Materialien 1975
Der Süden
Die Heranbildung bestimmter Wohnghettos ist seit Jahrhunderten das größte Alptraum von Herrschern und ihren Planungsknechten. Und deshalb versuchen sie alles, um es nicht dazu kommen zu lassen. Schon unter Napoleon III. zerstörte dessen Chefplaner Haussmann mit Brachialgewalt die Arbeiterviertel in der Innenstadt von Paris, indem er Durchbrüche durch die engen Straßen und Sackgassen schlug, ganze Stadtviertel abreißen ließ und breite Boulevards schuf – der bekannteste, die Champs-Elysees ist sein „Produkt“.
Man hatte und hat allerdings nicht allgemein etwas gegen Ghettos, sondern nur gegen besondere Ghettos, nämlich Ghettos sozialer Gruppen, die einen Gefahrenherd für die Herrschaft des bestehenden Sozialsystems bilden könnten: gegen Arbeiterviertel, gegen Negerviertel, gegen Chinesen-, Italiener-, Araber- gegen Ausländerviertel (in München zum Beispiel die Schwanthaler Höh’). Die Ghettos der Privilegierten erfreuen sich bis heute großer Beliebtheit und Förderung.
Der Münchner Süden bietet hierfür zahlreiche Beispiele: Solln, Harlaching, Geiselgasteig und Grünwald. Hier wohnen sie, die Herren, ob sie nun Konzernchef (Peter von Siemens), ruhmreicher Filmschauspieler (Heinz Rühmann) oder millionenschwerer Fußballstar (Gerd Müller) sind. Dass sie ausgerechnet hier wohnen, ist kein Zufall, ist doch die Gegend „gesegnet“ mit Naturschönheiten (Wald, Isar) und erreicht man hier auf kürzesten Verbindungswegen die Seen des Voralpengebietes und die dahinter liegenden Berge. Hier gibt es keine nennenswerte Industrie und keine zerschneidenden Stadtautobahnen.
Östlich dieses herrschaftlichen Ghettos hatten sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Amerikaner angesiedelt: ein Viertel mit Wohnungen für Diensttuende der US-Truppen und ihre Angehörigen.
Und noch weiter östlich – jenseits des alten Dorfkernes von Perlach – wurde am 11. Mai 1967 auf einstigen Getreide-, Kraut-, und Radifeldern der Grundstein gelegt für das „größte Wohnungsbauprojekt Europas, die Entlastungsstadt Neu-Perlach“, ein Stadtteil für achtzigtausend Einwohner.
Und während die angereiste Polit-Prominenz in salbungsvollen Reden diese städtebauliche Pioniertat zu loben versuchte, „musste die Feier wiederholt unterbrochen werden. Über den Köpfen der Festversammlung donnerten landende und startende Jets, im Geheul der Einflugschneise des nahen Flughafens verhallten die hehren Reden der Grundsteinleger. Dass mit diesem Lärm einmal Menschen leben müssen, davon war die Rede indes nicht.“ (aus: Zeit-Magazin, Anfang 1972)
Man sprach vielmehr davon, dass hier alles anders werden sollte: „Keine Schlafstadt, kein reines Wohngebiet, kein reines Geschäfts- und Verwaltungszentrum“. Man meinte allerdings: Kein Ghetto „Sozialschwacher“. Man hatte aus den Erfahrungen mit dem Hasenbergl Konsequenzen ziehen wollen. „Mischung“ hieß das Planungsziel und so mischte man unter Anleitung von Obermischer Prof. A. Mi(t)scherlich sozialen Wohnungsbau (für die mit wenig Geld), frei finanzierten Wohnungsbau (für die mit mehr Geld), Eigentumswohnungen (für die mit noch mehr Geld) und Eigenheime (für die mit ganz schön viel Geld). Die Stadt München delegierte ihre Planungshoheit an die „Neue Heimat Bayern“, die für ihre Tätigkeit ein Prozent der Gesamt-Nettobausumme erhält.
Als ich 1969 zum ersten Mal nach Neu-Perlach kam – der so genannte Bauabschnitt Nord war gerade fertig geworden – erzählte mir ein Bürger (Gewerkschafter und einer der Organisatoren der ersten „Bürgervereinigung“ in diesem Stadtteil): „Am 1. Juni 1968, die ersten drei Punkthäuser waren gerade fertig geworden, bin ich mit meiner Familie hierher gezogen. Damals gab es noch keine Straßen, keine Einkaufsmöglichkeiten, keine öffentlichen Verkehrsmittel, kein Telefon. Wir mussten durch riesige Schlammseen zu unseren Häusern waten. Das ist dann anders geworden. Ein paar Straßen wurden im Oktober fertig, der erste Laden (Coop in einer Holzbaracke) öffnete im November. Er zeichnete sich durch hohe Preise aus, hatte er doch praktisch keine Konkurrenz. Die sich in dieser Zeit konstituierende „Bürgervereinigung“ hatte anfänglich große Erfolge: Waren zu unserer ersten Veranstaltung cirka siebzig Bürger erschienen, so kamen zur zweiten nicht weniger als sechshundert sowie fünfzig aufgescheuchte ‚Offizielle’, unter ihnen der Oberbürgermeister und der Chef der ‚Neuen Heimat’. Zahlreiche Forderungen wurden gestellt nach Verkehrsverbindungen, Mietbeihilfen, Kindergärten und Versorgungsverbesserungen. Es gab nämlich ein Jahr nach den ersten Bezügen noch kein Postamt, keine Gastwirtschaft, keine Apotheke sowie Schichtunterricht in der ersten Schule. Damals wohnten immerhin schon siebentausendfünfhundert Leute hier. Aber allmählich griffen dann die Perlacher zur Selbsthilfe. zum Beispiel halfen sie sich gegenseitig bei Kinder- und Schülerbetreuung.“
Nach dem Gespräch mit dem Perlacher Bürger machte ich noch einen kurzen Rundgang und ich fand bestätigt, was ich vorher gelesen hatte: „Was bislang von Perlach zu erkennen ist, scheint so berüchtigte Bausünden, wie die Neue Vahr in Bremen oder die Gropius-Stadt in West-Berlin an Hässlichkeit noch zu überbieten“ (im ‚Spiegel’) und der einmal im Stadtrat eingebrachte Antrag der SPD, „den Schulkindern durch Tafeln mit Eichkätzchen, Hunden und Katzen die Orientierung zu erleichtern,“ schien mir nicht mehr so abwegig. Als ich an der Haltestelle auf die Tram wartete, zählte ich fünf Flugzeuge über mir, bis endlich eine Bahn kam …
Und zu dieser Zeit veranstalteten die „Neue Heimat“ und die Stadt München gerade einen internationalen Architektenwettbewerb für das Zentrum von Neu-Perlach – gedacht als ein Subzentrum mit einem Einzugsbereich von über vierhunderttausend „Menschen“, und der erste Preisträger lieferte ein Ergebnis, dessen „Signifikanz und Unverwechselbarkeit“ die Preisrichter zu wahren Begeisterungsovationen veranlasste, aber dessen „monomanisch starre und zukunftsverbauende Lösung“ die Kritiker mahnend an den Pranger stellten.
Und tatsächlich war dieser Entwurf nichts als ein Supereinkaufsmonstrum, ein Abklatsch amerikanischer Trademarkets, vollklimatisiert und ausgestaltet mit allen Raffinessen der Konsumanregung …
Währenddessen „wächst“ Perlach weiter. Die Abendzeitung im März 1970: „Ich hab’ mich an den Fluglärm gewöhnt“. In einem doppelseitigen Artikel wird hier von einem gewissen Prozess der Anpassung der mittlerweile vierzehntausend Bewohner berichtet. Tenor: „Es wird schon noch werden.“ Hinzu kommt ein wenig ästhetisierende Kritik:
„… eine trostlos gleichförmige Silhouette, eine auf das Mindestmaß eingeschränkte Abwechslung von Bauformen, eine gleichmäßig verteilte Wohndichte. Das alles erschwert eine sinnvolle Anlage der Stadt und eine Entfaltung städtischen Lebens.“
Dann, einen Monat später, erhebt der Direktor des Münchner Jugendamtes mahnend die Stimme: „Man kann bereits Gruppenbildungen betrachten. Man muss darauf achten, dass diese Gruppen nicht verwahrlosen und Unfug treiben.“ Ja, ja das entsolidarisierende Mischungsprinzip ist den Herren unter den Fingern zerronnen. Und so muss die Süddeutsche Zeitung im Mai 1972 berichten:
„Protestversammlung der Bürger – Perlach kämpft um sein Schulzentrum ‚Was am Hasenbergl geht, geht auch in Perlach mit der Bürgersolidarität’, hieß es in schwarzen Buchstaben auf einem weißen Transparent vor einem Fenster der kleinen Pausenhalle in der Schule an der Albert-Schweitzer-Straße. Darunter drängelten sich Perlacher Bürger, die schon zehn Minuten vor Beginn der Protestversammlung (Motto: ‚Die Schulkatastrophe kommt auf uns zu.’) keinen Sitzplatz mehr fanden und – der Situation der Kinder ähnlich – in einem reichlich überfüllten Raum ausharren mußten.“
Und während sich die bürgerlichen Journalisten eigentlich wieder lieber über die immer größer werdende „Betonwüste“ mokieren (Mitte August 1974 wohnen dreißigtausend Menschen in Perlach) – eine Kostprobe:
„Wer die kafkaesken Blocks an der Kafkastraße, die schwarz angestrichene Schule am Gerhardt-Hauptmann-Ring, die schwarz-rot getünchten Häuser beim Karl-Marx-Zentrum oder den als „Chinesische Mauer“ verschrieen Gebäudekomplex betrachtet, wird wahrlich an Orwells Zukunftsroman ‚1984’ erinnert.“ – Süddeutsche Zeitung vom 3./4. August 1974
Während die Journalisten sich mokieren, organisieren sich die Perlacher in immer mehr Gruppen und Initiativen
- einmal, um Voraussetzungen dafür zu schaffen, in diesem Stadtteil so was ähnliches wie leben zu können,
- zum anderen, um den Planern bei ihren Planungsabsichten auf die Finger zu schauen, um „weiteres Schlimmes“ zu verhindern.
Anfang 1974 schlossen sich einige Vertreter der bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Initiativen zu einer Redaktionsgruppe zusammen, um ein eigenes Kommunikationsorgan, die Stadtteilzeitung „Perlach-aktueII“ herauszugeben:
„Langsam haben wir es satt, dass wir ständig ‚beschrieben’ werden – als ‚bevorzugte Bewohner einer der modernsten Trabantenstädte’ oder als ‚Opfer eines Massensilos, geplant am grünen Tisch’. Kaum jemand hat wirklich mal nach unserer Meinung gefragt. Wir finden, dass es an der Zeit wäre, den Spieß umzukehren. Dass wir selbst über unsere Einstellung reden, unsere Meinung sagen – und zwar über die Dinge, die uns hier im eigenen Stadtteil auf der Haut brennen: Zum Beispiel die steigenden Mieten oder die Schulprobleme unserer Kinder, die notwendigen Spiel- und Kindergartenplätze, die Verkehrssituation, die fehlenden Kneipen, die Einsamkeit oder über andere Alltagssorgen …
Über alles eben, was sonst nirgendwo gesagt werden kann. Wenn wir unsere Erfahrungen austauschen, uns gegenseitig informieren – und zwar aus erster Hand – erkennen wir sehr bald unsere gemeinsamen Interessen und Probleme. Erst dann merken wir, dass wir selbst was tun können. Deshalb sollen auch alle, die sich hier in Neuperlach zusammengeschlossen haben, um Probleme gemeinsam zu lösen, in dieser Zeitung vorgestellt werden.
Bis jetzt wird die Zeitung von Perlacher Initiativgruppen gemacht. Aber das ist nur der Anfang. Denn die Zeitung soll eine Zeitung der Neuperlacher sein. Sparen Sie also nicht mit Kritik, schreiben Sie uns Ihre Meinung, schicken Sie uns Beiträge, machen Sie sonst Vorschläge oder kommen Sie zur nächsten öffentlichen Redaktionssitzung am 11. Februar 1974 um 20 Uhr im Bewohnerzentrum, Karl-Marx-Ring 51.“
So stand es in Nr. 1 im Februar 1974. Seitdem erscheint Perlach-aktuell alle ein bis zwei Monate und mittlerweile hat sich die Zeitung zu einem wichtigen Informations- u. Kommunikationsblatt der Perlach-Bewohner entwickelt und sicherlich auch die Organisierungsbereitschaft in diesem Stadtteil gefördert. Schon in Nr. 2 konnten die Initiatoren schreiben: „Nach und nach kamen Beiträge von ,allen Seiten und plötzlich war die Zeitung auf zwanzig Seiten angeschwollen.“ (Was nicht ganz stimmte, es waren vierundzwanzig, die Nr. 1 hatte zwölf Seiten.)
Es gibt heute in Neu-Perlach eine stattliche Anzahl von Initiativen, so viele wie sie sonst kein anderer Münchner Stadtteil aufzuweisen hat: in Neu-Perlach ist Leben eingezogen. Hatte man am Anfang überwiegend versucht, gegen die Planung durch die „Neue Heimat“ und die Stadt anzugehen, verlagerte sich nun der Schwerpunkt mehr darauf, selbst für gemeinsame Bedürfnisse und Interessen aktiv zu werden …
Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 158 ff.