Materialien 1974

Lieber Hartmut

München, im November 1994

Lieber Hartmut,

es muss 1974 gewesen sein, als ich zum ersten Mal zu Euch in die Kanzlei kam.

Verstört und sprachlos – Gertraud Will saß in Untersuchungshaft. Du warst ihr Verteidiger, ich eine ihrer Freundinnen (so sagten wir damals nicht, wir nannten uns Genossinnen und fühlten uns frauenbewegt).

Trotz unserer turbulenten und immer etwas vorlauten Aktivitäten und Versammlungen hatte ich nie einen Anwalt gebraucht. Wie alle schrieb ich mir vor jeder Demonstration Eure und Jürgen Arnolds Telefonnummer auf die Hand – ein Ritual und für alle Fälle eben. Festgenommen wurde ich nie, noch nicht einmal verhört, und gegen mich lief kein Verfahren. Und das, obwohl ich seit Jahren im TRIKONT-Verlag wohnte und arbeitete, unser Telefon abgehört wurde und Tag und Nacht vor dem Haus ein unauffälliges Auto stand, in dem zwei noch unauffälligere Herren saßen.

Wir publizierten in diesen Jahren Texte der militanten Linken aus Frankreich, Italien und der BRD. Und hatten, wie sich das für einen richtigen Verlag gehört, immer Besuch – von Autoren, Übersetzern und neugierigen Sympathisanten. Die meisten, die ich kannte, waren überzogen mit Prozessen oder schwebenden Verfahren. Suspekt war, wer diesen Ärger nicht hatte. Fast schämte ich mich, dass ich zu denen gehörte.

Dann wurde Gertraud verhaftet. Sie sollte ihrem Verlobten Roland Otto zur Flucht verholfen haben. Und dann war noch irgendwas mit einer Reisetasche, in der theoretische Schriften der RAF und eine Knarre lagen (für die Anklageschrift habe ich mich nie interessiert). Ich wollte Gertraud besuchen, ihre Situation erfahren, etwas tun. Und dafür brauchte ich Dich – so lernten wir uns kennen. Präzise, freundlich und gelassen kamst Du mir vor. Das brachte mich auf. Schließlich war ich außer mir und deshalb zu Dir gekommen.

Kurz danach durfte ich Gertraud besuchen. Nie zuvor hatte ich ein Gefängnis von innen gesehen. Ich wusste nichts von Anstaltsordnungen, Besuchsregeln, Wächtern. Es war auch egal. Gertraud wurde nicht als gewöhnliche Gefangene behandelt, sie war eine „Politische“ und ihre Haftbedingungen entsprechend: ohne Kontakt zu Mitgefangenen, allein in der Zelle, keine Geräusche von außen, Zeit hatte jede Bedeutung verloren, denn ständig brannte eine Neonröhre. Die Isolationsfolter empfand sie so und litt monatelang unter rasenden Kopfschmerzen, bis der Anstaltsarzt ihr endlich Medikamente gab. Ähnlich langwierig war der Kampf um eine Wolldecke, da sie immer fror.

Immerhin – wir durften sie besuchen, wenn auch unter würdelosen Bedingungen. Vor jedem Besuch musste ich mich nackt ausziehen. Es regte mich unerhört auf, ich fühlte mich ohnmächtig und sehr einsam. Alle unsere Besuche wurden von zwei Beamten des Landeskriminalamtes überwacht. Sie schrieben eifrig und protestierten, wenn wir zu leise sprachen. Wir sagten dann gar nichts mehr und fassten uns einfach nur an – Trennscheiben gab es noch nicht – so konnten wir uns wenigstens spüren.

In dieser Zeit war ich der bewaffneten Linken ziemlich nah. Wer bei TRIKONT arbeitete, war gewöhnt, alle zu Wort kommen zu lassen, die sonst keine Stimme haben. Dass plötzlich verknöpfte Intellektuelle, unsere schwierigsten Autoren, die wir am meisten liebten, bewaffnet im Verlag erschienen, wunderte mich doch.

Und Gertraud? Nach zwei Jahren Untersuchungshaft kam es endlich zum Prozess. Ich erinnere mich, dass Du mir fröhlich und souverän erklärtest: „Ich bin sicher, nach dem Prozess ist sie frei.“

So war es, und meine Besuche bei Dir hörten auf.

In den folgenden Jahren konnte ich mit den Aktivitäten der Linken wenig anfangen – ich beteiligte mich kaum mehr daran. Auch sonst hatte ich keinen Streit, zu dem ich einen Anwalt gebraucht hätte. Bis Anfang 1993.

Ich archivierte seit Jahren alle Bestände des inzwischen aufgelösten TRIKONT-Verlags sowie Material der lokalen Opposition in München seit Mitte der sechziger Jahre.

Eines Tages kam es zu Auseinandersetzungen mit dem etwas eigenwilligen Ex-TRIKONT-Verleger. Es ging um TRIKONT und dianus, Politik und Esoterik also. Der Verleger machte mir bittere Vorwürfe, dass ich zu sehr um Politik bemüht sei und die Esoterik vernachlässige. Tatsächlich habe ich zu der Welt, in der sich Hexen und Zauberer tummeln, nie Zugang gefunden. Es kam zum Eklat. Der Verleger wollte alles Material, das er mir überlassen hatte, zurückhaben. Falls ich mich weigern sollte, würde er mich wegen Unterschlagung anzeigen. Natürlich weigerte ich mich. Und nahm seine Drohung ernst.

Wenig später saß ich Dir in Deinem Kanzleizimmer gegenüber. Meine Geschichte amüsierte Dich. Ich fand es herrlich, dass Du sagtest: „Du glaubst doch nicht, dass er einen Staatsanwalt findet, der sich für die Bestände eines bankrotten Verlags interessiert.“ Dein Vorschlag war, unsere private Beschränktheit (Verlegerehepaar mit Archivarin) aufzugeben und befreundete Münchner Projekte – BASIS Buchhandlung, Seidlvilla und das Archiv der Münchner Arbeiterbewegung – an unserem Archiv zu beteiligen und eine Art Beirat zu gründen. So geschah es, inzwischen sind wir neun, und Du hast uns die Satzung geschrieben.

Aus dem Putschversuch eines tobenden Verlegers hast Du einen Verein gemacht.

Das kannst Du.

Und dafür mögen wir Dich.

Grüße, Wünsche, Komplimente
Christine Dombrowsky


Weltweit auf Ihrer Seite – Die Welt auf Deiner Seite. Festschrift für Hartmut Wächtler zum fünfzigsten Geburtstag, München 1994, unpag.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Militanz