Materialien 1975

Der Fall Bärlocher ...

oder von München nach Marckolsheim und zurück

„Wer das Reden von der Qualität des Lebens ernst meint,
muss politische und gesellschaftliche Veränderungen wollen.“
Erhard Eppler, SPD-Vorstandsmitglied und ehemaliger Bundesminister

Herr Rosenthal hat einen Plan,
der uns gar nicht gefällt.
Dem Rosenthal ist das egal,
den interessiert nur Geld.
Uns aber interessieren
der Fluss, der Wald, das Feld
und unsere Gesundheit
kauft uns keiner ab für Geld.

Wer will den bleiverseuchten Wein,
Blei-Milch, Blei-Hecht, Blei-Aal?
Wer isst ein Rindersteak mit Blei?
Vielleicht Herr Rosenthal ?
Aber nein, der hält sich sehr gesund,
sauber und elegant -
Bloß seinen CWM-Mülleimer
stellt er in unser Land.

Dieses Lied sangen die Winzer, Bauern und Arbeiter aus dem Elsaß und aus Baden, nachdem sie am 20. September 1974 den Bauplatz der Chemischen Werke München, Otto Bärlocher GmbH (Hauptaktionär und Chef: Christian Rosenthal, Inhaber von 51 Prozent des Stammkapitals, den Rest – 49 Prozent – besitzt die DEGUSSA) in Marckolsheim besetzt hatten. Die Firma wollte dort einen Zweigbetrieb des Münchner Werkes errichten, obwohl sich der Gemeinderat von Marckolsheim am 8. Mai 1974 mit elf gegen neun Stimmen gegen den Bau ausgesprochen hatte. Trotz dieser demokratischen Entscheidung verkündete der französische Präfekt in Straßburg: „Das Werk wird gebaut!“, denn hinter dem Chemiekonzern standen mächtige Gönner. Die CDU-Landesregierung von Baden-Württemberg unter ihrem Chef, dem ehemaligen NS-Marinerichter Filbinger, verkündete lautstark, dass keine Bleigefahr bestünde und intervenierte in Paris gegen den Gemeinderatsbeschluss. Daraufhin traten die elf Gemeinderäte, die gegen den Bau gestimmt hatten, zurück.

Am 20. September besetzten dann ungefähr 2.000 Mitglieder von einundzwanzig Bürgerinitiativen aus dem Elsaß und aus Baden den Bauplatz, die Arbeiter stellten ihre Tätigkeit ein. Bei den Neuwahlen, die durch den Rücktritt der elf Gemeinderäte erforderlich geworden waren, erhielten die Platzbesetzer elf Sitze, ein Platzbesetzer wurde Bürgermeister. Nun kam auch ans Tageslicht, dass die Firma Bärlocher sowohl den Gemeinderat, wie auch die Bevölkerung belogen hatte. Neue Untersuchungen ergaben, dass nicht drei Tonnen Bleistaub – wie die Firma behauptet hatte – sondern acht Tonnen anzunehmen waren. Inzwischen wurden auch die katastrophalen Schäden der Bleiwerke in Nordenham, Stolberg und Hoboken (Belgien) bekannt: Bleivergiftungen bei Arbeitern und Umwohnern, vor allem Kinder, tote Rinder im Umkreis von einigen Kilometern, verseuchtes Wasser, verseuchte Pflanzen usw., und das, auch wenn die Filter dichthalten.

Unter dem Druck der öffentlichen Meinung und auf Grund der bekannt gewordenen Tatsachen, verbietet daraufhin der französische Minister für das öffentliche Bauwesen den Bau des Chemischen Werkes in Marckolsheim. Die Bevölkerung hatte durch ihr konsequentes Handeln für sich eine Verbesserung der Lebensqualität erkämpft. Der Kommentar von Christian Rosenthal über die Frauen und Männer von Marckolsheim: „Leute, die besoffen Gaudi machen!“

Mehr Erfolg hatte der Bärlocher Chef Rosenthal anscheinend in München.

Was ihm in Marckolsheim nicht gelang, gelingt ihm hier, und das, obwohl das Werksgelände der Firma mitten in der Stadt, zwischen Moosach und Milbertshofen, liegt. Am 1. Juli diesen Jahres beschloss der Stadtrat von München in einer nichtöffentlichen Sitzung mit neun zu acht Stimmen die Bausperre für die Firma aufzuheben, so dass Rosenthal sein bleiverarbeitendes Werk erweitern darf.

Als Fürsprecher der Firma Bärlocher trat vor allem Stadtbaurat Uli Zech (SPD) auf, der vor einigen Monaten in der Münchner Presse Schlagzeilen machte, da er im Zusammenhang mit der Genehmigung von Bauplänen in Zamdorf in einem Bestechungsskandal verwickelt sein sollte. Die Untersuchungen deswegen verliefen natürlich wie üblich im Sande.

Als eifriger Befürworter und Verteidiger der Firma Bärlocher engagierte sich auch der stellvertretende Bezirksausschussvorsitzende des 37. Stadtbezirks, Peter Krauß (CSU), der in einer Pressemitteilung behauptete: „Gegen die Firma ist eine beispiellose Hetze vor allem von linken Kräften in Gang gesetzt worden. Politisch drängt sich der Verdacht auf, dass für die städtische Fehlplanung im betreffenden Stadtteilbezirk ein privates Unternehmen geopfert werden soll, um ein Alibi für die katastrophale Strukturplanung zu präsentieren …“

Was nicht in der Pressemitteilung stand: Peter Krauß (CSU) ist gleichzeitig Betriebsleiter der Firma Bärlocher!

Aber im Verschweigen und in der Täuschung ist die Firma Bärlocher wie in Marckolsheim so auch in München Meister. So hatte man nicht allein Anfang der 60er Jahre ohne gewerbliche Genehmigung stillschweigend einige neue Anlagen errichtet, auch im neuerlichen Antrag auf Aufhebung der Veränderungssperre versicherte die Firma: „Die Behauptungen der Bürgervertreter sind unrichtig, dass durch frei werdende Blei- und Cadmiumverbindungen die Bevölkerung und Mitarbeiter gefährdet würden … Tatsache ist, dass seit 1953 nur ein Mitarbeiter gemeldet wurde, der heute noch zu 30 Prozent berufsunfähig ist.“

Die Richtigstellung erfolgte prompt. Dr. von Clarmann, der leitende Arzt der toxikologischen Abteilung im Klinikum rechts der lsar, erklärte in einem Brief an das Gesundheitsamt der Stadt München, dass in den letzten drei Jahren allein fünfunddreißig Mitarbeiter der Firma Bärlocher wegen einer Vergiftung, oder des dringenden Verdachts hierauf in Behandlung gewesen seien.

Die Dunkelziffer liegt allerdings noch höher, denn wie wir aus Gesprächen mit ehemaligen Mitarbeitern der Firma erfuhren, ist die Fluktuation unter den Arbeitern schon immer sehr stark gewesen. („Wenn ich aus dem Urlaub zurückkam,“ so erklärte uns ein ehemaliger Arbeiter der Firma Bärlocher, „sah ich fast immer überall neue Gesichter, nur die Sekretärinnen blieben, denn zu denen hatte Rosenthal im Gegensatz zu uns Arbeitern immer ein gutes Verhältnis. Das war ja so ein richtiger Playboy, mit Segelboot und tollen Rennautos …“).

Bei der Herstellung von Metallseifen, einem Grundstoff für PVC und andere Plastikartikel, wird neben Zink und Blei auch Cadmium und Phosphor verarbeitet. Nachdem das Material in Trockenöfen acht bis vierundzwanzig Stunden lang bei hohen Temperaturen getrocknet wird (wobei Blei- und Cadmiumdämpfe durch den Schornstein entweichen und auf die benachbarten Wohnviertel herabsinken), wird es in Mühlen zu Pulver zermahlen und in Säcke abgefüllt. Bei diesem Produktionsprozess stehen die Arbeiter pausenlos in einer Wolke von Blei- und Cadmiumstaub, was trotz Masken zu ständigen Brechreizen führt und vor allem die Gefahr einer Staublunge mit sich bringt, ganz abgesehen von direkten Bleivergiftungen durch die Dämpfe vom Kessel und den Pressen. Viele Arbeiter geben deshalb schon nach kurzer Zeit die Arbeit wieder auf, weil sie sich ständig unwohl fühlen und befürchten, schwere gesundheitliche Schäden zu bekommen. Aus diesem Grunde hatte die Firma Bärlocher auch schon sehr früh ausländische Arbeiter eingestellt, die Anfang der 60er Jahre in einer halbverfallenen Baracke gegenüber dem Werk in der Rießstraße eine menschenunwürdige Unterkunft fanden, für die die Firma auch noch hohe Mieten kassierte. Auch hier sind noch viele Fälle von Bleivergiftungen aufgetreten, die nur deshalb nicht publik wurden, weil viele Ausländer Angst hatten, ihren Job zu verlieren und nicht zum Arzt gingen, sondern erst dann in ihre Heimat zurückkehrten, wenn sie schon schwer krank waren.

Zu der Vergiftungsgefahr kommt noch die Feuergefährlichkeit der Arbeit. Bei hohen Temperaturen explodiert der phosphorhaltige Metallseifenstaub; die Feuerwehr ist deshalb beinahe Stammgast auf dem Werksgelände. Mehr als einmal flog das Dach in die Luft, explodierten die Mühlen oder brannten die Werkshallen.

Trotz alledem genehmigte also der Stadtrat am 1. Juli den Ausbau des Werkes.

Gegen den Bezirksausschussvorsitzenden des 28. Stadtbezirkes, Herbert Becker (SPD), der anscheinend die Rede seines Vorstandsmitgliedes Eppler über die Qualität des Lebens (siehe obiges Zitat) ernst nahm und gegen den Stadtratsbeschluss protestierte, nachdem er bereits schon vorher vor den Gefahren des Werkes gewarnt hatte, strengte die Firma Bärlocher einen Prozess an (Streitwert: 100.000 DM); anscheinend wollte man im voraus eventuelle Anhörungen der Bevölkerung durch derartige Repressalien einschüchtern. Resignierend erklärte dann auch die AZ am 2. Juli: „In Moosach stinkt es weiter!“

Gestunken hatte es ja auch der Bevölkerung im Elsaß, nur war man dort konsequenter und kam dem Gestank zuvor. „Wenn sie es mit dem Andreas Baader so getrieben haben wie mit uns hier“, erklärte ein besonnener und besitzender Landwirt von der Bürgerinitiative, „dann kann ich den verstehen.“ „Als Radikaler wird man nicht geboren, zum Radikalen wird einer gemacht“, meinte ein anderer.

Nach der vierten Woche der Besetzung sangen die Bauern, Winzer und Arbeiter des Bärlocher-Bauplatzes das Lied von der Wacht am Rhein, in dem es hieß:

Und kommt der Staatsanwalt
und kommt die blaue Polizei
und kommen sie im Morgengraun -
uns ist das einerlei.
Wir sind uns nämlich einig
und werden täglich mehr,
und wenn wir uns mal einig sind,
dann sind wir immer mehr.

Und wenn sie uns auch sagen,
die erste Bürgerpflicht
war Ruh auf Treu und Glauben,
wir glauben ihnen nicht.
Der Glaube hatte nichts genützt
in Stolberg und Nordenham,
wir haben nicht vergessen
DDT und Contergan.

Im Elsaß und in Baden
war lange große Not
da schossen wir für unsre Herrn
im Krieg einander tot.
Jetzt kämpfen wir für uns selber
in Wyhl und Marckolsheim,
wir halten hier gemeinsam
eine andre Wacht am Rhein.

Auf welcher Seite stehst du? He!
Hier wird ein Platz besetzt.
Hier schützen wir uns vor dem Dreck,
nicht morgen, sondern jetzt !

Neuerdings können sich die Moosacher und Milbertshofener das Lied von der Wacht am Rhein auf Platten anhören. Vielleicht werden sie eines Tages das Lied von der Wacht auf dem Oberwiesenfeld singen.

Peter Schult
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Blatt . Stadtzeitung für München 50 vom 18. Juli 1975, 4 f.

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Nachtrag

Unser Artikel im letzten „BLATT“ zum „Fall Bärlocher“ scheint nicht gerade das Wohlwollen der Firmenleitung der Chemischen Werke München gefunden zu haben. Wie uns ein Arbeiter vom Stearat II berichtete, rannte der Abteilungsleiter, Herr P. mit einem „BLATT“ unter dem Arm (Hurra! ein neuer Leser!) aufgeregt durch die Werkshalle und machte seinem Ärger gegenüber Gott und der Welt Luft.

Nun ist das Stearat 11 sowieso ein Sorgenkind der Firma. Nicht nur, dass hier die Fluktuation unter den Arbeitern am stärksten ist, denn in der Abteilung ist die gesundheitliche Gefährdung am höchsten und auch die Arbeitsbedingungen am miesesten. Da während der Arbeitszeit nicht geraucht werden darf und der Aufenthalt in der Kantine während der Arbeitszeit ebenfalls verboten ist, müssen sich die Arbeiter, wenn sie mal eine Zigarette rauchen wollen, in eine dunkle, schmutzige und nasse Ecke gleich neben dem Wasserhahn stellen, wo sie auch noch meistens von Herrn P. vertrieben werden, denn er wacht als diensteifrige Stimme seines Herrn darüber, dass die Produktion nicht nachlässt. Selbst einige Herzattacken und Nervenzusammenbrüche konnten seinem Eifer nichts anhaben. Er hat immer noch nicht kapiert, dass es nicht um ihn und die Arbeiter geht, sondern um den Mehrwert für Herrn Rosenthal. Dass Herr P. deshalb bei den Arbeitern nicht gerade beliebt ist, braucht man wohl nicht zu erwähnen; gerade seinetwegen haben schon viele Arbeiter gekündigt.

Aber auch in der Chefetage des Betriebes wurde die letzte Blatt-Nummer sehr aufmerksam gelesen, das jedenfalls erfuhren wir von einer Sekretärin.

Und auch sonst tat sich in der letzten Zeit allerhand. Am 23. Juli sollte im Stadtrat die endgültige Entscheidung über die Aufhebung des Baustops für die Firma Bärlocher fallen. Stadtbaurat Uli Zech, der eifrige Befürworter der Aufhebung (die Akten über die Zamdorfer Grundstücksaffäre, in die Zech verwickelt sein soll, liegen jetzt beim Münchner Amtsgericht), erhielt vom Bau-, Kreisverwaltungs- und Kommunalreferat unerwartet Rückendeckung, die ein vertrauliches Rechtsgutachten erarbeiteten, in dem auf die hohen Entschädigungsansprüche seitens der Firma verwiesen wird, die sie der Stadt androht.

Demgegenüber scheinen jetzt die Bürgerinitiativen der betroffenen Stadtteile entschlossen zu sein, sich gemeinsam gegen die Ausweitung der Chemischen Werke zu wehren. Elmar Lossau, Sprecher der Eigentümerinteressengemeinschaft Olympisches Dorf e.V., erklärte: „Wenn gar nichts mehr hilft, dann bringen wir auch eine ähnliche Aktion wie in Marckolsheim auf die Beine.“

Der Stadt und dem Stadtbaurat werfen sie vor, allein die Anliegen von Bärlocher und nicht die der Bürger zu vertreten. Die „tz“ warnte am 20. Juli bereits: „Es brodelt in der Olympia-Pressestadt!“ Anlass dieser Warnung war ein Brief des Sprechers der Mietergemeinschaft Olympia-Pressestadt e.V., Willi Hertlein, an die Stadtratsfraktionen, in dem er erklärte: „Wir werden es nicht hinnehmen, wenn der Stadtrat uns unverständlich erscheinende Belastungen für die Bevölkerung zulässt.“

Und auch in der zweihundert Meter von der Firma entfernten städtischen Fachoberschule sind die etwa dreitausend Berufsschüler nicht gewillt, ihre Gesundheit der Firma Bärlocher zu opfern. Die Schüler machen sich bereits Gedanken, wie sie die Erweiterung der Werke verhindern können. Einer der Schüler erklärte uns gegenüber: „Wenn die es in Marckolsheim geschafft haben, den Bau der Werke zu verhindern, dann schaffen wir es in München auch.“

Von der Reaktion der Bevölkerung aufgeschreckt, vertagte der Stadtrat daraufhin am 23. Juli erst noch einmal die endgültige Entscheidung über die Aufhebung der Veränderungssperre für das Gelände der Chemischen Werke München.

Die Firmenleitung indessen scheint sehr optimistisch zu sein. In einer großen Anzeige in einer Münchner Zeitung suchte sie am 19. Juli Chemotechniker, Chemolaboranten und Chemiewerker. Die „Wacht am Rhein“ ist also weiterhin angebracht und die auf der letzten Bürgerversammlung in der Borstei ausgegebene Parole „Gemeinsam marschieren“ weiter aktuell.

In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist die kürzlich von der XI. Kammer des Bayerischen Verwaltungsgerichts München zurückgewiesene Klage von vier Umweltschutzvereinigungen gegen die Stadt Wolfratshausen und den Freistaat Bayern wegen der Ansiedlung der Firma Cyanid im Außenbereich von Wolfratshausen. Das Verwaltungsgericht kam zu der Ansicht, dass aus der bayerischen Verfassung kein Grundrecht auf Naturschutz abgeleitet werden könne und wies die Klage der Naturschützer ab. Profitstreben steht eben in unserem System trotz aller gegenteiligen Beteuerungen über dem Schutz der Umwelt.

Peter Schult


Blatt. Stadtzeitung für München 51 vom 8. August 1975, 6.

Überraschung

Jahr: 1975
Bereich: Stadtviertel

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