Materialien 1976
Lieber Herr Ermittlungsrichter ...
München (ID) 28. April
Seine Zweifel und Gedanken an der polizeistaatsanwaltlichen Beschlagnahmung des 68. Blattes (ID 122) brachte ein Mitarbeiter der Münchner Basis Buchhandlung zu Papier und dann in Form eines offenen Briefs an den „sehr geehrten Herrn Zeilinger“, seines Zeichens Ermittlungsrichter beim Amtsgericht München, der die Beschlagnahmung unterschrieben hatte. Der Schreiber „will gar nicht groß darüber jammern“, dass „die fixen Jungs“ die Durchsuchung und Beschlagnahme mit den gewohnten Rechtsverstößen vornahmen. In dem Brief heißt es dann:
„Mein lieber Herr Ermittlungsrichter auf Lebenszeit! Als ich mit meinen Gedanken so weit gekom-
men war, überkam mich dann doch das große Zweifeln. Abgesehen davon, dass diese Zeichnung für mich genau so gut z.B. eine Werbung der anonymen Alkoholiker zur Abkehr vom Trinken hätte sein können, fiel mir plötzlich ein: vielleicht sitzt da endlich mal ein Linker als Richter, der das
nur als Aufforderung zur noch weiteren politischen Rechtsentwicklung missverstanden hat („right on“). Man müsste also den Spruch neben der Zeichnung nur ändern in „Left on“ und alles wäre … Aber dann habe ich mir gesagt: Junge, lass diese absurden Gedankenspielereien, sonst versteigst du dich noch genau so weit wie der, über dessen Kompetenz des Durchschnittsempfindens eines Normalbürgers du gerade nachgrübelst.
Kamen mir gleich andere Gedanken: Warum lässt der Mann nicht alle frei rumliegenden Pflaster-
steine beschlagnahmen? Da nach meinen Erfahrungen als Buchhändler bedrucktes Papier so ziemlich das untauglichste Mittel ist, jemanden zu Straftaten zu verleiten, schien mir das viel einleuchtender. Oder um auf’s „BLATT“ zurückzukommen: warum gerade die S. 38? Warum nicht die S. 37 mit ihrer Aufforderung zum Exhibitionismus, die S. 36 mit der Aufforderung zum Bom-
benabwurf oder die S. 29, wo zur Republikflucht aufgefordert wird? Die Aufzählung ließe sich sicher beliebig erweitern, aber als ich so weit gekommen war, kamen mir plötzlich schreckliche Einfälle. Abgesehen davon, dass selbst ohne den neuen 88a StGB mit derart phantasievollen Begründungen uns z.B. mindestens jedes zweite Buch im Laden beschlagnahmt werden könnte (Wilhelm-Busch-Geschichten verkaufe ich schon nur noch unter dem Ladentisch, natürlich mit schlechtem Gewissen), kam mir plötzlich, dass z.B. die „BLATT“-Leute im „67. BLATT“ bekannt-
gegeben hatten, dass sie zu Ostern alle verreisen würden, wodurch natürlich die Möglichkeiten, die Öffentlichkeit ausreichend über diesen schwerwiegenden Eingriff in die Pressefreiheit zu infor-
mieren, ausgesprochen gering waren. Weiter fiel mir ein, was das wohl bei den meisten Kiosk-
und Geschäftsinhabern für einen Eindruck macht, wenn größere Polizeimengen auftauchen und behaupten, diese Zeitung, die sie da verkaufen, fordere zu ganz schrecklichen Gewalttaten heraus.
Lieber Herr Zeilinger, ich wäre sicher der letzte, der einem Richter solche Überlegungen zutrauen würde – schließlich kenne ich von früher einige Studienkollegen, die mittlerweile Richter sind und weiß, dass so jemand immer ganz anders denkt. Außerdem haben Sie den Beschluss nur unter-
schrieben, während der Antrag von ganz anderer Seite usw. Alles klar, nur wurde mir z.B. hierbei deutlich, dass es manchmal ganz sinnvoll sein kann, sich vielleicht mal zu überlegen, was man da eigentlich unterschreibt bzw. warum einem da was vorgelegt wird. Haben Sie z.B. schon einmal den „Bayernkurier“ beschlagnahmt, weil darin zu noch härterem Vorgehen gegen „Linksradikale“ aufgefordert wurde? (Wieviel Tote es hier inzwischen gibt, dürfte ja allgemein bekannt sein). Oder haben Sie vielleicht andere Zeitungen beschlagnahmen lassen, weil diese Bilder von CDU/CSU-Abgeordneten zeigten, die auf von ihnen heruntergerissenen Plakaten herumtrampelten?1 Wenn das keine öffentliche Aufforderung zur Sachbeschädigung ist. Sagen Sie jetzt nicht, der Vergleich sei absurd; ich versuche nur Ihrer eigenen Logik zu folgen. Ich bin sicher, wenn Sie wollen, können Sie meine o.a. Zweifel leicht zerstreuen.
Sollte jedoch zufällig oder durch einen Bösen-Buben-Streich in Ihrem Exemplar des Grundgesetzes der Art. 5, Abs. 1 fehlen, erlaube ich mir, diesen als Schnipselchen in der Anlage beizufügen. Ich werde mir natürlich sofort ein neues Exemplar des Grundgesetzes zulegen, damit mich nicht jemand verdächtigen kann, ich stünde nicht voll auf dem Boden desselben.
Mit untertänigsten Grüssen
Wolfgang Gartmann
Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten ID 123 vom 1. Mai 1976.
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1 Am 30. März 1976 zerriß der CDU-Politiker Philipp Jenninger in der Parlamentarischen Gesellschaft in Bonn ein dort
in einer Ausstellung aufgehängtes Plakat von Klaus Staeck mit der Aufschrift „Seit Chile wissen wir genauer, was die CDU von Demokratie hält“, mit dem Staeck auf eine Aussage des CSU-Politikers Bruno Heck anspielte, der nach dem Putsch
des chilenischen Diktators Augusto Pinochet im Jahr 1973 die Zustände in einem Sportstadion in Santiago de Chile, das
als Konzentrationslager und Folterstätte diente, wie folgt beschrieben hatte: „Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm.“ Die Ausstellung wurde nach einem Beschluss des Vorstandes der Parlamentarischen Gesellschaft noch am selben Abend geschlossen, Jenninger wurde im Juni 1976 zu einer Schadensersatzzahlung von 10 DM an Staeck verur-
teilt.