Materialien 1974
Wer ist Roland Otto?
In den letzten Jahren wurde jeder Weg geebnet, um Genossen, die in ihrer politischen Lebensgeschichte über die Grenzen des staatlich verlangten Wohlverhaltens hinausgingen, zu kriminalisieren. Gesetze, Gesinnungsurteile, Polizeiapparat und Medien liegen dabei auf einer Linie und die hilflose Reaktion der Linken, nämlich Verunsicherung und Angst, segnet diese staatliche Reaktion ab.
Einem Genossen, der sich als Teil einer revolutionären Bewegung versteht, kann durchaus ab einem bestimmten Zeitpunkt die Wahl der Waffe aufgezwungen werden. Warum und weshalb aber dieser Entscheidungszwang – das wird nicht hinterfragt, die Waffe selbst wird zum Kriterium für: Mörder, Killer, Terrorist, Phantom.
Dass die bürgerlichen Medien sich nicht scheuen, Linke als Killer und Mörder hinzustellen, ist klar. Es ist daher unsere Aufgabe, diesem Horrorbild vom Un-Menschen die Wirklichkeit entgegen zu setzen: den Menschen und Bruder zu zeigen. Zu zeigen: er ist einer von uns – nicht gegen uns.
Roland Otto wurde 1950 in Wertheim geboren und wuchs dort in einem Stadtteil auf, der um diese Zeit herum neu entstand und in dem ausschließlich Flüchtlinge aus der DDR, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei lebten. Geflüchtete Glasindustrielle aus Thüringen bauten in der Gegend eine Glasindustrie auf – die Flüchtlinge stellten das Potential an Arbeitskräften. Auch Rolands Eltern und sein Bruder arbeiteten dort.
Bereits im Kindergarten erlebte Roland die besonders schlimme und elende Lebenssituation der Flüchtlinge; er sah, dass nicht alle Kinder – so wie er – warme Winterkleidung hatten, dass nicht alle Kinder – so wie er – Raum und Platz zum Spielen hatten. Er erlebte das Verbot, mit anderen Kindern zu spielen, weil sie „Pack“ und „schlechter Umgang“ sind.
Dann in der Grundschule: das Märchen von den gleichen Bildungs- und Aufstiegschancen erwies sich sehr schnell als das, was es war: eine brutale Phrase; die wenigsten Eltern brachten nach der Arbeit noch die Kraft auf, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen, überhaupt sich um sie zu kümmern. In den Wohnblockgettos gab es so gut wie keine Möglichkeiten für die Kinder zu spielen. – In der Schule war die soziale Herkunft ausschlaggebend dafür, wer „gut“ und wer „schlecht“ war. Am Ende der vierten Klasse trennten sich die Wege: die „guten Schüler“ sollten nun in der Höheren Schule, die „schlechten Schüler“ aus den grauenhaften Wohnblöcken sollten in der Fabrik diszipliniert werden.
1961 kam Roland auf das Humanistische Gymnasium. Er erlebte die Kleinstadt, das heißt er wurde Mitglied des Tischtennisvereins, der evangelischen Jugend usw.
Die 1965 hereinbrechende Beatwelle veränderte jedoch das Leben in der Kleinstadt und in den Familien schlagartig. Für die Schule wurde nur noch das Nötigste gemacht, nicht Cäsar und Pythagoras zählten, sondern die Beatles und die Rolling Stones. Die Konflikte in den Schulen und Elternhäusern häuften sich. Die Jugendlichen wurden zur Minderheit, an der sich die „rechtschaffenden“ Bürger abreagierten. Die jugendlichen Beatfans suchten Verbündete und fanden sie in den Unter- und Oberprimanern, die den Bürgern ebenfalls nicht ganz geheuer waren. Nachmittags standen sie an irgendwelchen Ecken, redeten über Sokrates und Brecht und diskutierten über Politik. Das Bündnis zwischen jugendlichem Aufbegehren und politischem Engagement kam zustande.
Politische Arbeitskreise wurden gebildet, eine Schülerzeitung herausgegeben, bei der Roland Chefredakteur war. Das Attentat auf Rudi Dutschke, die Osterunruhen 1968, der Vietnamkrieg, die NPD – das waren die politischen Inhalte der Artikel.
Wegen einem Flugblatt gegen die Notstandsgesetze kam es dann zum Eklat. Einem Lehrer, der das Flugblatt mitunterschrieben hatte, wurde mit einem Disziplinarverfahren gedroht, die Schüler erhielten einen Verweis von der Schulleitung.
Roland war den Auseinandersetzungen in der Schule und im Elternhaus auf die Dauer nicht gewachsen. Nachdem ihm ein Schulverweis angedroht wurde, verließ er Anfang 1969 Wertheim und ging nach München. Dort schrieb er sich im Herbst in das Presse-Lehrinstitut ein.
Er machte mit seinen Kommilitonen und Dozenten die Erfahrung, dass sie konsequenzlos blieben. Sie waren zwar teilweise auch davon überzeugt, dass die Massenmedien einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Herrschaftsordnung in den Industrienationen leisten. – Eine Konsequenz, welcher Art auch immer, zogen sie aber aus dieser Erkenntnis nicht.
Politisch eindeutige Aussagen zu treffen mag zwar der Anspruch der bürgerlichen Presse sein. Sie sind aber verpönt oder gar unmöglich, wenn es sich um solche handelt: Vietnamkrieg ist Völkermord; Griechenland ist ein faschistischer Staat; das Elend der Dritten Welt hat mit dem Imperialismus der USA und der BRD ursächlich zu tun.
Roland war für seine Kommilitonen ein unverbesserlicher „Idealist und Spinner“. Er hielt es nicht aus, dass sie trotz aller Kritik die Zensur in der Presse akzeptierten, dass sie keine Konsequenzen zogen aus dem, was sie zusammen erkannt hatten. Roland brach das Studium ab.
In der Folge arbeitete er ganztägig als Transportarbeiter an der Oper und besuchte abends die Hochschule für Politische Wissenschaft. Er sagt zu dieser Zeit:
„Die Arbeit an der Oper brachte mir die endgültige Erkenntnis, dass alles, was uns quält, peinigt, dass alles, worunter wir leiden, den Ursprung in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hat.“
Die Ereignisse im Ausland und die Situation in der BRD, alles verlangte nach politischer Eindeutigkeit und nach politischem Handeln – und das in einer Zeit, in der die große antiautoritäre Bewegung zusammenbrach und sich die Linke in Grüppchen und Zirkeln organisierte. Die Macht des Kapitals wurde brutal klar, ebenso wie die eigene Ohnmacht – eine Ohnmacht, die unerträglich ist. Gerade diejenigen, die den Freiraum der studentischen Spielwiese Universität verließen und nun versuchten, autonome Stadtteilarbeit zu machen, mussten an Grenzen geraten. Zu reden und zu denken war der Linken noch nicht verboten, sie war noch nicht kriminalisiert; politisch zu handeln jedoch wurde unmöglich gemacht, denn es gab keine Massenbewegung mehr und Mittel wie Geld, Räume für Projekte usw. schon gleich gar nicht. Wer sich nicht in den Parteigruppen organisieren wollte, musste sich eine neue Basis schaffen, musste sich neue politische Aktionsformen überlegen.
Der Versuch, antiautoritäre Inhalte aus der Bewegungen der 68er Jahre zu erhalten, schlug sich nieder in neuen Lebensformen, in Kommunen und blieb am klarsten erhalten in der Kinderladenbewegung. Roland Otto arbeitete bis zum Banküberfall mit anderen Genossen aus seinem Lebenszusammenhang in einem Schülerladen. Wesentlich war, dass der Schülerladen kein studentisches, sondern ein Stadtteilprojekt war. Dies hieß: alle, die im Schülerladen arbeiteten, mussten ihren Lebensunterhalt mit Jobben verdienen, es gab keine Geldmittel für den Schülerladen selbst. Denn die Eltern der Kinder waren nicht in der Lage, regelmäßig Beiträge zu zahlen. Das konkrete Wissen, was eigentlich zu tun notwendig ist, und die konkrete Unmöglichkeit, Projekte langfristig aufrechtzuerhalten, führte zu der Frage, die auch schon Brecht formuliert hatte: „Was ist krimineller, eine Bank zu besitzen oder eine Bank zu enteignen?“
Am 13. April 1971 überfielen Roland Otto, Margit Zcenki, Rolf Heißler und Karl Kuhn bewaffnet die Filiale der Bayrischen Hypothek und Wechselbank in München am Frankfurter Ring. Sie enteigneten 54.000 DM, Margit und Rolf konnten vorläufig entkommen, Roland und Karl wurden unmittelbar danach verhaftet.
Nach fast einem Jahr U-Haft, von dem sie über vier Monate in totaler Isolation verbringen mussten, wurde der Prozess gegen Karl und Roland eröffnet. Roland versuchte, seine politische Lebensgeschichte bis hin zu der Konsequenz Bankenteignung klarzulegen – ein Unterfangen, das natürlich am Rechtsbegriff der Klassenjustiz scheitern musste. Selbst im Urteil spricht die Justiz noch davon, dass die Klassenherkunft als politischer Fakt nicht zählt (denn wir leben ja in keiner Klassengesellschaft), dass die Klassenerfahrung, die Roland als Kind und Jugendlicher machte, nicht von Bedeutung sei für seine politischen Entscheidungen.
Roland bekam vier Jahre und vier Monate Gefängnis aufgebrummt. Im Urteil war weiter davon die Rede, dass er „schädliche Neigungen“ besitze, dass er „die Verschärfung des Kampfes für das Fernziel der Gerechtigkeit zwischen allen Menschen selbst durch Gewalttaten, die gegen Menschen gerichtet sind,“ durchzusetzen versuche.
Die Justiz spricht im Urteil von einer Schaltpause, die wichtig sei, denn im „Falle einer vorzeitigen Entlassung würde Roland dort weitermachen, wo er aufgehört hat.“ Als Schaltpause war der Knast gemeint, mit dem der politische Gegner eine Zeitlang ausgeschaltet werden sollte.
Roland war vom April 1971 bis April 1972 in Stadelheim in München. Im April 1972 wurde er in den Jugendknast Ebrach verlegt und dort wieder vier Monate von den anderen Gefangenen isoliert. Über sein Knastdasein schrieb er damals:
„Was klar ist: unsere Praxis im Knast, allein die Tatsache unserer Existenz, sind gewissermaßen eine permanente Kritik an Passivität, Konsumverhalten und Ängstlichkeit. Unsere Praxis, das ist nicht nur, dass wir im Knast tagtäglich der brutalen Unterdrückungsmaschine erbitterten (individuellen) Widerstand entgegensetzen müssen, sondern das bedeutet auch Knastkampf. Und dieser ist keine fixe Idee, die unserer Situation entsprungen ist, weil es womöglich ‚leichter’ ist, im Knast zu hocken, wenn man irgendeine ‚Aufgabe’ hat. Sondern das ist Praxis, die darauf abzielt, dass die Politisierung vor den Knasttoren nicht halt macht; die darauf abzielt, denjenigen die schon vor dem Knast ein politisches Bewusstsein hatten – und nicht deshalb, weil sie viele Bücher gelesen haben, sondern weil sie von Geburt an ausgebeutet worden sind und dies bewusst erlebt haben – mögliche Perspektiven für den Kampf draußen aufzuzeigen und mit ihnen zusammen zu erarbeiten; sie schon im Knast an ständige und politisch kontinuierliche Arbeit zu gewöhnen.“
Im Juni 1972 beteiligte sich Roland am Hungerstreik gegen den Ausschluss von Rechtsanwalt Schily als Verteidiger Gudrun Ensslin. Ende 1972 trat Roland zum zweiten mal in den Hungerstreik, weil im Jugendknast Ebrach monatelang Kriegsspielzeug hergestellt wurde. Dieses kam ihm angesichts der Massenbombardierung Vietnams als blanker Hohn vor …
Anfang Februar 1973 kam Roland in Strafhaft, nachdem die Revision verworfen war. Er saß weiter in Einzelhaft, arbeitet in der Zelle, hatte nur einmal in der Woche Sport. Normale Strafgefangene haben täglich Umschluss, das heißt Kontakte, Gespräche und kontinuierliche Beziehungen sind möglich. Die Zellenarbeiter befinden sich in einem extra Gefängnistrakt und sind von anderen Gefangenen isoliert. Hofgang findet nur in einem separaten und sehr kleinen Hof statt.
Roland stellte im April 1973 den Antrag, im Innenbetrieb zu arbeiten, dies wurde vom Anstaltsleiter Ruderisch abgelehnt mit der Begründung: Es bestehe die „Gefahr der Agitation“.
Eine Arbeitsmöglichkeit am Versorgungszentrum des Gefängnisses lehnte Roland ab, weil er es nicht verantworten konnte, am Bau eines Gefängnisses für sich und andere beteiligt zu sein.
Roland Otto hat während seiner Haftzeit dreimal Urlaub erhalten, und zwar vom 29. Juni bis 7. Juli 1973; vom 25. Oktober bis zum 2. November 1973 und vom 3. Januar bis zum 7. Januar 1974. Ein ziemlich ungewöhnlicher Vorgang, wenn man bedenkt, dass Roland zum Kreis der Münchner Stadtguerilla gezählt wurde; wenn man weiterhin überlegt, dass seine innere und äußere Einstellung im Knast keineswegs Erkennen ließ, dass er sich den bürgerlichen Justizvorstellungen von „Resozialisierung“ beugen wird.
Man könnte die Theorie aufstellen, dass der Urlaub eines eindeutig , „linksextremistischen“ Gefangenen ein Fehler in der Maschinerie des Verwaltungsapparates gewesen sei.
Sicher ist, dass Roland während seiner Knastzeit von Genossen besucht wurde, die später in den Untergrund verschwanden und das Interesse des Polizeiapparates groß war auf die Spuren dieser Genossen zu kommen.
Wir sind der Überzeugung, dass Roland bewusst zum Köder gemacht wurde, dass ihm alle Regel zum Trotz Urlaub gegeben wurde, die nichts anderes bezweckten als auf die Spur von illegalen Genossen zu kommen. Er wurde von den Herrschenden verplant und für uns stellt sich die Frage, wie diese Planung vorbereitet wurde.
Nach der Erschießung des Taxifahrers Günter Jendrian erkläte Ministerialrat Dr. Hubert Dietl von der Vollzugsabteilung des bayrischen Justizministeriums:
„Wir sahen keinen Grund, Otto deswegen, weil er seine Straftat politisch motivierte, anders zu behandeln als andere Gefangene, und ihm den Urlaub aus der Haftanstalt zu versagen. Dies umsomehr, als er einen großen Teil seiner Strafe verbüßt hatte.“ (SZ vom 6. Juni 1974)
Zur selben Zeit, als Roland Urlaub bekam, saß in der JVA Kaisheim der Gefangene Peter Schult. Er stellte am 8. August 1973 einen Urlaubsantrag und bekam am 27. August 1973 folgenden Bescheid:
„Der Strafgefangene S. bekämpft die herrschende Rechtsordnung aus innerer Überzeugung mit allen Mitteln. Resozialisierung bezweckt aber die Eingliederung der Straftäter in die bestehende Rechts- und Gesellschaftsordnung. Wegen dieser unüberbrückbaren Gegensätzlichkeiten erfüllt der Gefangene die in § 5, Abs. l der Urlaubsordnung für Strafgefangene und Sicherheitsverwahrte geforderte Voraussetzung nicht.“
Fünf Monate später, am 7. Januar 1974 – Roland Otto war also gerade seit vier Tagen in Urlaub – stellte S. einen neuen Antrag, da er nach einer dreijährigen Strafe am 17. Februar 1974 entlassen werden sollte. Am 30. Januar erhielt er daraufhin folgenden Bescheid:
„Dem Urlaubsgesuch des Strafgefangenen Peter Schult vom 7.1.74 kann nicht entsprochen werden. Auch seit dem letzten Bescheid vom 19.9.73 hat seine Haltung im Vollzug nicht erkennen lassen, dass er zur Mitwirkung an seiner Wiedereingliederung bereit und in der Lage ist. Der Urlaub muss ihm daher nach § 5b, Abs.1 der UO versagt werden.“
Unterzeichnet war dieser Bescheid von Dr. Ruderisch, demselben Anstaltsleiter von Ebrach, der Roland Urlaub gewährt hatte. Wie sagte doch Dr. Dietl vom bayrischen Justizministerium?
„Wir sahen keinen Grund, Otto deswegen, weil er seine Straftaten politisch motivierte, anders zu behandeln als andere Gefangene, und ihm den Urlaub aus der Haftanstalt zu versagen.“ !!!!! Für uns ist wichtig, was den Urlauben vorausging:
Seit Sommer 1973 entwickelte sich zwischen Roland Otto und seiner späteren Ehefrau Gertraud eine Beziehung, die neben den üblichen Schikanen zum Spielball der Justizwillkür wurde. Je nach Belieben (bzw. nach dem Prinzip der Opportunität ) wurden Briefe beschlagnahmt oder durch die Zensur gelassen, wurden Besuche genehmigt oder abgelehnt. Es wurde bereits zum zweiten Urlaub ein psychologisches Klima geschaffen, dass eine Entscheidung zwischen ‚in den Knast zurückgehen’ oder ‚draußen bleiben’ fast unmöglich. machte; ein psychologisches Klima, das Roland und auch seine Verlobte in die Ecke der Reaktionshaltung drängte. Beide standen vor der Überlegung, wie die Situation zu ertragen ist, und beide mussten entscheiden, wie sie sich dem Terror und der Repression gegenüber Verhalten sollten. Die Entscheidung für Roland, auch nach dem zweiten Urlaub in den Knast zurückzugehen, war eine Entscheidung, die Aufgrund der politischen Situation getroffen wurde. Denn noch konnte Illegalität nicht als die Alternative zum Knast gesehen werden. Illegalität ist zumeist noch immer identisch mit ständiger Flucht, mehr oder minder exil-politischer und psychologischer Art, Reaktionshaltung und Fremdbestimmung.
Des weiteren hätte ein Nicht-zurückgehen den gesamten Polizeiapparat auf den Plan gerufen, denn die Erwartungshaltung der Justiz war sehr eindeutig und klar geworden. Durch die Schaffung einer unerträglichen Situation meinte man, Entscheidungen erzwingen zu können. Und die Entscheidung Illegalität hätte die Kontaktaufnahme zu Genossen aus dem Untergrund zur Voraussetzung gehabt – zumindest so das Kalkül der Justiz.
Eine für Roland denkbare Alternative wäre in der illegalen Legalität gelegen – das heißt dem Leben unter anderem Namen, jedoch mit Arbeit, politischen Bezügen usw.; für eine derartige Form der Illegalität gab es jedoch keine Voraussetzungen.
Das Zurückgehen in den Knast nach dem zweiten Urlaub lehrte: Gegen die Regeln der Herrschenden und ihre Erwartungshaltung verstoßen, zieht Konsequenzen nach sich. Und hier war nicht Wohlverhalten im Sinne von pünktlicher Rückkehr in das Gefängnis die Erwartung, sondern die Erwartung war – psychologisch nahezu perfekt vorbereitet – die Illegalisierung von Roland und möglichst auch von seiner Verlobten. Die Erwartung wurde nicht erfüllt, der Terror der Willkür steigerte sich.
Rolands Kontakt zu Gertrud wurde fast vollständig unterbunden mit dem Argument, dass sie eine Genossin sei und seiner Resozialisierung im Wege steht; Briefe von Roland an seine Verlobte wurden beschlagnahmt weil sie (wohlgemerkt: seine eigenen Briefe!) „gegen die Ziele des Strafvollzuges gerichtet sind“. Im Dezember 1973 waren alle Ausdruckmöglichkeiten wie Briefe und Besuche unterbunden. Noch am 15. Dezember wies die Verlobte von Roland in einem Schreiber an die Anstaltsleitung auf die Konsequenzen aus einer derartigen Praxis hin und sagte klipp und klar, dass die Verantwortung für alles weitere bei jenen Kreisen liegen wird, die dieses Drecksspiel initiierten und durchzogen. Dennoch erhielt Roland am 3. Januar 1974 den dritten Urlaub. Von diesem Urlaub kehrte er nicht in die JVA zurück.
Rolands Entscheidung zur Illegalität war keine freie Entscheidung im Sinne von Wahlmöglichkeiten zwischen guten und schlechten Alternativen. Es war eine Entscheidung mit dem Rücken zur Wand und der Knarre auf der Brust, es war die Entscheidung, die die Herrschenden wollten und um die er nicht herumkam, wenn er psychisch überleben wollte. Seine Illegalisierung führte nicht auf die erwartete Spur zu gesuchten Genossen aus dem Untergrund, man wollte aber diese Spuren und verhielt sich anfangs abwartend. Rolands Aufenthaltsort war der Polizei zumindest die ersten Wochen nicht unbekannt – man verhaftete ihn jedoch nicht. (Verwies allerdings seitens der Anstalt die nachfragenden Eltern an Rolands Verlobte mit der Begründung: Die weiß, wo er ist.) Ebenso ließ man Gertraud in Ruhe, die sonst üblichen Hausdurchsuchungen blieben aus, die Bewachung verlief jedoch hochtourig.
Man wollte Kontakte, das war der Preis für die Gewährung von Urlauben und für diesen Preis wurden alle üblichen Rechts – bzw. Vollzugspraktiken zurückgestellt. Erst als Rolands Spur verloren und seine Verlobte noch immer nicht im Untergrund war, wurde Gertraud Will verhaftet unter dem Vorwurf der Begünstigung, Gefangenenbefreiung und der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Sie war über zwei Jahre in totaler Isolationshaft, wurde dann im Verlauf ihres Prozesses entlassen.
Mit der Verhaftung von Gertraud Will begann die offene und brutale Jagd. Günter Jendrian wurde Todesopfer dieser Hetze („in putativer Notwehr“ erschossen- ein Strafverfahren gegen des Todesschützen hat nie stattgefunden). Unzählige Hausdurchsuchungen mit MPs im Anschlag fanden statt, Unmengen Leute bekamen Ermittlungsverfahren – nun wird Rolands Illegalität und die enttäuschte Erwartungshaltung der Herrschenden Anlass zu einer Krimina1isierungskampagne von großen Teilen der Münchner Linken.
Wie Roland seit seiner Illegalität lebte, wissen wir nicht, wir wissen nur aus dem Prozess gegen seine Ehefrau Gertraud, dass er nicht in den Untergrund ging, weil er sich am bewaffneten Kampf gegen die bestehende Herrschaftsordnung beteiligen wollte – hätte er das tun wollen, wäre er bereits aus dem ersten Urlaub nicht mehr in den Knast zurückgekehrt. Er ging in den Untergrund, weil er keine Möglichkeit sah, die Zerstörung seiner ganz persönlichen, privaten Beziehung zu Gertraud Will durch die Justiz zu verhindern.
Illegalität als Entscheidung ist das Resultat eines Erfahrungsprozesses, der gekennzeichnet ist von den Machenschaften und der Repression der Herrschenden. Dennoch muss Illegalität nicht gleichgesetzt werden mit: In jeder Situation schießen; von Bankenteignungen leben; ab und an Anschläge ausführen. Illegalität kann auch heißen: Unter anderem Namen leben, unter anderem Namen arbeiten, unter anderem Namen sich als Linker engagieren. Illegalisierung kann auch Relegalisieren bedeuten – ein Versuch, der sehr schwierig ist, weil Illegale immer gejagt und gesucht werden; ein Versuch der bei Philip Werner Sauber durch die Kugel gestoppt wurde und bei Roland durch seine Verhaftung in jener Nacht auf dem Kölner Parkplatz.
Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft 5 vom Februar 1977, München, 15 ff.