Materialien 1974

Wenn sich Bürger versammeln

Münchner Stadtpolitik zwischen Beschwichtigung und Verleumdung

Durch München schwappte in der jüngsten Vergangenheit eine riesige Welle von Bürgerversammlungen (BV’s); allein fünfzehn derartige Veranstaltungen konnten wir im Verlauf eines Monats registrieren. Der Zweck solcher BV’s ist laut bayrischer Gemeindeordnung „die Unterrichtung der Bevölkerung über allgemein interessierende gemeindliche Aufgaben, insbesondere die Erörterung der den Bezirk betreffenden Angelegenheiten“.

Weiter heißt es dort: „Die BV ist berechtigt, Anträge und Empfehlungen an den Stadtrat zu richten. Über die Anträge und Empfehlungen ist in den BV’s abzustimmen … Empfehlungen und Anträge der BV’s sind innerhalb einer Frist von drei Monaten vom Stadtrat oder dem zuständigen beschließenden Ausschuss zu behandeln.“ Von diesem Recht machten die Bürger in den fünfzehn Stadtbezirken (München ist in insgesamt siebenunddreißig Stadtbezirke aufgeteilt) zahlreich Gebrauch. Sie erhoben Forderungen zur Verbesserung ihrer unmittelbaren Umgebung, dem Stadtteil und übten nicht selten harte Kritik an der Münchner Stadtplanungspolitik. Die Skala der Anträge und Empfehlungen reichte von

• verkehrspolitischen Problemen (etwa nach Ausbau des Stinklochs Laimer Unterführung oder: die Ablehnung der geplanten Stadtautobahn mitten durch Neuperlach oder: für die Nichteinschränkung des S-Bahnverkehrs) über
• Umweltprobleme (z.B. gegen den Neubau einer Müllverbrennungsanlage in Obermenzing oder den zunehmenden Flugzeuglärm in der Einflugschneise nach Riem) und
• die zunehmende Entvölkerung der Altstadtgebiete (City, Lehel) bis zur
• Errichtung von Bürgerzentren (Laim), Schul- und Ärztezentren (Allach), Kindergärten und Spielplätze (Maxvorstadt), vernünftige Grüngestaltung (Glockenbachviertel), verstärkte Altbausanierung Maxvorstadt, Lehel), sinnvolle Nutzung von unbebauten Grundstücken („nicht nach dem Prinzip der Profitgier und Gewinnmaximierung“ – aus der BV im Glockenbachviertel) und die Öffnung verschlossener Parkanlagen (Lehel).

Darüber hinaus gingen die Bürger oft nicht gerade zimperlich mit den Versammlungsleitern ins Gericht. Laut Gemeindeordnung „hat der erste Bürgermeister mindestens einmal jährlich eine BV (in jedem Bezirk) einzuberufen. Den Vorsitz in der Versammlung führt der erste Bürgermeister oder ein von ihm bestellter Vertreter.“

Und so musste sich der Münchner „Erste“ (OB Kronawitter) z.B. in Allach unter Hinweis auf seine „Beschwichtigung und Beschwörung“ bei der BV vor einem Jahr fragen lassen, „in welche Schalmei er damals geblasen habe,“ denn in der Zwischenzeit sei das Interesse des Bezirks völlig missachtet worden.

Doch nun zu den Reaktionen auf die Forderungen der Bürger: Die Münchner Tageszeitungen kamen erst gar nicht mehr mit in der Berichterstattung (die SZ berichtete z.B. erst in ihrer Ausgabe vom 30.11./1.12. über die BV im Glockenbachviertel am 18.11.(!), der Münchner Stadtanzeiger brachte gar die Stadtbezirke durcheinander). Na, ja! Doch interessanter ist die erste Stellungnahme aus der Verwaltung „SZ“ am 13.12: Eine „ungebrochene Antragswut“ wirft der Gesamtpersonalrat der Stadt in einem an OB Kronawitter gerichteten Schreiben … den BV’s vor … In seinem Antwortschreiben gab OB Kronawitter dem Gesamtpersonalrat weitgehend recht: „Auch ich sehe seit geraumer Zeit die von Ihnen angesprochene Entwicklung angesichts der verschärften finanziellen Situation als problematisch an“, schreibt er. Es sei deshalb erforderlich, dass die Antragsteller aus den Bürgerversammlungen noch stärker überprüften, ob und in welcher Form sie ihre Initiative ergriffen.

Ach, hat der jetzt schon wieder ein neues Argument gegen die Bürger? Noch im Frühjahr hatte der OB vor „zunehmender Polemisierung“ und den „überaus emotionalisierten BV’s“ gewarnt, weil die Maxvorstädter ihm die Wahrheit vor Augen gehalten hatten: „Alles, was wir erreicht haben, ist, dass die Bagger auffahren und unsere Häuser abreißen; von offener Planung keine Spur. Die Bürger werden zum Narren gehalten.“

Doch nehmen wir den Herrn OB mal beim Wort. Wie ist das nun mit der Verschärfung der finanziellen Situation? Die Personal- und Sachkosten für die Behandlung eines BV-Antrages beziffert der OB auf durchschnittlich 900 DM. Nehmen wir an, das stimmt, und nehmen wir weiterhin an, die Angabe, dass im Jahr 1973 fünfhundertachtundzwanzig Anträge auf BV’s gestellt worden seien, stimme auch, so ergeben sich daraus Kosten von 475.200 DM (die Summe ist mit Bestimmtheit niedriger, da auf den verschiedenen BV’s viele gleiche oder zumindest ähnliche Anträge gestellt werden, die in einem von der Stadt beantwortet werden).

In dieser angeblich verschärften finanziellen Situation gibt die Stadt Unsummen

• etwa für Blümchen in der Fußgängerzone aus;
• plant sie eine Fremdenwerbe-Ausstellung in Chicago (wem nützt die?)
• oder zahlt sie (ein besonderer Gag) seit 1965 jedes Jahr 144.000 DM an einen Privatmann, damit ihre Trambahn um die Ecke Perusa/Theatinerstraße fahren kann;
• oder genehmigt sie eine halbe Million Mark zur Begrünung des Scheidplatzes, den niemand benutzt, obwohl die Bürger desselben Stadtbezirks die Umwandlung des Straßenbahndepots an der Wilhelmstraße in ein Bürgerzentrum gefordert haben (Umbaukosten angeblich eine halbe Million Mark);
• oder zahlt die Stadt 2,3 Millionen Mark für zwei Grundstücke an der Erhardtstraße, um dort das Europäische Patentamt bauen zu können, obwohl die Bürger der lsarvorstadt – und nicht nur sie – gegen diesen Bau waren (sind);
• oder investiert die Stadt 2,2 Millionen Mark in den Ausbau des Fasaneriesees, obwohl die Bürger in diesem Stadtbezirk dringend weiterführende Schulen brauchen (ganz abgesehen davon, dass man schon jetzt in dem See dort ganz gut baden kann);
• oder genehmigt die Stadt 2,25 Millionen Mark für die Ausweitung der Fußgängerzone in der City, obwohl die Bürger von Haidhausen und der Maxvorstadt seit Jahren Fußgängerzonen für ihre Bezirke fordern;
• oder auch reißt die Stadt das vollkommen erhaltene Altersheim am Gasteig ab, obwohl die Bevölkerung hier ein Bürgerzentrum einrichten wollte. Der Abriss ist darüber hinaus besonders sinnlos, da frühestens in 3 Jahren hier neu gebaut werden soll (würde ein Privatmann so handeln, d.h. durchaus nutzbaren Wohnraum abreissen, so hätte er mit empfindlichen Geldstrafen zu rechnen).

Doch vielleicht ist das alles gar nicht so sinnlos, wie es zunächst erscheinen mag?

Um zu verstehen, was dahinter steckt, ein kurzer Rückblick:

Als vor Jahren (1970 – 1973) besonders im Lehel und in der Maxvorstadt immer mehr Bürgerinitiativen gegründet wurden, die massiv gegen die sich permanent verschlechternden Lebensbedingungen in ihren Stadtteilen Protest erhoben, brach Unruhe in den Reihen der Offiziellen aus, ob des sich außerparlamentarisch und außerinstitutionell zornig artikulierenden Bürgerwillens. Die SZ sprach angesichts der Lage diffamierend von „Bürgerinitiativen mit Wildwuchs“ (Überschrift eines Kommentars im Juni 1973). Man versuchte damals mit allen Mitteln den Protest zu kanalisieren. Man verwies unermüdlich auf die rechtliche Zuständigkeit der Bezirksausschüsse und die BV’s, denn die Bürgerinitiativen hätten „keinen Anspruch auf Anhörung“, da sie „nicht demokratisch gewählt worden seien und keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung darstellen“. Weiters kreierte man das Verfahren der „Offenen Planung“, erstmals angewendet im Lehel, wo man der dortigen Bevölkerung in einer Ausstellung drei „Alternativen“ für die weitere Nutzung ihres Stadtteils zur Abstimmung vorlegte. Fast neunzig Prozent (!) der abstimmenden Bevölkerung entschied sich damals dafür, dass ihr Stadtbezirk wieder „allgemeines Wohngebiet“ im Sinne des Bundesbaugesetzes werde. Diesem eindeutigen Votum konnte sich der Stadtrat nicht verschließen, auch er entschied sich für das Lehel als „allgemeines Wohngebiet“, allerdings mit der entscheidenden Einschränkung „in der Tendenz“. So behielt er sich das Hintertürchen offen, auch in Zukunft doch noch Bürobauten dort genehmigen zu können – was auch geschah, etwa in der Thierschstraße 2 und an der Ecke Oettingen/Prinzregentenstraße (Gerling-Konzern). Noch mal wendete man das Verfahren der offenen Planung für die Bebauung des städtischen Grundstücks am Oskar-von-Miller-Ring an. Auch hier war der öffentlich artikulierte Willen der Bevölkerung eindeutig: Man wollte hier ein Bürgerzentrum. Dennoch entschied sich der Stadtrat für den Verkauf des Geländes – um angeblich mit dem Geld später den Kulturpalast am Gasteig finanzieren zu können und genehmigte dem Käufer, ein Bürogebäude zu bauen.

Doch damit war klar geworden, wie gefährlich das Verfahren der offenen Planung der Stadt werden konnte, auch es musste umfunktioniert werden, ganz fallen lassen konnte man es nicht, hatte man es doch vorher als die Demokratisierung der Stadtplanung verkauft. Und so rief der OB noch zweimal zur offenen Planung auf:

- einmal bezüglich der Erweiterung der Fußgängerzone in der City,
- zum anderen für die Bebauung des Jakobsplatzes.

Hierbei durften die Bürger nun mitbestimmen, wo die Blumenkästen und die Lampen aufgestellt oder wie hoch denn nun die Bauten auf dem Jakobsplatz gebaut werden sollen. Vor wenigen Tagen hat man sich dann für den Entwurf eines Architekten entschieden, der schon seit Jahren fertig ist.

„Scheindemokratie und Ablenkung“ nannte das richtig der Münchner Bürgerrat, ein Verein fern jeglichen Verdachts der Progressivität. Doch die Münchner Bürger ließen sich nicht ablenken (und beteiligten sich erst gar nicht an diesen Projekten), sondern nahmen den Hinweis auf, sich doch an die Bezirksausschüsse und die Bürgerversammlungen zu wenden. Und nun sieht sich die Stadt einer Flut legal eingebrachter, nicht mehr zu verschweigenden Bürgermeinungen gegenüber, die präzise Forderungen enthalten. Schon einmal, im August 1973 hatte der OB gewarnt vor der steigenden „Antragswut“, der die Stadt angeblich nicht mehr gewachsen sei. Und in diesen Tagen wurde diese Warnung wieder aufgewärmt, nachdem man vorher ganz geschickt so viele BV’s in kürzester Zeit anberaumt hatte, dass auch dem letzten Zweifler klar werden musste, dass es so nicht geht „angesichts der finanziellen Situation“. Hätte man in der Terminplanung anders verfahren, nämlich die siebenunddreißig BV’s, die laut Gemeindeordnung in München stattfinden müssen (pro Stadtbezirk eine), über das ganze Jahr verteilt, so ergeben sich pro Monat drei, höchstens vier BV’s. Dann allerdings müsste man sich mit den Anträgen inhaltlich auseinandersetzen und hätte dann ja auch die Zeit dafür. Doch zur Unterdrückung von Bürgermeinung ist jedes Mittel recht.

Fazit: immer wieder Ausreden („betrachtet doch mal die finanzielle Lage“), gezielte Irreführungen („wir haben kein Geld“) oder Besänftigungen („wir geben schließlich zwei Millionen für euren See aus“), d.h. man geht durchaus hin und wieder auf bestimmte Forderungen der Bürger ein, hier ein Baum mehr, dort ein paar Blümchen, doch die Lösung der tatsächlichen Probleme der Bürger schiebt man mit wechselnden Argumenten beiseite.

Dazu noch ein abschließendes Beispiel:

In keinem Münchner Stadtbezirk gibt es so etwas wie ein Bürgerzentrum, in dem sich die Bürger treffen könnten, um zusammen ihre Lage diskutieren und gemeinsam für die Lösung ihrer Probleme zu kämpfen. In fast allen Stadtbezirken wurden in der letzten Zeit Forderungen nach diesen Zentren laut, doch in keinem wurde bisher ein solches eingerichtet. Wurde ein Neu- oder Umbau dafür beantragt, so argumentierte man mit der schlechten finanziellen Situation, stand ein Bau zur Verfügung, wie etwa in Haidhausen, wo das leerstehende Altersheim am Gasteig von einhunderteinundfünfzig Münchnern besetzt wurde, um aller Öffentlichkeit klar zu machen, dass hier durchaus die Möglichkeit besteht, leerstehenden Raum für die Bürger zu nutzen, da erklärte man, „der Stadtrat werde sich nicht vom Druck linksextremistischer Gruppen beeinflussen lassen; auch dann nicht, wenn sie soziales Interesse für Bürger scheinheilig vortäuschen“. (OB Kronawitter am 18. Februar 1974) Wenige Monate später ließ der OB das Haus abreißen. Frage: Wer täuscht hier scheinheilig soziales Interesse für Bürger vor?

Hans Rainer


Blatt. Stadtzeitung für München 37 vom 10. Januar 1975, 4 f.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Stadtviertel

Referenzen