Materialien 1975

Isarvorstädte

„Und du glaubst, mit der Flasche Wein, die du mitgebracht hast, geht’s leichter?“ Maria schaute mich fragend an, wir tranken einen Schluck, und ich meinte: „Fang einfach chronologisch an, du bist ja hier in dem Viertel geboren.“ Ja, und so fing sie an:

„Also, vor zwei Jahren bin ich wieder hierher gezogen. Die ersten dreizehn Jahre meines Lebens hab ich hier verbracht, die nächsten dreizehn Jahre dann am Hasenbergl und im Studentenheim. Seit dieser Zeit, seit 1961, wurden über tausend Familien aus dieser Gegend vertrieben. Mein Vater flucht heut’ noch darüber, aber er hat wenigstens noch die Arbeit, kann tagsüber flüchten, meine Mutter muss es Tag und Nacht am Hasenbergl aushalten. Meine Eltern beneiden mich beide, dass ich wieder hier wohn’, so nah’ bei der Stadt, in einer alten gemütlichen Wohnung, mit größeren Räumen, unter höheren Decken, wo man nicht so schnell Angst kriegt, sie fallen einem auf den Kopf, in kleinen abwechslungsreichen Straßen, wo der Schreiner und der Schuster um die Ecke sind, und daneben gleich eine Kneipe, und zum nächsten Biergarten, dem Zacherlgarten in der Au, ist es auch nicht weit.

Trotzdem, einiges hat sich hier schon geändert, und vieles ist eher schlechter geworden. Das erste, was mir auffiel, als ich wieder zurückkam, das waren die Gehsteige. Früher sind die viel breiter ge-
wesen, da konnten wir als Kinder noch drauf spielen. Heute ist das lebensgefährlich, denn nicht nur die Gehsteige sind schmäler geworden, auch der Autoverkehr hat entsprechend zugenommen.

Aber das ist nicht nur für die Kinder gefährlich, in der Corneliusstraße, so erzählen die Leute, kann man tagsüber das Fenster kaum aufmachen, so viel Lärm und Gestank ist da. Das kommt vom Altstadtring, der über den Gärtnerplatz geleitet wird. Am Gärtnerplatz selbst kann man den klei-
nen Park in der Mitte des Rondells als Fußgänger kaum erreichen. Es gibt keine einzige Fußgän-
gerampel, die in die Mitte des Platzes führt, du musst Spießrutenlaufen, wenn du da hin willst.

Zwei Transvestiten sind da irgendwann einmal hingekommen und haben sich diesen Platz als Stammplatz auserkoren, sitzen auf einer der Bänke oder liegen im Gras, saufen oder pennen. Es sind tatsächlich ‚die Transvestiten’ vom Gärtnerplatz. Die waren schon da, als ich noch gar nicht wusste, wer oder was das ist, ein Transvestit. Die gehören richtig zum Viertel und werden auch von der restlichen Bevölkerung nicht direkt diskriminiert, d. h. vertrieben, eher belustigt bestaunt. In dieser Richtung ist die Ecke hier ja überhaupt ein Treffpunkt, stadtbekannt seit langem. Es gibt eine ganze Reihe von Schwulenlokalen hier und auch ein Lesbenlokal, und angesprochen worden bin ich hier auch schon öfters, abends, wenn ich nach Hause ging und es schon ein bisschen später war. Hundert Mark, das ist anscheinend der normale Tarif, auf jeden Fall bin ich schon öfters so eingestuft worden – sie lacht, und trinkt einen Schluck Wein – ein bisschen komisch, aber eigent-
lich hab ich keine Angst, es sind immer Leute auf der Straße, du bist nie ganz allein und das macht dich schon sicherer. In den Neubauvierteln, wo abends kein Mensch mehr auf den Straßen zu sehn ist, hätt’ ich schon mehr Angst.

Eine andere wichtige Gruppe hab ich beim Aufzählen der charakteristischen Minderheiten hier noch übersehen. Es gibt nämlich vergleichsweise viel Juden hier. In der Reichenbachstraße steht ein Haus der israelitischen Kultusgemeinde, gleich gegenüber ist ein kleiner jüdischer Bazar, und auch mehrere Metzger, die nur koscheres Fleisch verkaufen, findet man hier. Eigenartigerweise haben diese Metzgerläden alle Milchglasscheiben, so dass man nicht in den Laden sehen kann, es wirkt als hätten sie immer noch Angst. Die Sorge ist vielleicht nicht unberechtigt, denn immer noch oder schon wieder wird die Ausrottung der Juden durch Hitler verharmlost oder der Antise-
mitismus auf Hitler reduziert, so als habe er ihn erfunden. Dabei gibt es Antisemitismus, seit es Christen gibt und das ist durchaus ein wesentlicher Zusammenhang.

Hier ein Beispiel für Antisemitismus im 19. Jahrhundert in München: 1827 kommt Heinrich Hei-
ne1, dreißigjährig und schon berühmt nach München und hofft auf eine Professur für Germanistik an der Münchner Universität. Doch der reaktionäre August Graf von Platen2, der Heine als ‚scham-
losen Juden’ und als ‚armseligen Schmierer und Sansculott’ bezeichne, intrigiert zusammen mit Schelling3 bei Ludwig I.4 gegen Heine. Mit von der Partie war dabei auch Hans Ferdinand Mass-
mann5, ein nationalistischer Germanist und Turnlehrer, der Hitlers Bücherverbrennung um mehr als hundert Jahre vorwegnahm: 1817 verbrannte er auf einem Wartburgfest ‚unsaubere Bücher’. Die Maßmannstraße, die am Anfang der Schleißheimerstraße abzweigt, ist übrigens nach ihm be-
nannt worden.“

Antonio kommt herein und unterbricht die Erzählung. Maria bittet ihn, noch was zu kochen. „Wir haben unsere Zimmer neu eingerichtet“, fällt ihr ein, und sie nimmt mich bei der Hand und führt mich durch die Wohnung. Gleich am Anfang hängen zwei große alte und schön gerahmte Fotogra-
phien von Rosa Luxemburg6 und Karl Liebknecht7. „Die haben wir auf einem Speicher gefunden, die Leute wollten sie schon wegwerfen, und keiner kannte die beiden.“

Nach dem Rundgang durch die Wohnung verschwindet Antonio in der Küche und wir gehen zu-
rück in Marias Zimmer.

„Es hat ein bisschen gedauert, bis wir hier reingekommen sind in das Haus – die üblichen Vorur-
teile – weißt du, und vier Leute in einer WG zieh’n natürlich auch mehr Bekannte nach sich als eine Kleinfamilie, da läuft alles normaler, also kontaktärmer ab. Aber wir kommen prima mit den Nach-
barn aus, die mögen uns alle. Auch mit dem Hausherrn haben wir keine Schwierigkeiten. Die Miete müssen wir freilich zahlen, aber er gehört zu den wenigen noch übriggebliebenen alt eingesessenen Hausbesitzern und mischt sich nicht in die privaten Angelegenheiten seiner Mieter ein. ‚In seiner Wohnung’, sagt er, ‚kann sich’s jeder so einrichten wie er will, das geht niemand was an!’“

Und dann verkündet Maria noch ganz stolz, dass ihre Mutter aus der Au, ihr Vater aber aus Giesing kam, was bemerkenswert sei, da die Auer ständig mit den Giesingern in Streit lagen, weil die Auer näher bei der Stadt lagen und sich deswegen als was besseres vorkamen.

„Wir sind übrigens ein Beispiel für einen ‚überalterten’ Stadtteil, was ich einen ziemlich diskrimi-
nierenden Begriff finde. Die, die im Sinne unserer Leistungsgesellschaft nichts mehr leisten, wer-
den als störend empfunden. Außerdem klingt das wie eine Rüge für unser Viertel, als ob etwa wir daran schuld seien. Da vertreibt man jahrzehntelang die Bewohner zugunsten von Banken, Büros, Parkhäusern und breiteren Straßen und spricht dann scheinheilig von ‚Überalterung’. Natürlich ist es wichtig, dass hier wieder jüngere Leute herziehen. Es ist nämlich eine beliebte Methode, wenn alte Menschen sterben, aus den Wohnungen Büros zu machen. Das geschieht oft ohne Genehmi-
gung, und wird oft noch nachträglich von der Stadt genehmigt.

Das bringt natürlich dem Hausbesitzer mehr ein, da kann er für die gleichen Räume das zwei- bis dreifache verlangen. Man muss fast um jede Wohnung kämpfen. Die Jungsozialisten sind da ei-
gentlich ganz rührig. Sobald eine Zweckentfremdung droht oder bekannt wird, wird das im ‚Gärt-
nerplatz aktuell’ veröffentlicht und versucht, die Leute zu mobilisieren, und es ist schon einige Male gelungen Zweckentfremdungen zu verhindern. Jetzt haben sie in der Klenzestraße einen Laden eingerichtet, der Mieterberatungen macht. Es ist natürlich schwierig, denn die, die an der Basis versuchen, etwas konsequenter zu arbeiten, werden von der eigenen Partei im Stich gelassen, von einem Oberbürgermeister, der ständig mit der CSU paktiert; und die Freunde und Geldgeber dieser Partei – unter anderem Banken, Versicherungen, Häuserspekulanten – sind es ja, die die Menschen aus ihren Wohnungen vertreiben.

Die Sache mit dem Europäischen Patentamt war ja auch so ein Meisterstück der rechten SPD. Da kommt einiges auf uns zu. Die haben noch kaum mit dem Bauen begonnen, da sprießen schon ringsum die Patentanwälte wie die Dotterblumen aus dem Sumpfboden. Schon der Abriss der Häuser in der Erhardstraße, von denen viele unter Denkmalschutz standen, war ein Verbrechen, das auch noch passenderweise im Jahre des Denkmalschutzes begangen wurde. Da werden nur Fassaden prämiert, ab fotografiert und in schönen Büchern veröffentlicht, ob dahinter Menschen wohnen ist Nebensache. Solche Nebensächlichkeiten vergisst man. Ich bin übrigens mal in die Häuser in der Erhardstraße eingestiegen, als sie noch standen, aber schon leer waren. Die waren zu der Zeit ein Domizil für Kinder – tagsüber – und eins für Penner während der Nacht. Alle Wände waren mit Zeichnungen bekritzelt. In einer Wohnung haben die Kinder schon vor dem erzwunge-
nen Auszug die Wände anmalen dürfen und aufgeschrieben, wie lange sie hier noch Wohnen: noch fünf Tage, noch vier Tage, noch drei Tage, noch zwei Tage und der letzte Tag wurde nicht mehr aufgeschrieben.“

Wir trinken beide und ich frage, obwohl sie noch etwas erregt über die letzte Geschichte ist, was es noch Unangenehmes gibt. „Den U-Bahnbau in der Frauenhoferstraße“, antwortet sie, „fast die gan-
ze Straße ist eine Baustelle, und das wird sie noch einige Zeit bleiben. Ecke Klenzestraße sind da-
durch auch drei Geschäfte kaputtgegangen, ein Café, ein Zeitungsladen und ein Kleidergeschäft; weil an dieser Ecke der Eingang zur Haltestelle gebaut wird. Für unser Viertel ist nur eine Halte-
stelle geplant, und so sind das vorläufig die einzigen Schäden. Wenn der Bau fertig ist, werden wohl ein paar Straßenbahnlinien verlegt, zur Zeit fahren mindestens sechs verschiedene Linien hier durch, manchmal gibt es Staus vom Ende der Reichenbachstraße bis zum Gärtnerplatz. Wenn dafür nicht noch mehr Autos kommen, dann ist es gut. Im Zusammenhang mit dem EPA kann der U-Bahnbau aber auch zu einer Umstrukturierung des Viertels in Richtung auf City-ähnliche Ver-
hältnisse führen. Das ist eine große Gefahr.“

„Was willst Du noch wissen, mir geht allmählich der Stoff aus!“ „Irgend was Lustiges,“ antworte ich nicht gerade sehr einfallsreich. Sie überlegt: „Ein ziemliches Zentrum von Schulen gibt es hier noch, mit Grundschule, Hauptschule und Gymnasium, auch eine Schule für Behinderte ist dabei, die Kinder malen und tonen und stellen regelmäßig ihre Arbeiten öffentlich aus. Und einmal im Jahr gibt’s im Schulhof ein großes Fest, das ganze Viertel feiert da, und es feiert den ganzen Tag, und die halbe Nacht, und von dem dafür viel zu kleinen Schulhof quellen die Leute heraus auf die Klenzestraße, Autos haben dann nichts zu suchen da, eine Blaskapelle spielt, eine Rockband, ge-
tanzt wird, Bier gibt’s und Essen.“

Das ist natürlich das Stichwort für uns. Wir gehen in die Küche, Antonio ist mit dem Kochen fertig. Ein Holztisch, dampfende Spaghetti, eine scharfe Sauce, dazu der Rest Wein, es schmeckt.

„Hast du alles mitgeschrieben“, fragt Maria.

Ich nicke fleißig, und sie sagt mit vollem Mund: „Ich wohne ganz gern hier, aber man muss aufpas-
sen!“


Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 56 ff.

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1 (1797 – 1856), Dichter.

2 (1796 – 1835), Dichter.

3 Friedrich von Schelling (1775 – 1854), Philosoph.

4 (1786 – 1868), König.

5 (1797 – 1874), Germanist.

6 (1870 – 1919), Revolutionärin.

7 (1871 – 1919), Revolutionär.

Überraschung

Jahr: 1975
Bereich: Stadtviertel

Referenzen