Materialien 1974

Terroristen - Bullenstaat - Freaks

Wer keine Lust darauf hat, seinen erwachsen werdenden (oder gewordenen) Kindern etwas von der Geschichte der Bewegungen der Sponties, der APO, der Friedens-, Öko- oder Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Westberlin zu erzählen, gebe ihnen dieses Buch zum Lesen. Aber Vorsicht, es wirkt subversiv und hinterlässt unter anderem ein Gefühl des Unmutes, bei dem man nicht weiß, ob er sich zum Guten oder Schlechten auswirkt, zumal selbst diese Einteilungen heutzutage schon nicht mehr eindeutig bestimmbar sind.

Gerhard Seyfried hat sich einen Namen als Karikaturist und Comic-Autor gemacht, der aus der Innenansicht einer politischen Szene nicht nur die Unfähigkeit von Staatsbeamten und Geschäftsleuten karikierte, sich den Anliegen emanzipatorischer Bewegungen zuzuwenden, sondern auch typische Verhaltensweisen innerhalb der Anarcho-Polit-Szene auf die Schippe nahm. Seyfrieds Comics versorgten uns mit einer Art Sauerstoff, der uns half, den realsozialistischen Mief zu überleben und das nicht nur, weil sie witzig waren. Seine Bilder sprengten auch die in der DDR herrschende Lehre von den antagonistischen Klassenverhältnissen, denn er belegte, dass es nicht allein am System liegt, wenn bestimmte Menschen bestimmte Verhaltensweisen annehmen. Es gibt schlichtweg Menschentypen, die zu Bütteln taugen und die sich jeder Macht anbiedern und Erfolg damit haben. Seyfrieds Polizisten rannten auch in Ostberlin, in Leipzig und selbst noch in den letzten Kaffs der DDR rum, seine atemberaubend dämlichen Politiker- und Beamtentypen unterschieden sich in nichts von den hiesigen. In beiden politischen Systemen wurde sich gleichermaßen skrupellos solcher Typen bedient.

Der Roman Seyfrieds handelt im Grunde genommen von nichts anderem, seine Zuspitzungen sind nunmehr romanhaft und nicht mehr karikaturistisch und sie sind nicht mehr komisch. Er setzt Januar 1974 in München ein, wo Fred auf einer Demo gegen die Parteinahme der CDU für den Putsch in Chile im September 1973 seinen Freund Ramon aus den Augen verliert, weil dieser verhaftet wird. Die Demonstranten hatten spontan die Route der angemeldeten Demo geändert, um ihr etwas mehr Massenwirksamkeit zu verleihen: „… Bullen sauber verarscht, haha“, „Lassen uns doch von denen nix vorschreiben!“

Was uns heutzutage allenfalls noch als eine leichtfertig in Kauf genommene Ordnungswidrigkeit mit Spaßfaktor vorkommt, stellt sich im Kontext der damaligen Zeit als Teil einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen politisierten Sponti-Gruppen und Sicherheitsbehörden im Schatten des Kalten Krieges dar. Ramon, dessen Freundin Sandra und Fred leben in einer WG zusammen. Über den Kontakt zur Roten Hilfe, die Sandra und Fred bei ihrer Suche nach Ramon unterstützt, lernen sie Jenny kennen, die das Quartett komplettiert.

Seyfried beschreibt beispielhaft an ihnen die zunehmende Politisierung einer ganzen Generation junger Leute, denen die Bundesrepublik zunächst nur zu spießig, zu konservativ, aufklärungsfeindlich und schließlich politisch zu reaktionär ist. Dabei greift er auch auf Ereignisse zurück, die noch in der 60er Jahren liegen. Eingeschobene Pressemeldungen dokumentieren Einflüsse, mit denen sich die Gruppen auseinandersetzen mussten. Über die Jahre vollzieht sich eine Aufspaltung der emanzipatorischen Bewegung, was an sich normal und auch nicht bedauerlich ist, aber geschieht auch die Verleugnung und Verleumdung ihrer Motivationen durch Politiker und Medien, bis hin zur Kriminalisierung.

Radikalisiert durch die Intoleranz einer Gesellschaft, die sich gerade erst mit der eigenen Rolle in der NS-Zeit zu befassen begann, durch ungesetzliche und maßlos übertriebene Übergriffe von Polizisten, in einem Klima, das durch einseitig und bewusst falsch dargestellte Tatsachen in einzelnen Medien aufgeheizt wurde, sowie in Verzweiflung über die Unfähigkeit, eigene Ansichten und eigenes Engagement adäquat in die Gesellschaft hineintragen zu können, befasst sich auch unser Quartett mit dem Für und Wider bewaffneter und gewalttätiger Aktionen. Bevor es jedoch zu einer solchen kommt – wobei die Frage „Gewalt gegen Sachen“ längst entschieden ist – stellt sich heraus, dass zwei aus der Gruppe diese Entscheidung bereits getroffen haben.

Was nun folgt, hat mit der Leichtigkeit, die bislang hinter den Aktionen stand, nichts mehr zu tun. Seyfried schildert anschaulich die zunehmende Vereinsamung und Verbitterung seiner Helden, die sich nicht nur von der Unbekümmertheit der ursprünglichen Bewegung der Freaks, Anarchos und Haschrebellen entfernen, sondern auch von deren Inhalten. Das Scheitern des bewaffneten Widerstands von Terrorgruppen wird im persönlichen Scheitern Einzelner vorweggenommen. Sie werden durch die Sicherheitskräfte und Medien dem Terror der RAF zugeordnet und mit aller Härte bekämpft, unabhängig davon, ob sie sich von ihr distanzieren oder nicht.

Das ist eine Botschaft des Buches, mit der man durchaus vertraut ist. Die andere, subversive, besteht in dem Hinweis drauf, dass all das, was die jungen Leute über einen jahrelangen Prozess der Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft zur Gewalttätigkeit motiviert hat, historisch nur wenig aufgearbeitet ist. Das Buch nährt den Verdacht, dass der Terrorismus der 70er Jahre nicht nur ein „Unfall der Geschichte“ war, weil die zivilisatorischen Kräfte der Gesellschaft versagten, sondern dass auch demokratiefeindliche Kräfte in den bundesdeutschen Behörden diese fatale Entwicklung gezielt und bewusst herbeigeführt haben.

Seyfried gelingt etwas, was er auch mit seinen Comics erreichte. Seine Helden sind Identitätsfiguren, die trotz oder wegen ihrer persönlichen Macken ausgesprochen sympathische Typen sind, sich ebenso wie wir Gedanken über die Ungerechtigkeiten in der Welt machten, mit Jeans und langen Haaren rumliefen, sich vor der Armee drückten, die gleiche Musik hörten, in einem ähnlichem Slang quatschten, gern in Kommunen lebten, stundenlang heftigst miteinander politisch diskutierten, gern verreisten, und auch recht großzügig mit Rauschmitteln umgingen. Die geschilderten kleinkriminelle Ambitionen waren dagegen wohl eher individuell ausgeprägt.

Aus diesen Gründen fällt es schwer, das Scheitern der Romanhelden ausschließlich ihnen selbst anzulasten. Unangenehm, ja geradezu unerträglich ist die Vorstellung, dass wir, die ungefragt als Bürgerrechtler tituliert werden und nach offiziöser Darstellung zeit unseres Lebens nichts als die Bundesrepublik angestrebt haben, inzwischen zum Schüttgut gehören, das auf den Leichen im Keller dieses Landes liegt. Andere Leser werden freilich sagen, dass diese Typen im Rechtsstaat zwangsläufig scheitern mussten, weshalb auch kein Bedarf bestehe, ihnen nachzuforschen.

Der Roman bietet keine besonderen künstlerischen Höhepunkte und manche Dialoge, wie die, in dem es um die Frage der Gewalt bei Aktionen oder um die Motivation ihres Kampfes geht, wirken regelrecht aufgesetzt. Möglicherweise hatte es für den Autoren auch einen besonderen Reiz, eine seiner eigenen Zeichnungen im Münchner Stadtmagazin „Blatt“ zu beschreiben, doch ist nicht viel davon zu spüren. Der Roman besticht durch die Innenansicht, die weder verteufelt noch verklärt, sondern schildert, welche Ansichten unter den Leuten damals verbreitet waren.

Dem Buch ist ein Anhang beigefügt, in dem einzelne, heute kaum noch im Bewusstsein vorhandene Dinge erklärt werden, wie etwa die Formel: „Venceremos!“ Auch finden sich E-Mail-Adressen, bei denen das Wissen über das Thema weiter vertieft werden kann, angefangen von Initiativgruppen bis hin zu solchen Instituten wie BKA und Verfassungsschutz. Diese ausgesprochen souveräne Art der Aufforderung, sich selbst ein Bild von den Dingen zu machen, verdeutlicht die Ansicht des Autoren einmal mehr, dass es noch viele Fragen zu klären gilt.

Gerhard Seyfried: „Der schwarze Stern der Tupamaros.“ Eichborn Verlag, Berlin/Frankfurt/M. 2004, ISBN 3-8218-07547, 300 Seiten, 19,90 €.

Dirk Moldt


Horch und Guck. Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur 48/2004, Berlin, 80 – 81.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Militanz

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