Materialien 1975

Giesing

… seitwärts kleine Handwerksbetriebe, wo oft noch repariert wird, was wo anders längst auf dem Konsumfriedhof – sprich Müllhaufen gelandet wäre. Im ältesten Teil, zwischen Silberhorn- und Edelweißstraße, wohnen meist Ausländer: Die Hausbesitzer lassen die Häuser verkommen – das Übliche! Die Idylle ist trügerisch – das kepa-Kaufhaus, das sich hier eingenistet hat, will alte Häuser aufkaufen, um auf dem Grund Neubauten zu errichten – und kurz vor dem Candidplatz hat die Bayrische Versicherungskammer einen Neubau hingeklotzt: oben Appartements, dann Mc Donalds, im Keller Bowling: schöner wohnen? Auf alle Fälle laut.

Der Candidplatz ist asphalt- und steingewordene Wirklichkeit der Idee von der autogerechten Stadt. „Unsere“ Städteplaner haben hier, im festen Blick zurück – nach Amerika, neben Altstadtring ein weiteres Denkmal der Zerstörung gesetzt: Eine Autobahn quer durch Giesing, ohne Rücksicht auf gewachsene Bebauung oder aufgewachsene Bürger, den Mittleren Ring. Und wo in den Fünfziger Jahren noch die letzte Mühle Münchens stand – am Candidberg – , stehen heute Autoschlangen. Ob es möglich gewesen wäre, die Trasse weiter südlich zu legen, weiß ich nicht, aber im Süden – und das weiß ich – liegt der noble Villenvorort Harlaching, und dort herrscht Ruhe und Sauberkeit.

Folgt man der zur Autobahn gewordenen Tegernseer Landstraße, unterquert man ein Stück Amerika, die McGraw Kaserne, Überbleibsel des zweiten Weltkriegs, Bollwerk westlicher Freiheit. Die Beschützer erlaubten keine ebenerdige Durchfahrt, und so verlegte man die Straße in den Keller. Eine teure Verlegenheit, für die die Amerikaner keinen Cent zahlten. Um die Kasernen Geschäfte, wo nur Amis einkaufen, Häuser, wo nur Amis wohnen, Kneipen wo nur Amis hingehen, Mädchen, die nur mit Amis können und Leuchtreklamen auf amerikanisch. Östlich der Tegernseer Landstraße „wohnt Giesing“, daran anschließend und zwischen zwei Friedhöfen – dem Ostfriedhof und dem Friedhof am Perlacher Forst – „arbeitet es“. Hier liegt der südliche Industriegürtel Münchens – Siemens, Agfa, Merk, Schaltbau, Louisoder, März und andere: Achtzehntausend Menschen fahren täglich hierher zur Arbeit. Durch dieses Gebiet fährt die S-Bahn und hält zweimal, an der St.Martin-Straße und am alten Giesinger Bahnhof …


Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 93.

Überraschung

Jahr: 1975
Bereich: Stadtviertel

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