Materialien 1975
Reform gegen Kinder
Akademiekindergarten am Ende?
Der Akademiekindergarten entstand 1968 im Rahmen der antiautoritären Bewegung. Von deren Theorie aus ergaben sich folgende Schwerpunkte für die Erziehung im KiGa: Psychoanalytische Orientierung, Kollektiverziehung, Verbindung von politischer Arbeit und Erziehung, Elternmitar-
beit, möglichst wenig Eingriffe in die freie Entfaltung der Kinder.
Praktisch sah das bei uns so aus: Den Kindern wurden wenige Beschäftigungen angeboten. Es wur-
de nur bei Gefahr für Leben und Gesundheit in die Händel der lieben Kleinen eingegriffen. Das fal-
sche, unhistorische Verständnis von „freier Entfaltung“ führte so teilweise zu einer orientierungslo-
sen Situation für die Kinder. Die psychoanalytische Orientierung lenkte teilweise vom Erkennen der Ursachen ab, da sie die Gründe allein in der Früheren Sozialisation der Kinder suchte, anderer-
seits ermöglichte sie die Anerkennung und Förderung der sexuellen Bedürfnisse der Kinder. Für die Erreichung der Erziehungsziele Solidarität und Kollektivität lagen günstige Voraussetzungen vor, da die Eltern kollektives Verhalten vorlebten. Dies war damals möglich wegen des gemeinsa-
men politischen Anspruchs der Eltern, der sich auf das gesamte Leben erstreckte, und sie zwang ihr Verhalten zu problematisieren und zu verändern. Die Kinder lernten dadurch, dass Verhalten nicht etwas unveränderliches ist, und das Erwachsene genauso Fehler machen können.
Ein kleiner Teil ihrer ohnmächtigen Abhängigkeit von der erwachsenen Umwelt bröckelte ab. Wir glaubten allerdings damals, dass dies in ganz anderem Maßstab möglich sei. Die folgende Zeit war im Wesentlichen bestimmt durch die Auseinandersetzung über den Spielraum, der einem zur Ver-
fügung steht, im Rahmen dessen wir den Kindern die Auseinandersetzung mit sich und der Um-
welt ermöglichen können. Dieser Prozess wurde beschleunigt durch die Abkehr der Studentenbe-
wegung von der Pädagogik als gesellschaftsverändernder Praxis und der damit verbundenen Ein-
sicht der eigenen politischen Bedeutungslosigkeit.
Das Problem stellte sich jetzt folgendermaßen: Wie können wir den vorgegebenen engen Spielraum pädagogisch so nutzen, dass die Kinder sich nicht völlig anpassen, sondern nach ihren Möglichkei-
ten und Fähigkeiten versuchen, ihre Situation aktiv mitzugestalten (Dies wäre eine Alternative zur üblichen Erziehung, da meines Erachtens der gleiche Spielraum vorliegt). Das heißt nichts anderes, als dass das frühere Modell in den wichtigsten Ideen beibehalten und aus den Fehlern gelernt wur-
de.
Die Schwerpunkte des heutigen Modells sind: Gruppenerziehung, geplante Gruppenbeschäftigung, Arbeitserziehung, Vorschule, Erzieherbesprechung und Elternmitarbeit.
Die Bereiche sind in der Praxis nicht zu trennen, dies erfolgt hier nur der Übersicht halber.
Die Gruppenerziehung spielt sich in festen altersspezifischen Gruppen ab (ca. zehn Kids). Im Ge-
gensatz zu früher nehmen wir jetzt gezielt Einfluss auf die Kindergruppe. Ziel der Gruppenerzie-
hung ist es, dass die Kinder ihre Gruppe nicht als festgelegte Struktur betrachten. Sie entscheiden in Gruppensitzungen und Kinderplenum meines Erachtens selbst über Regeln, nach denen sie ihr Gruppenleben gestalten, welche Gruppenbeschäftigung sie machen, wie sie Konflikte in der Grup-
pe lösen wollen. Festgelegt ist nur, dass eine Gruppenbeschäftigung durchgeführt wird. Die klei-
nen Gruppen erleichtern ihnen wegen ihrer Überschaubarkeit außerdem die Lösung von Gruppen-
konflikten und die schnellere Änderung von Gruppenregeln sowie das Erlernen der zu ihren ge-
wollten Tätigkeiten notwendigen Konzentration.
Eine Weiterentwicklung vom alten zum laisser-faire gehaltenen Modell ist die Arbeitserziehung. Ziel: Hilfe zur Integration der Kinder in die Erwachsenenwelt. KiGa-Kinder sind konfrontiert mit ihren sich entwickelnden körperlichen und geistigen Fähigkeiten einerseits, und der Erfahrung deren Unwichtigkeit in der Erwachsenenwelt. Folge: Sie zweifeln an ihren eigenen, mühsam er-
rungenen Fähigkeiten, werden unsicher, resignativ, passiv. In der Arbeitserziehung lernen die Kinder Gegenstände herzustellen oder Tätigkeiten auszuführen, die auch in der Erwachsenenwelt Bedeutung haben, das heißt, sie erfahren, dass sie selbst in der Lage sind, ihre Fähigkeiten, wenn auch nur zu einem kleinen Teil, allgemein anerkannt anzuwenden.
Um Missverständnissen vorzubeugen, Arbeitserziehung heißt nicht, dass die Kinder bei uns nicht spielen sollen. Das Spiel ist eine notwendige Tätigkeit von Kindern. Im Spiel verarbeiten sie unter Zuhilfenahme der Phantasie das große nicht zu überbrückende Fähigkeitengefälle zu den Erwach-
senen.
An die in der Arbeitserziehung erzeugten Lernmotivation knüpft die Vorschule an. Im Unterschied zur Gruppenbeschäftigung werden hier keine Gruppenkonflikte ausgetragen. Dies soll am Nach-
mittag in Gruppengesprächen erfolgen. Wir hoffen, dass sich dies im geplanten Schülerladen fort-
setzt, und das wir so ein wenig die in der Schule auftretende Konkurrenz abmildern.
Zur Elternarbeit: Durch die Abkehr der Studentenbewegung von der Pädagogik besteht kein Anlass mehr, Elternkollektive zu gründen. Andererseits sind mit der Änderung des Konzepts die pädago-
gischen Anforderungen gestiegen. Folge: Professionalisierung der Erzieher und eigene Erzieher-
konferenz. Um jedoch die notwendige Übereinstimmung der Erziehungsstile zuhause und im KiGA zu gewährleisten, initiieren wir verstärkt die gemeinsame Diskussion im wöchentlichen Eltern-
abend.
Zur Realisierung des pädagogischen Konzepts hat sich die bisherige Organisationsform des KiGA als günstig erwiesen. Der KiGa ist städtischer ModellKiGa. Er unterscheidet sich von anderen städtischen KiGas dadurch, daß der Verein, dessen Mitglieder die Bezugspersonen der aufgenom-
menen Kinder sind, ziemliche Freiheit in der Gestaltung des organisatorischen und pädagogischen Konzepts hat. Die Kinder erfahren so den KiGa als verwirklichte Selbstorganisation und freie Mit-
bestimmung. Die Trägerschaft durch die Stadt schafft den finanziellen Spielraum, um mit einem Betrag von zehn Prozent des Nettoverdienstes der Eltern Kleingruppenarbeit durchzuführen. Er hat jedoch stets eine Randexistenz in der städtischen KiGa-Politik gespielt. Ein Austausch mit den anderen städtischen KiGas kam trotz umfangreicher Jahresberichte nie zustande. Anfang Oktober 1975 wurde uns mitgeteilt, dass die Stadt den Trägerschaftsvertrag kündigen will, unter anderem weil sich das repressionsfreie pädagogische Konzept überlebt hat. (Dass wir dies längst verbessert haben, sieht die Stadt nicht.) Wir sehen die ablehnende Haltung der Stadt auf dem Hintergrund eines Interessenschwundes an dem Problem der Kindererziehung in der Öffentlichkeit. Während zu Beginn des KiGas Kindererziehung als ein Moment gesellschaftsverändernder Praxis begriffen wurde, ist heute im Zuge der um sich greifenden Resignation gegenüber jeder Änderung der Um-
welt wie der eigenen Person eine zunehmende Indifferenz gegenüber dem pädagogischen Problem festzustellen Es wird klar, dass die Stadt den KiGa nicht aus Interesse an der Pädagogik übernom-
men hat, sondern von einer kritischen Öffentlichkeit dazu gedrängt wurde.
Die geplante Kündigung reiht sich so in die Reihe der Versuche der öffentlichen Hand ein, soziale Einrichtungen abzubauen, die über die gegenwärtige miese Situation hinausweisen und den An-
spruch auf humanere Lebens- und damit Erziehungsbedingungen (zum Beispiel Kleingruppen im KiGa) festhalten. Für uns bedeutet die Kündigung zum Beispiel, dass nur noch zahlungskräftige Eltern aufgenommen werden können.
Das Schicksal des KiGA muß als ein Beispiel gesehen werden, dass alle Reformen und Reformpläne nur der Beschwichtigung dienen und sofort zurückgezogen werden, wenn die Wachsamkeit der Öffentlichkeit nachlässt.
Blatt. Stadtzeitung für München 61 vom 9. Januar 1976, 10 f.