienstschluss noch auf dem Gang sind, greifen nur lustlos ein, man geht auch ziemlich freiwillig unter Absingen der Internationalen.
Herr Hübner, Kriminalbeamter im Polizeipräsidium, der während der ganzen Verhandlung mitgeschrieben hat und zu Beginn auch einen reservierten Extraplatz unter den Zuschauerstühlen vorfand, darf bleiben. Die Gewaltenteilung – ein Fundament unseres Staates – ist nur noch verschwommen zu erkennen.
Am Dienstagmorgen werden zunächst die vier zusätzlichen Stühle – aus feuerpolizeilichen Gründen – wieder entfernt. Um 11.30 Uhr wird dann die Öffentlichkeit, so ca. vierzehn Leute, für den gesamten Prozessverlauf ausgeschlossen.
Jetzt gehts erst richtig los: Die ausgeschlossene Öffentlichkeit kann das Gerichtsgebäude nicht verlassen, da die Tür. die zum Lift führt, abgeschlossen ist und in den Gerichtssaal darf niemand mehr rein. Auf dem Flur stehen etwa zwanzig Polizisten, die unter der Führung von Einsatzleiter Weiß und den Staatsanwälten Emmrich und Wahl einzelne Leute herausgreifen und in einem Nebenzimmer „erkennungsdienstlich behandeln“.
Verteidiger Flint bekommt einen Platzverweis (juristischer Terminus) von Einsatzleiter Weiß und muss für die restliche Spielzeit auf die Bank. Weiß zur Verteidigerin Fischer: „Lassen Sie sich ruhig mit fotografieren!“ Staatsanwalt Wahl zu Frau Fischer: „Sie kommen auch demnächst auf die Anklagebank!“ Etwas später: „Diese Frau ist festzunehmen, wenn sie noch mal jemanden anspricht!“ (Wahl hatte RA Niepel während des Pohle-Prozesses festnehmen lassen).
Die Leute, die schon fotografiert worden sind, dürfen nach Hause gehen. Der Rest – verstärkt durch Flugblattverteiler, die auf der Straße vor dem Gerichtsgebäude festgenommen werden – wird in die Ettstraße transportiert und in Zellen eingeschlossen.
Ein Mädchen, das versucht, einen Sprechchor anzuleiern, wird von einem namenlosen Hüter des Gesetzes belehrt, dass es schließlich auch Einzelzellen gäbe, in die man Tränengas einströmen lassen kann. Die Verhöre dauern bis abends acht, zu der Zeit ist auch der Prozess zu Ende. Einer wird bis zum nächsten Morgen festgehalten.
Am Mittwoch und Freitag wird der Prozess fortgeführt. Einige Polizei/Demonstrantenfilme vom 2. September 1972 werden auf ausdrückliches Verlangen der Verteidigung vorgeführt; die Staatsanwaltschaft hatte sie – obwohl als Belastungsmaterial vorgesehen – zurückgezogen.
Bisher ist eine wichtige Frage ungeklärt – die Verteidiger wollen sie noch beantwortet haben: Wieso dürfen Polizisten aus Bremen, Hamburg und Hessen in München mit Schlagstöcken in eine Demonstration eingreifen? Polizisten sind Landesbeamte und dürfen nur innerhalb der Landesgrenzen agieren (außer bei Verfolgung einer Straftat). Es sei denn, der allgemeine Notstand ist ausgerufen (Art. 91,1 Grundgesetz). Das hatte man zur Olympiade versäumt. Schade, auch der Bundeswehr wären sonst sicher großzügigere Operationen zur Olympiazeit möglich gewesen.
Die Urteilsverkündung in diesem Prozess vor dem Jugendschöffengericht – Mindeststrafe vor dieser Instanz ist ein Jahr Gefängnis – wird wieder öffentlich sein. Das ist Gesetz.
Blatt. Stadtzeitung für München 16 vom 8. Februar 1974, 5.