Materialien 1975
Kinder
In den Münchner Kinderläden tritt allüberall Resignation ein. Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Bezugspersonen läuft nicht mehr so, wie es wünschenswert wäre, und wie sie nach dem ursprünglichen Konzept der Berliner Kinderläden zu fordern wäre.
In Berlin damals 1968 fing es an. Wir Frauen hatten es satt, zu Hause zu kochen und Kinder zu hüten. Wir wollten endlich auch aktiv sein, uns emanzipieren. Da wir aber nun mal Kinder hatten, mussten die untergebracht werden. Mit der autoritären Erziehung, die in den normalen Kindergär-
ten ablief, waren wir aber nicht einverstanden. Die hätte unsere Kinder genauso kaputtgemacht wie uns selbst. Wir wollten aus diesem Kreislauf einmal heraus, wir wollten mit einer repressions-
freien Erziehung wirklich konstruktive politische Arbeit für die Zukunft leisten.
Zuerst entstanden drei Kinderläden, nach einem Jahr waren es bereits elf in den verschiedenen Berliner Stadtteilen. Um über emanzipatorische, pädagogische und politische Probleme zu disku-
tieren, trafen wir uns mindestens einmal in der Woche. Zusätzliche Arbeitskreise entstanden, die sich mit psychoanalytischer Theorie, Spielzeug, Kinderbüchern etc. beschäftigten. Der Aufbau der Kinderläden – theoretisch und praktisch – nahm uns ganz in Anspruch. Nach der öden Zeit der Passivität und Unzufriedenheit wurden wir (auch die Männer machten mit) aktiv auf einem Gebiet, das uns betraf, und dessen gesellschaftliche Relevanz sich durch die Auseinandersetzung immer deutlicher zeigte.
Unsere Erziehungskonzepte orientierten sich psychoanalytisch an Wilhelm Reich (‚Sexuelle Revo-
lution’ etc.) und praktisch an dem Versuch einer Kollektiverziehung von Kindern, der 1921 in Mos-
kau gestartet wurde und über den Vera Schmidt einen genauen Bericht geschrieben hat. Auch A.S. Neills Buch über die Erziehung in Summerhill gab uns Anhaltspunkte, obwohl es wegen seiner eli-
tären Struktur kritisch betrachtet wurde. In einem zusammenfassenden Paper des Zentralrates der sozialistischen Kinderläden Westberlins heißt es 1969:
‚Die bisherige Arbeit in den Kinderläden, wie auch die Erfahrungen in den Kommunen haben ge-
zeigt, wie außerordentlich schwierig die Selbsterziehung der Eltern zu kollektiv arbeitenden und lebenden Menschen ist. Diese wenigstens teilweise Umerziehung wird aber notwendig sein, wenn wir Kinder wirklich antiautoritär erziehen wollen. Die neurotischen Konflikte der Erwachsenen wirken sich bei den Kindern als Spielhemmungen, Kontaktschwierigkeiten, Lernversagen aus. Mindestens ebenso sehr wie neue Erziehungsmodelle für Kinder brauchen wir daher Methoden, mit denen die weitgehend noch bürgerlich-individuell strukturierte Psyche der Eltern verändert werden kann …’
Mit dieser(sicherlich richtigen) Erkenntnis machten wir uns auf, unsre Neurosen innerhalb der Kinderladen-Eltern-Gruppen zu bearbeiten. Wir spuckten – durch die Euphorie des Aufbaus ange-
törnt – sozusagen seelisch in die Hände, um unsere inneren Schwierigkeiten zu überwinden. Bei dieser Arbeit an uns selbst merkten wir bald, dass wir uns und die Gruppen überforderten. Wir übertrugen wahllos unsere Neurosen auf die Gruppenmitglieder und bekämpften in ihnen die Autoritäten unserer Kindheit. Wir kehrten unser Innerstes nach Außen und erwarteten das auch von den anderen. Dadurch wurde zwar viel angerissen, aber leider war keiner wie H.E. Richter da, der den Gruppenprozess durchschaute, die einzelnen Übertragungen auffangen und in konstruk-
tive Bahnen lenken konnte. Nach diesem ‚Seelentrip’ resignierten viele und zogen sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück.
Dass in München ungefähr das gleiche gelaufen war, merkte ich, als ich 1972 umzog und meine Tochter hier in einem Kinderladen anmeldete. Die Zeit des ‚Psychoterrors’ war vorbei, viele kom-
pensierten den politischen Anspruch der Kinderläden, indem sie ‚relevante’ politische Arbeit in Fabriken und Gruppen machten.
Für die Kinder begann die Zeit der Angliederung an die bestehende Gesellschaft. Zum Beispiel wurde die Vorschulerziehung eingeführt: So lernen die Kinder, sich länger auf ein Thema zu kon-
zentrieren, sie lernen Ordnung zu halten nach Ordnungsprinzipien der Erwachsenen, ihr Abstrak-
tionsvermögen wird gefördert. Wo sie sich früher durch sinnliche Wahrnehmungen selbst kennen lernen konnten, wird ihr Selbstverständnis jetzt durch Abstraktion verwirrt. Die Eltern halten sich mehr und mehr aus der Kinderladenerziehung heraus und überlassen alles den Bezugspersonen (BP). Die ständige Auseinandersetzung zwischen den BP’s und den Eltern fehlt. Der persönliche Kontakt wurde geringer, die BP’s unzufriedener. Sie fühlten sich und ihre Erziehungskonzepte be-
nutzt und zu besseren Kinderaufbewahrungsstätten degradiert.
Heute, 1975, wird die Diskussion immer starrer. Auf der einen Seite könnte man wohl Kritik an den Erziehungskonzepten äußern – ich finde, sie werden immer systemkonformer -, andererseits kön-nen die BP’s Kritik nur dann annehmen, wenn der emotionale Hintergrund zwischen den Eltern und ihnen geklärt ist.
Als konstruktiven Vorschlag zur Änderung der augenblicklichen festgefahrenen Kinderladendis-
kussion möchte ich die Äußerung einer Bezugsperson zitieren: ‚Die Eltern entwickeln sich an den Kindern.’ Was für mich soviel heißt wie: Sie entwickeln sich mit den Kindern und nicht auf Kosten der Kinder. Wie kann eine optimale Selbstentfaltung der Erwachsenen stattfinden? Ich meine, wir sollten die Gruppengespräche wieder aufnehmen und um nicht wieder nach dem ‚Psychoterror’ retardieren zu müssen, einen Gruppendynamiker hinzuziehen, der fatale Entwicklungen auffangen und konstruktiv umleiten kann.
Denn eigentlich ist repressionsfreie Erziehung doch immer noch unser Ziel! Der Satz aus dem Pa-
per des ZR der soz. Kinderläden Westberlins gilt bei diesem Ziel immer noch: ‚Repressionsfreie Er-
ziehung ist nur dann möglich, wenn die Erwachsenen ihre inneren Konflikte bearbeiten und damit nicht mehr auf die Kinder übertragen.’
Blatt. Stadtzeitung für München 41 vom 7. März 1975, 12.