Materialien 1974
Turbulente Szenen ...
ereigneten sich in der Bürgerversammlung des 5. Stadtbezirks, Maxvorstadt-Universität. Angehö-
rige der Aktion Maxvorstadt, unterstützt von Mitgliedern der DKP, empörten sich lautstark über Stellungnahmen von Versammlungsleiter Bürgermeister Müller-Heydenreich und Stadtentwik-
klungsreferent Prof. Dr. Marx zur Rede des Bezirksausschussvorsitzenden Dr. Detlev v. Cramon und zu Diskussionsbeiträgen.
Auf ein offenbar vereinbartes Zeichen hin, verließ etwa ein Viertel der rund zweihundertfünfzig Versammlungsteilnehmer unter Protestgeschrei den Saal des Schwabingerbräu. Die Aktionsge-
meinschaft Maxvorstadt hatte gelbe Stimmungskarten an die Versammlungsteilnehmer verteilt, die immer dann hochgehoben wurden, wenn Äußerungen des Bürgermeisters oder des Stadtent-
wicklungsreferenten missfielen. Das ging nicht ohne erheblichen Stimmaufwand und Pfiffe ab. In seiner Rede, die als einzige große Anklage gegen Stadtrat und Stadtverwaltung aufgefasst werden kann, vertrat Bezirksausschussvorsitzender Dr. von Cramon (SPD) die Meinung, dass „zwischen Scheinen und Sein, zwischen Wort und Wirklichkeit in der Stadtpolitik“ ein „scharfer Kontrast“ bestehe. Für die Maxvorstädter stamme das Wort von Oberbürgermeister Kronawitter, die Stadt müsse „auch und zuerst ein Platz für Menschen sein, die dort leben und sich wohl fühlen können“, aus einem alten Buch, in dem alle Kapitel mit „es war einmal“ anfangen.
Der Bezirksausschussvorsitzende setzte sich dann für die Erhaltung der „Altbausubstanz“ ein, da Wohnungen und Neubauten für viele Bürger nicht erschwinglich sind. Die Zweckentfremdungs-
verordnung müsse rigoros angewendet werden. „Die Universität darf keine Erweiterungspläne in unserem Stadtbezirk verfolgen.“ Empörend empfinde es der Bezirksauschuss, vom Stand der Ver-
handlungen zwischen Stadt und Staat nicht unterrichtet worden zu sein. Auch im Fall des Grund-
stücks am Oskar-von-Miller-Ring sei das Prinzip der „offenen Planung“ nicht eingehalten worden.1 Die Aktion Maxvorstadt schrieb darüber: „Allen Beteiligten war klar, dass diese offene Planung nichts anderes als ein zynischer Betrug am Bürger war.“
Marx antwortet.
In einer Stellungnahme zu den von Cramon und Diskussionsrednern vorgebrachten Beschuldigun-
gen gegen Stadtrat und Verwaltung wies Marx die Behauptung des „zynischen Betrugs“ energisch zurück und bezeichnete das Geschrei der wütenden Teilnehmer als „rustikalen Umgangston“. Der Krawall schwoll daraufhin derartig an, dass Marx minutenlang nicht weiterreden konnte. Sprech-
chöre, vorwiegend weiblicher Stimmen, forderten: „Marx raus!“ Das Signal zum Aufbruch wurde gegeben. Es folgten ihm etwa sechzig Leute.
Daraufhin setzte eine der übelsten Hetzen in der Münchner Presse gegen den sich artikulierenden Bürgerwillen ein, deren Gipfel ein Kommentar des Chefredakteurs des Münchner Stadtanzeigers, Erich Hartstein, bildet (mit der Überschrift „Geplanter Krach“):
„Das skandalöse, offenkundig sorgfältig auf Krach vorbereitete Verhalten von Mitgliedern der so-
genannten Aktion Maxvorstadt bei der jüngsten Bürgerversammlung für das Universitätsviertel erfordert ein rasches und wirkungsvolles Handeln des Stadtrates und des Oberbürgermeisters. Randalierern oder terroristischen Gruppen darf es nicht gelingen, die Einrichtung der Bürgerver-
sammlungen praktisch zu ruinieren beziehungsweise in linksradikale anarchistische Hetzveran-
staltungen umzufunktionieren. Die Parteien (insbesondere die Münchner SPD) sind aufgefordert, unmissverständlich zu den Vorkommnissen Stellung zu nehmen. Am 10. November 1974 ist auch in München Wahltag! In dieser Stadt herrschen nicht Randalierer oder Terroristen; in München wird nach Recht und Gesetz gehandelt – auch bei ‚Bürgerversammlungen’.“
Gewiss: ein Höhepunkt, aber auch der Beginn des Niederganges. Die Erfolge blieben aus, Resigna-
tion griff um sich. Als eine Vielzahl von Gruppen sich noch einmal – diesmal an die Schwabinger Bevölkerung wendete, um der Aufforderung nach einem Bürgerzentrum im leerstehenden Tram-
bahndepot an der Wilhelmstraße 14 Nachdruck zu verleihen, fand man kaum noch Widerhall, und der Stadtrat hatte es leicht, diese Forderung mit dem Hinweis auf die finanzielle Lage der Stadt ab-
zutun, obwohl man kurz vorher 4,2 Millionen DM für die Renovierung des Münchner Rathauskel-
lers locker gemacht hatte.
Und so wurde gegen den Willen der Bevölkerung das Grundstück am Oskar-von-Miller-Ring mit einer Bankzentrale bebaut, soll der Leopoldpark zubetoniert werden, die alten Wohnhäuser an der Leopold/Tristanstr. abgerissen und gar auf dem gerade errichteten Spielplatz an der Münchner Freiheit ein Bürohaus erbaut werden.
Nun ist also der status quo ante (vorheriger) wiederhergestellt: die Aktionsgruppen sind zerfallen oder vegetieren als Bürgervereine vor sich hin, die den politischen Inhalt aus den Augen verloren haben, noch hin und wieder über die „St. Paulisierung“ Schwabings jammern oder in Eintracht mit Abendzeitung und CSU für die Erhaltung alter Herrschaftshäuser eintreten – so geschehen am Nikolaiplatz, wo sich die Aktion Nikolaiplatz zusammen mit Architektur-Ästheten des Münchner Forums für die Rettung „einer der letzten Schwabinger Idyllen“2 einsetzt und allen Ernstes an den Stadtrat die Forderung stellt, dafür an den Besitzer, den Baulöwen „Münchner Grund“ 8,4 Millio-
nen DM zu zahlen – eine Forderung, der der Stadtrat nachkam. Allerdings scheinen gegenwärtig in der Diskussion der Gruppe die sozialen Aspekte kapitalorientierter Stadtplanung mehr berücksich-
tigt zu werden.
Eine These:
Schwabing folgt einem berühmten Stadtteil, dem Montmartre, in dem 1871 die Bürger den Auftakt zur Pariser Commune setzten, indem sie der Republikanischen Garde die Kanonen entwendeten, der aber heute zu einem einzigen neondurchflirrten Vergnügungsviertel geworden ist. Die Aktiven haben sich damals auf das linke Ufer der Seine abgesetzt und ein neues Kommunikationsnetz auf-
gebaut. Sollen wir es ihnen nachmachen und auf das rechte Ufer der lsar gehen und der Schickeria ihr Freizeitghetto lassen? Sicher, noch stimmt die Gleichung Schwabing/Maxvorstadt = Montmar-
tre nicht, noch hat zumindest die Maxvorstadt, d. h. die Gegend westlich der Ludwig/Leopoldstra-
ße, eine wichtige Funktion: Dass dem so ist, hat sicherlich zwei Gründe:
◙ einmal liegen hier die einstigen Brennpunkte emanzipatorischer Aktivitäten – Akademie und Universität
◙ zum anderen haben die massiven Proteste und Manifestationen der Aktion Maxvorstadt die Bewohner wachsam gemacht.
Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 30 ff.
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1 Hierbei handelt es sich um das so genannte „Pfefferle-Haus in der Türkenstraße 6. Zur Geschichte des Hausabbruchs vgl. Lotte und Karl Pfefferle: „Konservativ und bescheiden“ in Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998/2003, 150 ff.
2 Gemeint ist die Seidl-Villa.