Materialien 1975

Wer sind wir?

Einer von uns – erschossen!

Christian Tatzko, geb. am 31.12.1953 — Mutter bei der Geburt gestorben — in Heimen aufgewachsen — 2½ Jahre Knast — keine Ausbildung — Hilfsarbeiter — 1 Jahr Wohnkollektiv — Arbeitssuche — finanzielle Schwierigkeiten — Resignation — erschossen am 22.11.1975 von der Polizei.

Christian war über ein Jahr lang ein tragendes Mitglied des Wohnkollektivs und hat sich solidarisch für die Belange seiner Mitbewohner eingesetzt.

Was ist das Wohnkollektiv? Das Wohnkollektiv für straf- und heimentlassene Jugendliche wurde vor ca. drei Jahren von einigen engagierten Leuten, die sich „Verein für Gesellschaftspolitische Projekte“ nennen, gegründet. Es hat zum Ziel, den Jugendlichen, die sonst auf der Straße stehen würden, nicht nur ein Dach über dem Kopf anzubieten, sondern durch gemeinsames Zusammenleben eigene Sicherheit und Stabilität erfahrbar zu machen. Durch die Reaktionen der Öffentlichkeit auf Christians gewaltsamen Tod und durch zahllose Anfragen, die an den Verein und das Wohnkollektiv gerichtet wurden, merken wir, wie wenig die Öffentlichkeit über uns Bescheid weiß.

Wer sind wir? Im Wohn kollektiv leben zur Zeit elf Typen und Mädchen, die von Sozialarbeitern beraten werden. Ein fester Bestandteil unseres Zusammenlebens ist die wöchentliche Kollektivsitzung. Hier werden nicht nur die organisatorischen Sachen, sondern auch die anfallenden inhaltlichen Schwierigkeiten des Zusammenlebens gemeinsam durchgesprochen. Wichtigstes Kriterium hierbei ist die Verantwortlichkeit des Einzelnen in seinem Handeln gegenüber der Gruppe, dem Wohnkollektiv.

Wie leben wir? Eine Hausordnung gibt es nicht. Wir sprechen aktuelle Vorkommnisse gemeinsam durch und entwickeln daraus die Regeln des Zusammenlebens: Zum Beispiel verwalten und organisieren wir das tägliche Essen, organisieren gemeinsame Putzaktionen, entscheiden, wer ein- und auszieht und wie lange ein Besucher hier bleiben kann.

Was sind unsere Schwierigkeiten? Fast alle, die zu uns kommen, haben allerhöchstens den Hauptschulabschluss. Sie sind also aufs Jobben und auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen, oder müssen sich eine Lehrstelle suchen, was ohnehin schwierig ist. So war es auch bei Christian. Er wollte eigentlich die Bademeisterausbildung machen, konnte aber in dem Jahr, in dem er bei uns wohnte, trotz intensivster Bemühungen keine Lehrstelle finden. Er war letztlich auf kurzfristige Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Bei unserer täglichen Arbeitssuche merken wir auch immer wieder, dass viele Arbeitgeber uns ablehnend gegenüberstehen, weil wir aus dem Knast kommen, oder aufgrund der nur kurzfristigen Jobs oft die Arbeitsstelle wechseln mussten. Dies hat von vorneherein eine negative Wirkung — und bleibt ein ewiger Teufelskreis.

Ein großes Problem für uns ist es auch, wenn wir endlich eine feste Arbeit gefunden haben und meinen, dass wir uns selbstständig machen können, eine Wohnung zu finden. Die meisten ziehen dann in irgendeine Ein-Zimmer-Wohnung und schon nach kurzer Zeit fällt ihnen die Decke auf den Kopf. Neben den finanziellen Belastungen durch Möbel- und Hausratbeschaffung fühlen sie sich vor allem isoliert. Sie waren bisher gewohnt, mit anderen zu leben und wenn sie jetzt nicht alleine sein wollen, bleibt ihnen nur die nächste Kneipe.

Wir fänden es gut, wenn wir auch die Möglichkeit, vor allem finanziell, hätten, zu mehreren in Wohngemeinschaften zusammenziehen zu können, um die Erfahrungen aus dem Wohnkollektiv weiterzutragen.

Bisher zeigte es sich, wenn jemand auszog, dass wir ihm weder Möbel noch Geschirr noch finanzielle Überbrückungshilfen geben konnten. Deshalb sind wir auf Sach- und Geldspenden angewiesen.

Spendenaufruf: Wir brauchen Geld. Wir brauchen Möbel, Geschirr, Teppiche, Renovierungsmaterialien etc.

Um viele unserer Ideen und Vorstellungen angehen zu können, brauchen wir auch noch aktive Leute im Verein.

Kontaktadresse: Wohnkollektiv, 8 München 83, Ottlmairstraße 1, Tel. 49 59 43.
Gesellschaftspolitische Projekte e. V., 8 München 19, Birkerstraße 19.
Konto Nr.: Deutsche Bank München Nr. 58/3390 — PSchA München Nr. 260 303 – 807.


Blatt. Stadtzeitung für München 59 vom 12. Dezember 1975, 18.

Überraschung

Jahr: 1975
Bereich: Bürgerrechte

Referenzen