Materialien 1975

Wer verändert die Weltveränderer?

Über Betriebsarbeit, Studium, Leben und die Politik …

SP:

Du sagst in Deinem Bericht, politische Arbeit dient zu oft dazu, psychische, persönliche Schwächen oder Probleme zu verdecken, ihnen auszuweichen. Ein altes Sprichwort sagt: Der liebe Gott schreibt auch auf krummen Zeilen gerade. Warum muss eine Politik, die etwas mit der Verdrängung subjektiver Probleme zu tun hat, unbedingt schlecht sein? Kann denn nicht trotzdem etwas Nützliches dabei herauskommen?

Gerhard Gösebrecht:

Ich sehe das Problematische dadrin – und das hab ich soundso oft erfahren, bei mir und bei anderen – wenn irgendeine Form von politischer Aktivität dazu dient, individuelle Probleme oder Probleme in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu verdecken, dann ist das erste Problem diese Überdeckung: in der Beziehung ändert sich schon mal nichts. Ich hab das bei mir so erfahren: Wenn ich in den Betrieb gehe, wenn wir damals in den Betrieb gingen, dann war das zum größten Teil Kompensation . Wir sind in einen Betrieb gegangen und haben dort allerdings eine ganz andere Realität mitgekriegt und sind dadurch dann geändert worden. Ich bin beispielsweise erst dort so weit gekommen, dass ich die Sache durchschauen kann, diese Kompensationen. Das ist die Widersprüchlichkeit: Es war zwar irgendwo Mist, in den Betrieb zu gehen, aber dann ist es gerade dieser Mist, der einen dazu bringt, ihn und sich zu erkennen.

Jeden Weg musst Du auf Umwegen gehen. Du gehst ja immer Umwege. Nun ist es ein unheimlicher Unterschied, ob Du bewusst oder unbewusst kompensierst. Was ich bei den meisten Genossen erlebt habe, ist, dass für sie Politik Kompensation ist, und dass sie das nicht wissen. Da liegt der Knacks drin. Die legen da so viel „Politik“ über ihre Probleme, dass sie da gar nicht wieder drankommen. Das, was sie treibt, ist eine ganz andere Sache, als sie selbst meinen.

Und genau das hat natürlich Auswirkungen auf ihre „Politik“.

SP:

Ein Mathematiker kann kompensatorisch ein Einstein werden und bleibt der gleiche neurotische Krüppel, der er immer war. Kann man sagen: ein Politiker kann die ganze Welt nützlich verändern und bleibt doch der gleiche neurotische Krüppel, der er immer war?

G.G.:

Meiner Meinung nach gibt es da einen Unterschied. Das muss sich im Inhalt der Politik auswirken, wenn die Politik für andere gemacht wird, wenn die anderen organisiert werden. Wenn die Leute ’ne Politik für andere machen, dann heißt das zweierlei: sie machen die Politik, zweitens: die anderen machen die Politik nicht, die wird für sie gemacht. Das kann aber nie ’ne Politik sein, die zu einer anderen, von uns erstrebten Gesellschaft führt. Die kann zwar auch was in diese Richtung vorwärtstreiben, wenn sie nämlich ihr Gegenteil hervorzwingt – so wie die Schweinereien, die die Amis in Vietnam gemacht haben, Protest und Aufstand hervorgetrieben haben. So kann die ml-Politik Autonomie-Ansprüche bei anderen erzeugen. Aber jedenfalls ist in der Politik selbst dann nichts von dem Ziel drin, das sie haben sollte.

Dann gehört ja zu dieser „Kompensations“-Politik eine bestimmte Ideologie. Die Politikmacher, die „vertreten“ irgendwas oder irgendwen, das ist die Ideologie. Sie vertreten meinetwegen die „historische Mission“ der Arbeiterklasse. Aber hat die denn überhaupt so ’ne historische Mission? Die wird entweder dazu kommen, sich ’ne neue Gesellschaft zu errichten oder sie wird untergehen, aber sie hat doch keine Mission. Wer hat sie denn geschickt?

SP:

Es geht also nicht bloß um Selbstunterdrückung, darum, dass diese Politikmacher selbst arme Säue bleiben, man muss vielmehr sehen, dass sie auch andere unterdrücken …

G.G.:

Ich meine, selbst wenn die Leute ’ne Politik für andere machen wollen – materialistisch gesehen ist doch kein Mensch so idiotisch, nur was für andere zu tun. Gerade wer Politik dazu braucht, sich selbst zu unterdrücken, seine Ängste oder Bedürfnisse, der tut nichts für andere. Das kann gar nicht sein. Da steckt irgendein Eigeninteresse dahinter, und die wissen das bloß nicht. Freilich, weit hinter dem Eigeninteresse kann dann wieder ihr wirkliches Interesse stecken, das wie jedes wirkliche Interesse auf eine bessere Gesellschaft hinzielt. Aber das ist noch mehr verdeckt. Hier ist einfach alles mehrfach verdreht, finde ich.

SP:

Meinst Du das so: Sie folgen zwar Eigeninteressen, wie sie in ihnen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen nun mal entstanden sind; wenn man aber sozusagen einen Punkt „außerhalb“ sucht, merkt man, dass diese „Eigeninteressen“ gegen ihr wirkliches Eigeninteresse gerichtet sein können. Die Politikmacher kommen nicht darauf, dass ihre _Macht_interessen auch gegen ihr mögliches Glück gerichtet sind. Ist da aber nicht in der Linken ein Selbstaufklärungsprozess im Gange? Blicken nicht viele durch das Fatale an der „Politikmacherei“ heute durch?

G.G.:

Jedenfalls: Diese Strukturen des „Politikmachens“ bergen ihr Gegenteil in sich. Auch im einzelnen Kopf. Denn die Leute, die so kompensieren, sind ja irgendwie nicht damit zufrieden. Irgendwo spüren sie auch ihre Erfolglosigkeit. Ja, sie merken überhaupt erstmal wirklich, dass sie erfolglos sind. Das bringt dann gewisse Prozesse in ihnen weiter. Und dann kommt die positive Seite des „Politikmachens“ vielleicht zum Tragen: erfolglos, erarbeitest Du Dir eine neue Identität.

SP:

Leider kann dieser Widerspruch im einzelnen Kopf auch integriert oder verdrängt werden, beispielsweise in oder mit einer ml-Organisation.

Unterm Sofa der Gesellschaft

G.G.:

Ich sehe auch nicht sehr rosig für die Zukunft der Linken, so habe ich es nicht gemeint. Es gibt neben der leninistischen Partei oder der „Rückkehr“ in die bürgerliche Gesellschaft ja sogar noch die scene, die Subkultur. Wo der Widerspruch versumpft. Wo in dem ewigen Gerede: „Ach, wie geht es uns so dreckig!“ alles kaputtgeht. Wenn die ML’er sagen: „Sumpf“, da ist was Richtiges dran. Die Leute in der scene, die matschen immer im selben Matsch herum.

Denk noch mal an Herrschaft und an das, was da an Machtbedürfnissen hinter den Politikmachern steckt. Und jetzt denk an Parolen aus dem Pariser Mai: „_Das Leben ändern_“. Bei dem Leben, wie es wirklich ist , muss jede Politik ansetzen. Das ist eigentlich platt, so etwas zu sagen. Aber es sieht so aus, als hätten manche Leute das nicht begriffen. Wenn Du jetzt das Leben veränderst, da fallen Selbstveränderung und Veränderung der Gesellschaft zusammen. Da kommt dann das Bedenken: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Aber dagegen kann man sagen: es gibt ein besseres . Man müsste als Linker eigentlich versuchen, so gut wie schon möglich und so schlecht wie noch nötig zu leben. „So gut wie möglich“ soll heißen: kollektiv das rausholen, was an guten Sachen überhaupt rauszuholen ist. Was man in unserer Gesellschaft auch immer schon kann. Wenn Du ‘s auch nicht geschenkt kriegst. „So schlecht wie nötig“ heißt: sich den Kämpfen nicht entziehen, wie das die scene meist tut. Subkulturleute, die sich den gesellschaftlichen Zwängen entziehen. Und führen dann ein Leben, das überhaupt kein anderer Mensch nachmachen kann. Was jedenfalls immer nur ’ne Subkultur nachmachen kann. Das ist kein Weg, die Gesellschaft zu verändern. Die richten sich nur einen Winkel unter’m Sofa der Gesellschaft ein. Da ist es zwar dunkel und staubig, aber man hat seine Ruhe. Statt hinzugehen und zu versuchen, das ganze Zimmer in die Hand zu kriegen, damit man drin vernünftig leben kann. Und dafür muss man erstmal in das Zimmer reingehen und sich sagen: Gut, da stehen ungewöhnlich unbequeme Holzstühle, die sind für Leute wie mich gedacht. Da setz ich mich zuerst mal drauf. Polstersessel für alle, das kommt später. Du setzt Dich also erstmal auf den Holzstuhl. Das ist dann die Basis, da kannst Du mal anfangen und sehen, wer neben Dir sitzt, hinter Dir und vor Dir. Auf genau solchen Holzstühlen, und dann kann man mal sehen, ob man damit was machen kann. Die einen versuchen jetzt also, sich ein Nest unter’m Sofa einzurichten. Andere bleiben auf den Holzstühlen sitzen und fangen ein großes Geschrei an: „Diese Holzstühle sind unbequem!“ Das wissen viele Leute längst, meist sitzen sie länger drauf als die Schreier. Die Leute ärgern sich, dass da immer einer rumquatscht, dass die Holzstühle so unbequem seien. O.k., sagen die sich, ein Stuhl ist immer noch besser, als auf der Erde zu sitzen. Da richtet sich die Aggression dann nicht gegen die Verteiler von Holzstühlen, sondern gegen die, die da immer rummotzen. Der bessere Weg wäre: hingehen und mal gucken, ob sich nicht was mit den Holzstühlen machen lässt. Das ist die einzige Ebene, wo Du jetzt den Kontakt mit den anderen Leuten kriegst. Die wissen ja, dass das heute ’ne Scheißgesellschaft ist. Die haben sich bloß deshalb damit abgefunden, weil sie nicht sehen, was sie wie ändern können. Da musst Du halt hingehen, aber das kannst Du ihnen nicht erzählen, sondern nur vor leben: was man machen kann. „Vorleben“ geht nicht in heroischer Einsamkeit, sondern nur mit den anderen Leuten. Das ist also kein gerader Weg, den Du da hast.

SP:

„.Das Leben ändern“, die Verhältnisse bequemer für uns alle machen: dabei muss man immer wissen, dass Wärter da sind, die gerade das verhindern wollen. Es ist also ein Kampf. Wie soll er geführt werden? Das ist eine Frage. Die zweite: siehst Du die Subkultur, die scene, nicht zu negativ?

G.G.:

Das Gute an der scene ist: sie versuchen ja, sich behaglich einzurichten, das ist ja der Zweck der Sache. Aber: sie versuchen es nur für sich und allein, krabbeln unter’s Sofa. Ich hab ja selbst aus subkulturellen Erfahrungen gelernt. Die scene, das ist eben weder das Richtige noch das Falsche. Die Kaderleute dagegen zerren einfach alle Leute von den Stühlen, auf denen die doch sitzen müssen , und wollen, dass die aufstehen, es noch unbequemer haben. Wenn einem die Angst vor der Arbeitslosigkeit im Nacken sitzt, kannst Du ihn nicht zum offenen Kampf gegen die Arbeitsorganisation agitieren. Der ist froh, wenn er überhaupt noch Arbeit hat. Die Leute sind froh, wenn sie überhaupt noch Stühle haben, wenn sie auch unbequem sind und sie die Stühle hassen. Aber sie brauchen sie auch. Wir Linken müssen da mit den Leuten kleine Schritte tun. Einerseits müssen wir das Leben mit ihnen führen, wie es eben für sie ist, aber andrerseits schon die Veränderung in dieses Leben hineintragen. In kleinen Schritten, aber verändernden. Gleich verändernd. Die Leute müssen gleich spüren, dass sie Vorteile davon haben. Das kann am Arbeitsplatz sein, im Wohnbereich, und das geht nur, wenn man’s von Anfang an mit den anderen zusammen macht. Und daraus entstehen dann „gesellschaftswüchsig“ Konflikte, die die Leute weiterbringen. Wie das dann auf die Dauer weitergehen soll oder wird, ist mir unklar. Das kann man nicht abstrakt oder an Beispielen beantworten.

„… weil’s einem selber stinkt“

SP:

Muss man wirklich „in das Zimmer gehen“? Also etwa in einen Betrieb, eine Stelle annehmen usw.? Kann man nicht mit anderen Genossen versuchen, ein Gegenmodell zu machen, das wie ein Lehrstück zeigt, was möglich und machbar ist?

G.G.:

Gegenmodelle haben natürlich Grenzen, wenn Du produzieren usw. willst, davon leben, musst Du Dich auch an gegebene Verhältnisse anpassen, nicht nur, wenn Du in einen bürgerlichen Beruf gehst. Der Typ im Betrieb und der im autonomen Gegenmodell, die stehen beide im gleichen Widerspruch: dass sie ihre Identität behalten wollen, aber sich auch anpassen müssen. Ich weiß das aus Buchladen-Erfahrung. Wenn Du in den Betrieb gehst, musst Du Dich gleich anpassen; beim Gegenmodell ahnst Du gar nicht, wie sehr Du Dich später an die Verhältnisse anpassen musst. Es gibt Unterschiede, aber der Widerspruch bleibt sich gleich: der zwischen Anpassung und Widerstand. Beides kannst Du nicht trennen. Die Genossen, die nur Widerstand leisten wollten, liegen heute unter der Erde oder sind im Knast begraben.

Wichtig ist allerdings, dass auch die „Gegenmodelle“ laufen, weil die Genossen dort Feuer unter’m Arsch haben. Die Linken haben so und so oft Sachen bloß aus dem Kopf heraus gemacht. Das ist ja auch so, dass die Arbeiter ein ungeheures Misstrauen gegenüber so einem bestimmten Typ von intellektuellem Revolutionär haben, der nicht unter einem ungeheuren Druck steht, der ihn vorwärts treibt, sondern quasi frei entscheidet, „das Bessere“ wählt, nämlich den Weg zum Sozialismus, und den dann einschlägt. Das ist ja auch wieder das Gute in der jetzigen Situation von verschärfter Ausbeutung und Repression, dass die Linken nämlich jetzt gezwungen sind, ihre Probleme zu organisieren, ihre Sachen durchzusetzen. Die gehen jetzt nicht mehr hin und verteilen Flugblätter an die Arbeiter; um den Arbeitern zu sagen: „He, Malocher, mach das mal anders“, sondern die sind jetzt zum großen Teil selber in der Situation, unter Druck arbeiten zu müssen, und die müssen sich jetzt gegen rigide Disziplinierungen wehren – nicht, weil das ein Merkmal des Kapitalismus ist, dass er die Leute unterdrückt und diszipliniert, wo man den Arbeitern, die das längst mitkriegen, sagen kann, dass sie hingehen und das verändern sollen, sondern weil das einem selber stinkt, weil den intellektuellen Linken ihre Lage stinkt, deswegen müssen sie jetzt hingehen und was selber machen.

An die eigenen Probleme gehst Du ganz anders ran als an die Probleme von anderen Leuten. Da hast Du viel mehr Engagement, viel mehr Mut, vor allem mehr Realismus, Du kannst Deine Sache ja besser einschätzen, und Du hast mehr Phantasie, Lösungsmöglichkeiten zu finden. Jetzt kommen ja auch die Linken in Berufe rein, man kann auch nicht mehr so leicht jobben oder man ist arbeitslos – da gibt’s dann auch noch anderthalb Millionen andere, die arbeitslos sind. Jetzt, wo das alles ihre eigenen Probleme werden, können die Intellektuellen da, glaube ich, viel mehr machen. Und das ist auch so’n Grund, warum das immer Scheiße ist, wenn sie so „für andere“ was machen. Wir haben z.B. mal vorm Betrieb Flugblätter verteilt. Wir hatten zwar ein paar Kontaktleute drin, arbeiteten aber „vor“ der Fabrik. Morgens haben wir also Flugblätter verteilt, und zwar ging es da um die Heraufsetzung der Kantinen- und Getränkeautomatenpreise in der Fabrik. Danach sind wir in die Mensa gefahren, essen, und haben da diesen Mensafraß gegessen, ohne uns dagegen zu wehren. Haben uns brav in die riesige Schlange eingereiht, haben uns den Mist abgeholt und haben ihn in uns reingeschlungen. Und sind friedlich weggegangen; Das ist vollständig absurd. Das kommt dabei raus, wenn man was „für andere“ macht.

Politik für andere, das kompensiert dann nicht nur psychische Schwächen, da werden auch äußerliche, ganz materielle Probleme überdeckt. Stell Dir mal vor, wir hätten die Energie, die wir in die Wurstelei vor dem Betrieb gesteckt haben, in die Agitation gegen das Mensa-Essen gesteckt und wären so unheimlich aktiv an der Uni geworden. Da hätte sich sicher manches anders entwickelt. Andrerseits wären wir dann nicht dazu gekommen, in den Betrieb zu gehen. Es gibt da übrigens auch für mich ein paar angenehme Erinnerungen an die Uni, so Ansätze zu einer kollektiven Gruppenarbeit, aber das war zu meiner Zeit noch ganz wenig, viel zu wenig.

Meine Zeit – denen ihre Zeit

SP:

Eine Frage dazu: „Recht auf Befriedigung von Bedürfnissen“ – warum meinst Du, Du hättest das erst als Fabrikarbeiter gehabt und noch nicht an der Uni?

G.G.:

Was ich an der Uni gearbeitet habe, war zwar beschissen, aber ich habe es mir so organisiert, dass ich kaum was getan habe. Das war 1970, da ging das noch. Ich hatte dadurch unheimlich viel Zeit zum Rumgammeln – bis zwei oder drei Uhr rumdiskutiert über Gott und die Welt, dann nächsten Tag um zwölf Uhr aufstehen, in die Mensa gehen und sehen, was für ein neues Flugblatt es gibt. Irgendwo habe ich mir da schon einen gemütlichen Tag gemacht. Nur die Uni selbst, die blieb ja ein Teil meines Lebens, die war beschissen. Und die andere Zeit habe ich einfach so rumgehangen, ich hatte keinen anderen Bezugspunkt außer der politischen Aktivität. Und beides hängt eben zusammen, die Uni als beschissene und das Rumhängen am Tag. Ich hatte weniger Freizeit, weil es keine akzeptierbare Arbeit gab. Und das war bestimmt nicht nur bei mir so, das ist den anderen auch so gegangen. Sämtliche Genossen, die ich kenne, haben dasselbe Problem gehabt. Auch welche, die weiterstudiert, Examen gemacht haben oder heute Lehrer oder sowas sind. Die haben so rumgehangen und rumgekadert, hier was gemacht, dort ein Flugblatt geschrieben, ein paar Kontakte aufgenommen und dieses und jenes, und waren doch abends nicht zufrieden. Die waren nicht müde, die hatten sich nicht müde gearbeitet, sondern nur kaputtgearbeitet.

SP:

Aber manche Genossen sagen, dass sie gerade die Arbeit im Betrieb so kaputt gemacht hat, dass es danach nichts mehr war mit der „Befriedigung von Bedürfnissen“.

G.G.:

Wie lange waren die im Betrieb? Anfangs, da konnte ich auch gar nichts machen. Vielleicht noch ein paar Bier trinken. Aber andere Male, da bin ich plötzlich aus dem Betrieb rausgekommen, nach der Arbeit, und wusste ganz genau, was ich wollte. Dabei, ich hab „Massenarbeit“ gemacht, also repetitive Teilarbeit, wie man das nennt.

SP:

Aber dann hast Du doch bald gemerkt, dass es nicht hinhaute mit der Betriebsarbeit, wie Du in Deinem Bericht schreibst.

G.G.:

Na, so war es ja nun auch nicht, ich war ja doch – wie lange ,war ich in der Fabrik? Anderthalb Jahre etwa.

SP:

Im Rahmen einer Gruppe?

G.G.:

Ja. Ich wusste ja, dass ich Genossen hatte. Und ich bin ja auch mit politischen Plänen dahin gegangen. Die Maloche, die war so entfremdet und so blöde, die konnte ich einfach so machen und dabei nachdenken. Die politischen Ideen, die ich so habe und die ich jetzt äußere, die hab ich zum größten Teil an der Maschine entwickelt. Denn wenn man auch unter den Kollegen zusammen redet, man redet ja nicht acht Stunden zusammen. Da werden auch mal zwei, drei Stunden keine Worte gewechselt, außer „Pass doch auf!“ oder sowas. Ja, da hab ich gearbeitet und an vollständig andere Sachen gedacht. Die Arbeit, die haben die Hände allein gemacht, es waren ja bloß ein paar Handgriffe, immer dieselben. Und wenn ich mir was ausgedacht hatte, bin ich auf’s Klo gegangen, hab einen Zettel aus der Tasche geholt und mir das aufgeschrieben.

SP:

Hättest Du das nicht auch als Student machen können – alle paar Stunden auf einen Notizblock schreiben, was Dir durch den Kopf geht?

G.G.:

Als Student, da war der Zusammenhang mit meinem Leben ein anderer. Als flippiger Student hab ich mir auch Sachen aufgeschrieben. Solange ich kritisch bin, „politisch“, so lange mach ich mir auch schon Notizen. Es ist interessant, wie sich die Notizen dann in der Fabrik geändert haben. In der ersten Zeit, im Studium, hab ich mich mit mir selbst beschäftigt und hab so pipapo über Politik geschrieben und sehr viel über Kunst und Literatur. Dann kam die Zeit, wo ich mich kadermäßig organisierte, wie das damals so schön hieß – da sind die Sachen über mich fast ganz weggefallen. Die Sachen über Kunst und so, soweit die nicht auf der korrekten Linie waren, sind auch weggefallen. Meine Notizen beschäftigen sich mit Organisationsproblemen und theoretischen Problemen, die in der Organisation gerade aktuell waren. Die hatten aber fast niemals was mit mir zu tun. Dann im Betrieb hat sich das langsam gewandelt, da kommen immer wieder mehr Sachen über mich, und die politischen Sachen wandeln sich von abstrakten Themen zu konkreteren Sachen – nicht mehr „Theorie-Praxis-Verhältnis“ i.a., sondern: „Wie kann man im Betrieb was machen, wo doch die Arbeiterklasse im Betrieb gespalten ist?“ Die Funktion der Meister in der Hierarchie, aber auch Allgemeineres, daraus entwickelt. Aber das Wichtigere ist, wie sich mein Denken in der Fabrik geändert hat. Ich hab sowohl über andere Sachen nachgedacht, als auch anders über die Sachen nachgedacht. Ich bin viel mehr zu meinen Sachen gekommen, zu dem, was mich politisch anging.

Wisst Ihr, als Student hab ich die Uni abgelehnt. Ziemlich schnell. Das war nicht meine Sache. Und eigentlich hab ich mein Leben so geführt, dass auch mein Leben nicht meine Sache war. Ich hab gegessen, weil man essen muss. Ich hab nicht gegessen, weil’s schmeckt. Und dann im Betrieb: Ja, da war auch Druck, aber die Sache war so, dass der Druck so viel mehr von außen kam, während der Druck an der Uni zum Teil aus mir selbst kam: jedenfalls hat er in mir was zum Klingen gebracht, sich in mir durch mich selbst verstärkt. Während der Druck im Betrieb Gegendruck in mir hervorgerufen hat. Da hab ich mich gegen den Druck gewehrt.

Versteht Ihr, das hat nichts in mir zum Klingen gebracht. An der Uni hab ich mich mit dem auf mich ausgeübten Druck identifiziert, von der Zielsetzung her: Wissenschaft, pipapo, willst Du ja auch. Da musst Du halt durch. Und das ist dann zerbrochen.

SP:

Du hattest also den Druck zum Teil verinnerlicht.

G.G.:

Das hab ich bei wirklich allen studentischen Genossen gesehen, das war bei allen wirksam, dass die immer mir dem Problem rumlaufen: „Eigentlich müsstest du jetzt noch was tun.“ In der Fabrik dagegen ist genau getrennt: meine Zeit nach Schichtschluss und denen ihre Zeit im Betrieb. An der Uni, als Student, da könntest du 24 Stunden am Tag entfremdet büffeln. Es wird ja von dir als Student auch verlangt, dass du dich mit dem Unizeug identifizierst, weil das ja angeblich deine Sache ist, du selbst willst ja Wissenschaftler werden. Die Studenten, gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften, haben ja die „Selbstverwirklichung“ drin oder drauf. Wenn du Arbeiter bist: sag dem Arbeiter mal, Du montierst hier 86 Hinterräder in der Stunde, um Dich selbst zu verwirklichen! Dem Studenten bei seinem entfremdeten Kram kannst Du das sagen, der sagt sich das an der Uni selbst. Der Arbeiter schmeißt Dir das 87ste Hinterrad an den Kopf. Gerade bei denen, die man Massenarbeiter nennt, da herrscht ja überhaupt Ablehnung von Arbeit. Da herrschen so Parolen wie: „Kaputt – egal, Hauptsache Stückzahl!“ Scheiß auf Qualität, Hauptsache, das Zeug kommt noch durch die Kontrolle, und du fällst nicht gerade auf. Bei den Facharbeitern ist das ja schon wieder anders. Etwa bei den Reparaturarbeitern, die sich ja echt geistig mit ihren Problemen auseinandersetzen. Die Typen, die Facharbeiter, die entwickeln da Spaß dran: Wenn du so echt an komplizierte Maschinen rankommst, wenn du merkst, dass du deinen Grips anstrengen musst, um dahinter zu kommen, und wenn du’s schaffst, da bist du stolz drauf. Ich hab aber nie einen kennengelernt, der sich mit dem, was er da im Kopf gehabt hat, identifiziert hat. Die haben das auch, wenn sie aus dem Betrieb rausgingen, abgeschüttelt. Das ist der Unterschied zum Intellektuellen. Der geht ja nirgends raus, auch wenn er aus der Uni rausgeht, da hat er zuhause auf dem Schreibtisch noch immer die Bücher liegen. Auf die Idee, sich nach Feierabend mit Fachliteratur zu beschäftigen, kommen im Betrieb nur die Intellektuellen oder die Aufsteiger. Du kannst dir schließlich nicht die Presse ins Wohnzimmer stellen, was 10 Tonnen schwer ist, das Ding, um daran herumzubasteln und auszuprobieren, wie was geht. Du kannst höchstens an dein Auto gehen, das ist was anderes. Dagegen: der Arbeitsplatz des Intellektuellen ist im Kopf, der läuft ihm überall nach.

Kopfarbeiter und herrschende Klasse

SP:

Als Student, meinst Du, kann man entweder den Druck ganz verinnerlichen oder man geht auf den trip, haut ab. In der Fabrik ist es anders …

G.G.:

Ja, und die Kopfarbeit, die geht nach einem individualistischen Prinzip. Deshalb ist es für das Kapital so schwer, die Intellektuellen zur team-Arbeit zu kriegen. Während die Maloche in der Fabrik, die ist kollektiv bestimmt. Darum kommen bei den Studenten auch so Identifikationssachen rein, der Kopfarbeiter, der will sich identifizieren, er muss sich sagen: „Das ist meine Sache.“ Wenn er das nicht täte, müsste er zugeben, dass er ebenso ein Arschloch ist wie der Türke, der am Band steht.

SP:

Die Tendenz geht aber auch bei den Kopfarbeitern zur „Industrialisierung“.

G.G.:

Das ist klar, die Tendenz geht dahin. Das ist wohl auch ein Grund für die Studentenbewegung gewesen. Die Dequalifizierung von Intellektuellen. Das wird immer schlimmer und wird wahrscheinlich noch die seltsamsten Blüten treiben. Aber irgendwann mal werden die kollektiv arbeitenden Intellektuellen usw. sagen: Wir brauchen die Kapitalisten nicht mehr, wir sind die Herren in der Gesellschaft. Das geht bei „jungen, dynamischen, positiven“ Managern schon heute in diese Richtung. Die Leute, die Dienstleistungen produzieren und die ganze wachsende Schicht der Leute, die Kontrollfunktionen in der Industrie haben, die könnten mal die Basis des „neuen Faschismus“ werden, seine Massenbasis. Die Massenbasis des Staatsapparats, des Innenministeriums. Das muss aber nicht die Basis für den neuen Faschismus sein. Genauso kann das ’ne Basis sein für so einen komischen Reformismus, der unter dem Wort „revolutionär“ segelt. Unter der Parole: Schafft die Kapitalisten ab! Und beide Tendenzen sind Ausdruck von Tendenzen des Kapitals. Es muß seine Geschäfte immer repressiver und besser organisieren, weil es immer mehr Scheiße produziert, und andererseits sind die Kapitalisten als (individuelle) Besitzkapitalisten überflüssig geworden. Bei Ford kannst Du Henry Ford ruhig rausstreichen, da läuft der Betrieb genauso weiter.

SP:

Gerade die neue Managerschicht ist aber erstens mit den Kapitaleignern versippt und verschwägert, und zweitens teilt sie deren Ideologie.

G.G.:

So wie früher der Adel zunehmend parasitär wurde und sich einen Beamtenapparat geschaffen hat, der mit dem Adel versippt war oder selbst geadelt wurde, jedenfalls mit ihm verklüngelt war, so ist es auch bei den Einzelkapitalisten und den Managern. Der Beamtenapparat ist dann zum Teil mit dem Adel unter- gegangen oder hat sich auf die Seite der neuen Klasse, der Bourgeoisie, geschlagen. Die neuen Führungsgruppen heute, die könnten zu einer Gesellschaftsform führen, die nicht mehr der klassische Kapitalismus ist, obwohl kapitalistisch, und dem sich auch die Sowjetunion ganz leicht integrieren ließe, wo es keine Besitzkapitalisten gibt, wie es sich in den „Multis“ heute schon anbahnt.

Die herrschende Klasse, so schon Marx, ist ja umso gefährlicher oder besser, je mehr es ihr gelingt, die besten Kräfte der beherrschten Klasse in sich aufzunehmen. Und da könnte jetzt die „Aufnahme“ und Umschichtung so weit gehen, dass die Grenzen absolut fließend werden, dass es keine „herrschende Klasse“ mehr gibt, deren Mitglied Du durch Geburt wirst und die Du genau unterscheiden kannst.

Was laufen soll – und keiner weiß, warum

Und noch was hab ich im Betrieb gelernt: Typischerweise gehen die Linken, an das Problem, was Theorie und was Praxis und was das Verhältnis von beiden zueinander ist, ran als an ein Problem der Theorie. Das heißt aber, einen falschen Begriff von Praxis haben. Das gilt also von Anfang an, schon für die Trennung. Man meint, das wär’ ein Problem eben von der Theorie, ist aber m.E. eins der Praxis. Ich selber hab zwei falsche Wege mitgemacht in dieser Beziehung: der eine beschränkt Praxis auf was Besonderes und ordnet der Theorie das Allgemeine zu. Das kommt in der Terminologie unheimlich gut zum Ausdruck, man sagt nämlich: „Ich mache die und die Praxis“, aber man sagt nicht: „Ich mache die und die Theorie“, sondern: „Ich mache Theorie“.

Theorie ist das Übergreifende, Praxis bloß das Besondere. Das stimmt so natürlich nicht. Und der andere Weg, den ich mitgemacht habe, das war die Ablehnung von jeder Theorie. Das drückte sich dann aus in so einem Proletenspruch, der oft in den Fabriken rumhängt: „Sag an, was ist denn Theorie? Was laufen soll und läuft doch nie. Und was ist Praxis: Frag nicht so dumm: wenn alles läuft und keiner weiß, warum.“ Das haben wir damals in unsere politische Arbeit übernommen. Nun sind die beiden Wege Sackgassen. Auf jeden Fall hat Theorie etwas mit Fragen zu tun. Und ich finde, das Wichtige ist, wonach man fragt in der Theorie. Und das muss eben aus der praktischen Politik kommen. Wobei eine Frage, die sich mit einem Stück Papier oder einer Sprechblase beantworten läßt, garantiert falsch gestellt ist.

Die Deutschen haben einen Materialismus ohne Sinnlichkeit. Der Geist denkt immer nur über den Geist. Die Materie ist für uns mehr oder weniger Dreck. Und dieser Theoriebegriff, der hängt unheimlich auch bei den Linken drin. Eine Theorie, die so praktisch ist, dass sie zur Waffe werden kann, und eine Praxis, die so theoretisch ist, dass man weiß, wohin man geht, das ist kaum zu sehen.

SP:

Du hast berichtet, dass Du Dich, angeleitet von der Theorie, zu einem bestimmten politischen Handeln entschlossen hast. Dann kamen Schwierigkeiten, aber die Theorie war so beschaffen, dass überhaupt keine Rückfragen bei ihr möglich waren.

G.G.:

Das ist eine Frage der Theorie. Ich kann mir inzwischen eine Theorie vorstellen und hab die auch punktuell erlebt, die äußerst konkret ist, die wirklich an praktischen Fragestellungen anknüpft. Wenn man die dann durch ständige Konfrontation mit Praxis weitertreibt, kommt man erstaunlich schnell zu ziemlich „hohen“ übergreifenden Zusammenhängen. Wir haben da mal ein Papier gemacht über die Arbeiteremigration. Damals gab es noch kaum Literatur darüber. Zuerst haben wir mit Fragebogen genaue Erkundigungen über die Lage in den verschiedenen Betriebsabteilungen eingeholt. Und dann waren wir sehr schnell bei Fragen der industriellen Reservearmee und ähnlichem. Das war für mich ein sehr wichtiges Erlebnis, das meine Vorstellungen von Theorie und Praxis geprägt hat.

Die Gruppe findet einen ganz anderen Zusammenhang über ein Produkt, das sie gemeinsam herstellt. Politische Arbeit ist auch Produktion. Langfristig Produktion von Gebrauchswert, dem einer lebenswerten Gesellschaft. So wie wir aber immer politische Arbeit gemacht haben, haben wir so ins Blaue hineinproduziert, das ist immer wieder weg gewesen, was wir hergestellt haben. Eben weil da so alles auseinander fiel. Da schrieb mal einer ein Papier, da konntest Du nichts mit anfangen, dann haste was mitgekriegt, also praktisch was gemacht, das konntest Du aber nicht auf den Begriff bringen. Deshalb konntest Du es auch anderen nicht vermitteln. Und in diesem Auseinanderfallen findet die Gruppe überhaupt keinen Halt oder was Gemeinsames. Denn jeder hängt doch dann nur mit seinen individuellen Problemen rum, oder jedenfalls mit Problemen, die sich individuell äußern. Theorie-Praxis, das ist das Gemeinsam-auf-den-Begriff-Bringen und dann auch wieder Gemeinsam-Anwenden.

SP:

Wenn’s so auseinander fällt, dann bleiben einerseits welche, die nur noch darüber reden, was ihnen so unmittelbar zustößt und die meinen, das sei Erfahrung; die anderen fertigen paper über alle möglichen theoretischen Fragen an, die wiederum an das, was mit den einzelnen geschieht, überhaupt nicht anknüpfen. Also: „Spontis“, die auf „unmittelbare“ Erlebnisse aus sind und auf der anderen Seite die Kapitallogiker oder die „Theoriefraktion“ – die sitzen als Narren im gleichen Boot.

G.G.:

Ja, beide haben den gleichen Theoriebegriff. Zu denken, dass es eine Theorie ohne Praxis gäbe, heißt nämlich nicht nur einen falschen Begriff von Theorie haben, sondern auch einen falschen Begriff von Praxis.

SP:

Die Spontis begreifen immerhin, dass die „Theorie“ wie sie von manchen Theoretikern gemacht wird, Praxis blockiert.

G.G.:

Ja. das ist die Erfahrung von Theorie als Herrschaft und auch als Gewalt.

Wir stehen mit Fragen da.

Mir hat sich da bald noch ein anderes Problem gestellt: wohin gehen denn die Fragen, die wir so entwickelt haben? Können wir mit den überkommenen revolutionären Theorien überhaupt noch was anfangen? Wie ist es mit der Geschichte der Arbeiterbewegung? Die Arbeiterbewegung hat viele Theorien hervorgebracht, auch viele verschiedene, und viele Linken reden von der Geschichte der Arbeiterbewegung wie von ‘ner feststehenden Sache. Es ist alles ausdiskutiert und klar, das kannst Du dann verwenden als Steinbruch für’s Häusle, das Du Dir baust. Wir müssen aber wenigstens erst mal drei Fragen stellen an die Geschichte der Arbeiterbewegung:

1. Welche Geschichte? Wer hat sie geschrieben? Wann, wo? Warum? Warum hat der gerade eine bestimmte Sache beschrieben und eine andere nicht? Wieso waren das fast immer Intellektuelle, die das geschrieben haben? Warum waren es fast immer organisierte Leute, die das geschrieben haben? Warum gibt es für ein und dasselbe Ereignis so viele Interpretationen? Haben die Arbeiter vielleicht für ihre Geschichte und ihre Kämpfe und Bewegungen auch ebensoviele Geschichten? Wir wissen doch, dass es keine Neutralität gibt, warum wird das hier nicht auch auf den Begriff „Geschichte der Arbeiterbewegung“ angewendet? Warum neigen wir so dazu, der Richtung zu glauben, die sich schließlich irgendwie durchsetzte? Könnte man nicht auch den Leuten glauben, die sich nie durchgesetzt haben?

2. Welche Arbeiter meint man? Wo liegen die Unterschiede zwischen den Arbeitern 1905 in Petersburg und denen von 1917 und dem Berliner Dreher von 1917? Die einen haben in Russland die Rätebewegung getragen, die anderen in Deutschland. Das sind dann vollkommen verschiedene Sachen, und doch wird von den Räten herumgeredet! Die Türkin aus Anatolien, die irgendwo in Deutschland am Band steht und der deutsche Schlosser, der die Maschine repariert, an der sie arbeitet? Derselbe Betrieb, dieselbe Schicht, die arbeiten für’s selbe Produkt und sind vollkommen verschiedene Arbeiter. Was heißt dann die Geschichte der Arbeiter?

3. Und welche Bewegung ist da gemeint?

Diese drei Fragen muss man ständig – an Theorie und an Ideologie, an die „Geschichte der Arbeiterbewegung“ – stellen, wenn man sich da

was rausholen will. Und da stehen wir dann zu- nächst wieder mal mit Fragen da. Aber das ist auch richtig. Denn wir sehen ja, wo die Leute hingekommen sind, die immer mit Antworten dastehen.

Wenn die Antworten, die uns die revolutionären Ideologien überliefern, wenn die richtig wären, dann stehen wir wieder mal mit ’ner neuen Frage da: wieso es den Kapitalismus dann noch gibt.

Wir müssen also unsere Fragen neu entwickeln. Von unserer Situation, unserer Erfahrung, unserer Praxis her. Denn nicht nur die überlieferten Antworten sind zweifelhaft, sondern auch die überlieferten Fragen. Die ganzen revolutionären Theorien, die müssen wir meiner Meinung nach ausschlachten, mit derselben kritischen Distanz, mit der es meinetwegen Marx und Engels mit der bürgerlichen Ökonomie getan haben. Allerdings auch mit sehr viel mehr Solidarität als die beiden. Deswegen glaube ich, dass eine revolutionäre Theorie für uns nur jenseits aller überlieferten Ideologien der Arbeiterbewegung liegen kann.

Es gibt ja folgenden Klospruch: To be is to do, J.St.MiIL, dann, dadrunter: To do is to be, J.P. Sartre, und darunter wieder: do be do be do, Frank Sinatra. Das finde ich eine Entlarvung von allem, was Ideologie ist. Da wird der Sprechblasencharakter der Ideologien so deutlich. Das sind Sprüche, die schweben über allem, sind austauschbar.

Machbar, nachmachbar, alternativ

SP:

Lass uns noch mal auf das Gegenmodell, oder allgemeiner: auf die Möglichkeit einer praktischen Alternative zu sprechen kommen.

G.G.:

Konkrete praktische Alternative, was ist das? Ich seh’s so: Dass in den Klassenkämpfen die Unterdrückten immer versuchen, gegen die herrschende Ordnung oder die herrschende Unordnung etwas gegenzusetzen. Das ist, was ich die konkrete praktische Alternative nenne. Und zwar, da kannst Du nehmen, was Du willst, ob sich die Leute in der Fabrik so verhalten, dass sie weniger Stückzahl machen oder ob irgendwelche Landarbeiter ‘ne Länderei besetzen, was man immer wieder findet, ist, dass diese Aktionen praktisch sind. Sie sind nicht ein Produkt, das der Phantasie oder dem Hirn von Weltverbesserern entsprungen ist, sondern die Leute haben das in ihrer Bewegung geschaffen als etwas, was sie wirklich machen. Das ist immer konkret, das ist kein abstraktes Modell. Das hat’s gegeben, dass sich Leute so ein Rätemodell ausgeklügelt haben, wie die Räte im Sozialismus aussehen könnten, und in der Zeit sind dann Teile der Arbeiterklasse hingegangen und haben Räte gemacht . Ganz wichtig daran ist, dass es gemacht wird. Konkrete praktische Alternative – noch einmal, was heißt praktisch ? „Praktisch“, d.i. machbar und ist nachmachbar. „Praktisch“, das ist alternativ. Die heilige Dreieinigkeit: Machbar, nachmachbar, alternativ.

Man muss sehen, einen Teil des Lebens alternativ zu organisieren. Alternativ zu dem Leben, das einem vom Kapitalismus aufgezwungen wird. Das hat sich, glaube ich, etwas gewandelt, verschoben: von den Versuchen, was alternativ zu produzieren viel stärker zum alternativen Leben hin. Die LIP-Arbeiter haben nicht nur versucht, die Produktion in die eigenen Hände zu nehmen, sondern schnell ist da was von Kindergärten, Freizeit, Informationsarbeit reingekommen. „Alternativ“ – da waren wir schon mal in unserem Gespräch – das heißt Leben verändern. Das geht eben nur in der Form der konkreten, praktischen Alternative. Da handelt es sich um einen Prozess, der in Sprüngen und mit Rückschlägen vor sich geht. Du kannst sagen: der Sieg ist ’ne Kette von Niederlagen, die Alternativen sind immer wieder mal zerschlagen worden. Das sind dann die Erfahrungen, aus denen neue Alternativen kommen werden. Es ist ganz wichtig, zu wissen, dass in diesem Prozess die Unterdrückten nicht nur Erfahrungen machen, sondern auch Blut lecken, Hunger drauf kriegen. Da werden sich nicht nur die Verhältnisse, sondern auch die Bedürfnisse ändern. Es könnte sein, dass das wichtigste „befreite Gebiet“ die Beziehungen der Kämpfenden untereinander ist. Alles andere könnte einem der Gegner wieder wegnehmen. Es ist jedenfalls das Gebiet, das am wenigsten zu zerstören ist und deshalb auch das wichtigste.

SP:

Weißt Du noch andere Beispiele als LIP?

G.G.:

Wenn man ein „besseres Leben im falschen“ lebt, dann muss das so sein, dass die Leute das auch nachmachen können. Denn sonst lockst Du damit keinen Hund hinter’m Ofen vor. Das Stärkste, was die Studentenbewegung meiner Meinung nach hervorgebracht hat – und was sich weit verbreitet, zum Teil auch unangenehme Formen angenommen hat – das ist die Sache mit den Wohngemeinschaften. Man kann sehen, wie gerade die jungen Proleten auf Wohngemeinschaften unheimlich abgefahren sind. Da hätten sie nämlich ne Alternative – mussten nicht mehr zuhaus bei den Alten wohnen bleiben und verrückt werden oder mit 20 heiraten. Die jungen Typen und auch die Frauen, die heiraten ja nur, um von zuhause wegzukommen, um für sich ein eigenes Leben zu finden. Und dann bauen sie nur einen neuen Käfig auf, wie ihre Alten. Da haben die Wohngemeinschaften unheimlichen Anklang gefunden. Ich kann beispielsweise die Tatsache, dass ich in einer Wohngemeinschaft lebe, heute im Betrieb vor einer ganzen Reihe Kollegen schon vertreten. Ist nicht mehr so wie früher, wo dann so bösartige Bemerkungen wie „Kommune, hä?“ kamen. Wenn sowas kommt, sage ich, dass ich „Kommune“ im alten Sinne auch ablehne, dass wir eine Wohngemeinschaft sind und erzähle, wie wir das so machen. Und wenn ich so erzähle, das finden die Kollegen dann auch gut, das akzeptieren sie. Es gibt auf der anderen Seite immer noch viele, mit denen Du nicht drüber reden kannst. Den anderen erklär ich’s aber auch, ich erzähle, wie es in der Wohngemeinschaft ist und sage: und das tue ich deshalb und deshalb und deshalb. Nur leider ist das ja so, dass viele Genossen auch in Wohngemeinschaften ein Leben führen, das gar nicht nachahmenswert ist. Wo sich jedenfalls das Nachahmenswerte mit dem Nichtnachahmenswerten so mischt, das es den Fremden abstößt. Der hat ja zunächst mal Abwehr, weil das ganz anders ist als das, was er selber macht. Ich selbst hab den Kollegen früher mein Wohngemeinschaftsleben nicht vermitteln können, die ganze Kaderei z.B. Da malochst Du in der Woche und politisch malochst Du abends und am Wochenende. Ja, da kriegst Du doch keinen Menschen dazu, so was auch zu machen! Die wären ja auch blöd, wenn die sowas nachmachen würden. Wo die Wohngemeinschaftsleute nicht wirklich besser leben, da können sie auch keinen dazu kriegen, das nachzumachen. Das ist eben die Sache mit den „Bequem-Sitzen“ bei Me-Ti.

Und die Wohngemeinschaften in der scene, die richten sich ihr Leben zwar ganz gut ein, aber so, dass sie wieder nicht mehr im Leben der Massen drinstecken, und dann findet man von daher den Draht zu ihnen nicht.

Und die anderen, die Politik-Kader: deren ganze Politik zeigt ja schon anschaulich, wie unfähig die sind, ihr Leben zu verändern. Z.B. ich frage einen Genossen: „Du, ich bin jetzt ziemlich lange schon raus, was ist denn so los, was macht, Ihr denn jetzt?“ Und der antwortet: „Ja, Chile ist gerade vorbei, jetzt ist Portugal dran.“ Ich hab dann unheimlich gelacht, und der hat auch ein bisschen gelacht. Er hat’s aber nicht ganz verstanden. Die sind gar nicht fähig, kontinuierliche Politik zu machen. Das hieße ja, das, was kontinuierlich ist, zu politisieren. Das ist ihr Leben. Und dann rennen sie eben rum und fangen an, die Leute zu agitieren, statt in ihrem Leben mit sich und denen etwas zu machen. Das ist ’ne Arroganz, dass man jemand agitiert – der ist Objekt.

Diese Hilflosigkeit, die geht dann noch weiter in die ganze Politik und Agitation rein. Es werden nämlich die Menschen gar nicht mehr als Menschen angesprochen. In vielen Kadersachen, da verkommen die Arbeiter geradezu zu Charaktermasken des variablen Kapitals. Das sind dann nicht mehr konkrete Menschen, die essen, trinken und bumsen, die Sorgen, Hoffnungen, Eltern, Kinder, Nachbarn und Illusionen haben, die Spaß haben und keinen Spaß, sondern die Kader brauchen die Proleten nur als Mehrwertschaffer und Mietebezahler, Kinder-in-der-Schule-Haber usw. Und wenn Du dann wirklich mit denen zusammen bist, egal wo, ob in der Fabrik, in der Kneipe oder im Fußballverein, da kommen die wirklichen Probleme raus.

Die Politisierung des Lebens, das Leben verändern, das ist wichtig. Nicht nur, dass die Leute den Veränderungs prozess erfahren und dann weiter kommen, weil sie das als lustvoll erfahren haben, sondern auch, dass sie überhaupt fähig dazu werden, irgendwann mal die Macht zu übernehmen. Wenn die Köchin den Staat lenken soll, muss sich nicht nur der Staat verändern, sondern auch die Köchin. Das ist die Bedeutung von dem, was Teile der Linken als „Selbstbefreiung“ bezeichnen, was andere Linke „subjektiven Faktor“ nennen, und in beiden Fällen wird die Sache verkürzt, einmal subjektivistisch, einmal objektivistisch.


Schwarze Protokolle 12 vom November 1975, Berlin, 17 ff.