Materialien 1975
Editorial
Diese Nummer beschäftigt sich mit dem Komplex Krise, die ein Produkt des Arbeiterkampfes ist, Arbeitslosigkeit, Nicht-Arbeit, Community und Alternativ-Bewegung. Wir hatten vor, als Einleitung zu diesen Artikeln die Diskussion, die wir in der Redaktion darüber geführt haben, in gekürzter aber wörtlicher Form abzudrucken: um die Motive klar zu machen, aus denen heraus wir auf diese Diskussion gekommen sind, und um die Fragen zu nennen, die wir jetzt schon an diesen Komplex stellen. Da es aufgrund der Zerstreutheit der Diskussion nicht möglich war, sie in ihrem Ablauf wiederzugeben, habe ich versucht, die wichtigsten Argumente aus ihr kurz darzustellen.
1.
Dass einige Linksradikale jetzt über Arbeitslosigkeit diskutieren, könnte ein Trick sein: nach dem Scheitern der Arbeiterkampf-Euphorie stürzt man sich in die nächste Euphorie. Wir denken dennoch, dass in dieser Diskussion eine Perspektive steckt. Bis 1973 – also bis zum vorläufigen Höhepunkt und Schlusspunkt des offensiven Arbeiterkampfs und zugleich dem Beginn von Arbeitslosigkeit und Krise – gab es die Betriebsintervention mehr oder minder autonomer Gruppen; der Erfolg dieser Gruppen war zwar nicht überwältigend, solche interventionistische Tätigkeit schien aber ihre Perspektive zu haben. Das änderte sich ziemlich schlagartig mit der Krise: die interventionistische Politik verlor an Boden, stieß ins Leere. Die traditionalistischen Gruppen kämpften vor Betrieben und Arbeitsämtern um das Recht auf Arbeit – ohne den geringsten Erfolg. Die autonomen Gruppen blieben ratlos und an den wenigen Initiativen wurde sehr bald deutlich, dass da was faul war; die Frankfurter Arbeitslosenbroschüre, in der immerhin vom Recht auf Arbeit nicht die Rede war, wurde ein Reinfall. Auf der anderen Seite entstanden in der BRD zunehmend Selbsthilfeprojekte jugendlicher Arbeitsloser. die immer mehr Zulauf bekamen. Irgendwie hatten also die autonomen Gruppen und Genoss(inn)en nicht begriffen, was es mit dieser Krise auf sich hatte.
2.
Wir mussten uns also über den Charakter dieser Krise klar werden. Im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise von 1929 fällt auf: diese Krise scheint zwar strukturell zu sein – sie verläuft aber ohne ein nennenswertes Absinken des Lebensstandards der Massen. In diesem Zusammenhang entwickelt Meinrad Rohner in seinem Artikel die These, dass in dieser Krise zum Ausdruck kommt, dass das Zeitalter der Nicht-Arbeit schon angebrochen ist. Das hat sehr weitreichende Konsequenzen: die Arbeitslosigkeit kann ihren negativen Charakter verlieren, als Nicht-Arbeit verstanden (die gesellschaftlich zunehmend ins Gewicht fällt) ist sie die objektive Voraussetzung für das, was heute als Selbsthilfe-Projekt beginnt, und worin wir die weitere Perspektive der Community sehen. (Zum Verstehen der heutigen Krise gehört die Diskussion über die Arbeiterkämpfe des letzten Jahrzehnts. Walter Güntheroth versucht im zweiten Teil seines Textes die Entfaltung des Verhältnisses von Arbeiterkampf und Reformismus zwischen 1960 und 1973 zu analysieren.)
3.
An dieser Stelle kommen Einwände. Diese Nicht-Arbeit sei nicht das Produkt von Kämpfen, sondern vom Kapital erzwungene Nicht-Arbeit. Es sei daher zynisch, sie umstandslos positiv zu begreifen. Und: Diese Nicht-Arbeit sei zwar wahrscheinlich strukturell, das Kapital werde aber Mittel und Wege finden, seis in offener Repression, seis mit Arbeitsmarkt-Techniken, damit umzugehen. Nun ist mit der These vom Anbruch des Zeitalters der Nicht-Arbeit nicht gesagt, das Kapital produziere und präsentiere hier die kommunistische Gesellschaft, es ist nur gesagt: es produziert einige Voraussetzungen dafür. Auf ganz praktischer Ebene zeigt sich sehr deutlich, dass diese Nicht-Arbeit nicht mehr als eine Voraussetzung ist: zwar entstehen hie und da Selbsthilfeprojekte z.B. jugendlicher Arbeitsloser, sie werfen aber für die Jugendlichen eine Masse von Problemen auf – ganz zu schweigen von der viel größeren Zahl der jugendlichen Arbeitslosen, die nicht an solchen Projekten beteiligt sind. Viel stärker als der, dem durch die ’Fabrik- oder Büroarbeit ein fester Lebensrhythmus aufgezwungen ist, ist der Arbeitslose auf seine Subjektivität geworfen; was dabei herauskommt, ist erst mal eine ziemlich kaputte scene. Die Probleme, die dabei für die (männlichen) Jugendlichen auftauchen: Geld, Frauen, Alkohol. Selbsthilfeprojekte fangen an dem einfachsten der Probleme an: dem Geld, wie man also gemeinsam materiell über die Runden kommt. Alles weitere wird sehr viel schwieriger werden – in die Richtung muss die Diskussion über die Community gehen, wenn man ernst nimmt, was Community meint: die Totalität des Lebenszusammenhangs gemeinsam organisieren. (Dazu der Artikel von Claus J. Carstensen) Hier auch stellt sich die Frage der „Intervention“ der revolutionären Linken (dazu später).
4.
Zu dem anderen Einwand: sicher wird das Kapital Strategien finden, um mit der Nicht-Arbeit umzugehen. So die Spaltung zwischen Arbeitenden und Nicht-Arbeitenden, zwischen Deutschen und Ausländern, zwischen Jungen und Älteren und schließlich ein differenzierter Umgang mit der Vergabe von Arbeitslosengeld; dazu neue Mittel betrieblicher und außerbetrieblicher Repression. Nur eins wird das Kapital nicht ändern können: dass es diese Nicht-Arbeit als Dauerzustand gibt. Durch technologische Umwälzungen des Arbeitsprozesses hat das Kapital in den letzten 150 Jahren die Arbeit zunehmend ihres Inhaltes beraubt, die Identifikation mit der Arbeit unmöglich gemacht. Das hat – insbesondere bei den Massenarbeitern – seine Konsequenz gehabt: es entstand die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Arbeit, die Fabrik war zwar despotischer als je zuvor organisiert, der Arbeiter konnte es sich aber sehr wohl vorstellen ohne (diese) Arbeit zu leben: durch die Art der Arbeit selbst wurde die Disziplin durchlöchert, offene Massenkämpfe und permanente Kampfformen wie Absentismus und Sabotage entstanden. Zwar ist es heute in den Betrieben der BRD an der Oberfläche ruhig, mit dem größer werdenden Sektor der Nicht-Arbeit aber hat sich das Kapital einen neuen Krisenherd geschaffen: die Perspektive, nicht zu arbeiten, wird immer realistischer (was auch nicht ohne Einfluss auf die bleiben wird, die arbeiten). Es wäre dabei nicht richtig, den Begriff Nicht-Arbeit einfach nur wörtlich zu nehmen: gemeint ist vielmehr die zunehmende Schwierigkeit des Kapitals, Arbeit und Arbeitsplätze auf Dauer zu schaffen. Das bedeutet nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch häufiges, erzwungenes Wechseln der Arbeitsplätze, Job-Verhältnis zur Arbeit (bei Lehrlingen genauso wie zunehmend bei Lehrern, die nicht mehr so ohne weiteres Aussicht auf eine langdauernde Arbeitsstelle haben). All das durchlöchert und zersetzt immer mehr die Disziplin, die zum reibungslosen Verlauf der Fabrikgesellschaft notwendig wäre.
5.
Einige Genossen warnen vor der Vernachlässigung des Fabrikkampfes: mit der Betonung der politischen Perspektive, die sich aus der Tendenz zur Nicht-Arbeit ergibt, würde man eine vom Kapital produzierte Spaltung – zwischen Arbeitenden und Nicht-Arbeitenden – nachvollziehen und übernehmen. Es käme vielmehr darauf an, eine Verbindung zwischen beidem herzustellen – gerade in der Situation der ungeheuren Verschärfung der betrieblichen Repression sei es fahrlässig, die Fabrik völlig aufzugeben. Hier liegt zweifellos ein großes Problem. Nur haben wir spätestens 1973 die Erfahrung des Scheiterns des betrieblichen Interventionismus gemacht und vieles weist darauf hin, dass er auch in Zukunft eine untaugliche Waffe sein wird. Wenn wir uns jetzt Community-Projekten zuwenden, dann nicht einfach nur, weil wir hier eine neue „Hauptkampflinie“ entdeckt haben, sondern auch, weil wir hier die Möglichkeit sehen, eine Politik zu machen, die nicht einfach interventionistisch ist. Wenn wir wieder ein praktisches Verhältnis zum Arbeiterkampf bekommen wollen, dann nicht mehr ein interventionistisches. Und in der Tat ist es heute richtig, das Schwergewicht unserer Tätigkeit auf Alternativ-Bewegung und Community-Projekte zu legen und uns nicht den Kopf über die vorschnelle Vereinheitlichung zweier Bewegungen zu zerbrechen. Das ist sicher ein strittiger Punkt, darüber ist zu diskutieren.
6.
Die Community hat ihre Tradition nicht bei uns, sondern in den USA; daher ist bei der Übertragung Vorsicht geboten. Denn die Community hat ihre Gründe in der spezifischen Geschichte der USA. Einmal gibt es dort schon immer ethnische Gruppen, die sich nach außen abschlossen und ihre Binnenstruktur aufbauten. Dann sind die Sozialleistungen in den USA, verglichen mit denen der BRD, unvergleichlich niedriger (z.B. medizinische Versorgung, Kindergärten): das zwingt die Leute dazu, sich selbst zu helfen. All das ist hier nicht vorhanden. Es gibt aber zunehmend Tendenzen, die die Community-Bildung auch hier möglich machen. Das betrifft in erster Linie die Ausländer, die teilweise schon Communities gebildet haben, durch die allein die große Zahl der Illegalen am Leben erhalten werden kann. Und auch unter den Deutschen gibt es ähnliche Entwicklungen: bei denen, die zunehmend vom Pauperismus bedroht sind, und bei den Jugendlichen, hier vor allem bei den arbeitslosen. Hier, wie auch in den USA, darf man den ambivalenten Charakter der Community nicht vergessen: einerseits bedeutet sie, dass die Leute ihr Leben selbst in die Hand nehmen und alternative Lebensformen entwickeln, andererseits aber nimmt sie dem Kapital auch Arbeit ab: sie leistet die Versorgung (medizinische usw.) selbst, die sie nicht vom Staat fordert, sie senkt die Kriminalität, sie produziert Arbeitskräfte (vgl. zu diesem Komplex den Artikel von Herbert Röttgen). Die Community, wie wir sie kennen, ist in sich ambivalent, man wird sich auf diese Ambivalenz einlassen müssen, es wird nicht möglich sein, ihre „guten“ Momente von den „schlechten“ zu trennen. Dennoch wird in den Communities ein vorwärtsweisendes Moment enthalten sein, wenn wir in Zusammenhang mit der Selbsthilfe immer auch die Frage der Aneignung angehen. (Über ein historisches Beispiel von Aneignungsaktionen berichtet Eckard Brockhaus.)
7.
Also ein neues Interventionsfeld der revolutionären Linken? Keineswegs. Eine der Voraussetzungen der Community ist die Ghetto-Situation einer Schicht. Ein solches Ghetto stellt die Linke dar. Sie hat also ein sehr eigenes, subjektives Interesse an der Community, in die sie ihre Bedürfnisse einbringen kann, in der sie sie organisieren kann. Und das Interesse der Revolutionäre, mehr zu werden, Initiativen sprengend werden zu lassen, könnte dazu beitragen, dass aus den entstehenden Communities mehr als befriedete Ghettos werden.
Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft 2 vom Februar 1976, München, 2 f.