Materialien 1976

Bilderjagd in München

Unter dieser Überschrift veröffentlichte eine der bedeutendsten schwedischen Tageszeitungen – DAGENS NYHETER, Stockholm – am 16. Mai 1976 einen Artikel, der sich mit einem ganz speziellen Problem vom BLATT befasst: Dem Vorgehen von Polizei und Justiz in der besonderen Erscheinungsform der Beschlagnahme des 68. Blattes.

Die Stimmung in dem großen Geschäftslokal an der Adelgundenstraße in der Nähe der hässlichen schwarzen Statue Maximilians des II. in München ist gewöhnlich ‚gemütlich’. Von Montag bis Freitag geht dort das Volk aus und ein von früh bis spät. Man schreibt Schreibmaschine, beantwortet das Telefon, das gerade läutet oder man zeichnet und klebt.

Man sollte nicht glauben, dass Uta, Lola, Wolfgang, Gerhard, Anatol oder Adu zu den Gefährlichsten der Bayerischen Hauptstadt gehören.

Aber dies denken die Herren auf dem LKA, Landeskriminalamt, die Kriminalpolizei des Teilstaates.

Das denkt der Staatsankläger des Staates.

Fünf dieser Herren zogen in diesen Laden am Donnerstag dem 15. April kurz nach dem Mittagessen. Sie kamen nicht eher wieder heraus, bis sie 298 Exemplare der Zeitung ‚Blatt’ beschlagnahmt hatten, deren Redaktion just in der Adelgundenstraße 18 sitzt. Diese besteht aus den sechs obengenannten und einer unbekannten Zahl freiwilliger Mitarbeiter.

Der Staat Bayern pflegt vorne zu liegen vor den übrigen neun Teilstaaten der Bundesrepublik, wenn es gilt alte oder neue Terrorparagraphen durchzusetzen. Das tat er auch an diesem Tag, als seine Dienstmänner der Anwendung des bekannten § 88 a zuvorkamen, der noch nicht in Kraft getreten ist, durch einen sowohl lächerlichen als auch empörenden Eingriff gegen das Blatt.

Blatt kommt seit drei Jahren jeden zweiten Mittwoch heraus. Die Auflage liegt nun bei 9.000 Exemplaren, aber den Leserkreis schätzt man auf 30.000. Viele Kommunen (WG’s) halten nämlich ein Abonnement …

Die Zeitung arbeitet zusammen mit dem Informationsdienst, einem Alternativ-Pressebüro. Dieses verbreitet von Frankfurt aus unbequeme Nachrichten, zum Beispiel eine Liste über CIA-Dienstmänner in Bonn.

Die westdeutsche Presse ist die höchstkonzentrierte in Westeuropa. 1975 verschwanden 36 Tageszeitungen, gleichzeitig als Springers Bild-Zeitung ihre Auflage um 250.000 Exemplare steigerte auf 4,3 Millionen. Heute gibt es in mehr als zwei Dritteln des Landes nur eine Zeitung in jedem Verbreitungsgebiet. Seit 1969 haben 30.000 Grafiker ihre Arbeit verloren.

Amüsant

Blatt ist eine schüchterne Antwort auf das Pressemonopol der CSU in München. Es beinhaltet politische und kulturelle Informationen, praktische Tipps, nützliche Reklame (von Wirtshäusern bis Bekleidung), aber es gibt seinen größten Raum teils den Kleinannoncen, die alle möglichen Kontakte zwischen Menschen in einer Großstadt möglich machen, teils an ein sehr vollkommenes Programm über alles, was ‚in der Stadt’ geschieht: von TV und Kinoprogramm bis zur marxistisch-leninistischen Versammlung und der sozialdemokratischen Mieterberatung. Eine solche Zeitung wird nicht langweilig sein. Darum kümmert sich der Zeichner Gerhard Seyfried, der sie mit seinen kleinen bösen (ungezogenen) Zeichnungen anfüllt. Seine Satiren greifen gleichermaßen die Polizei des Staates an wie auch die marxistisch-leninistischen ‚Vaterlandsverteidiger’. Aber ein einzelner Mensch ist nicht imstande, alleine 48 oder 52 Seiten jede zweite Woche zu illustrieren. Da nimmt man die Schere zur Hand und schneidet aus alten Büchern und Zeitungen aus. Und ermahnt die Leser, in ihren Regalen zu stöbern und Illustrationen einzuschicken.

Das war genau das, was ich tat, als ich heimkam von einem Besuch in München, im März. Ich schickte dem Blatt ein dickes Bündel Bilder, aus alten Zeitungen und Lehrbüchern. Ich ahnte nicht, wie gefährlich ich da gehandelt hatte. Mitten unter dem Bündel befand sich nämlich ein Bild, ausgeschnitten aus der französischen Tageszeitung Liberation, die es selbst aus einer amerikanischen Zeitung genommen hatte. Das Bild stellt einen jungen langhaarigen Menschen dar, von hinten gesehen, der eine brennende Flasche wirft. Irgendein Ziel für den Flaschenwurf ist nicht gezeigt. Bei der Zeichnung steht dieses ‚right on’.

Die Polizei

Das gefährliche Bild tauchte also auf am 14. April auf der Seite 38 in der Nummer 68 von Blatt zwischen den Spalten des Fernseh- und Musikprogramms für den 2. Mai. Ohne Kommentar und ohne Zusammenhang zwischen dem Bild und den Textspalten. Am nächsten Tag schlug die Kriminalpolizei zu, nicht nur gegen das Redaktionslokal, außerdem gegen alle Zeitungsverkaufsstellen: Buchläden, Zeitungskioske, Kneipen und Cafes. Die Reaktionen der Wiederverkäufer gingen von Zorn bis Lachen, aber keiner von ihnen dachte daran, deswegen den Verkauf der Zeitung einzustellen. Die Polizei beschlagnahmte die Exemplare, an die sie herankommen konnte. Die Seite 38 enthielt also dem Staatsankläger zufolge ‚eine öffentliche Aufforderung zu Straftaten’.

Er berief sich auf § 111 im Strafgesetzbuch.

Im letzten Jahr haben verschiedene Staatsankläger in München zusammengenommen 15 000 Kronen Strafe gefordert in verschiedenen Prozessen gegen das Blatt. Manchmal für ein Wort, manchmal für ein Bild. ‚Wir sind gefährlich. Wir müssen weg. Das ist es was die wollen,’ sagt Uta in der Redaktion.

Blatt antwortete mit einem Flugblatt, das die Polizeirazzia schilderte und reproduzierte das Bild … Am 28. April tauchten ‚die Herren’ wieder auf in der Adelgundenstrasse. Sie waren zu sechst: zwei Staatsankläger und vier Polizisten in Zivil. Sie durchsuchten die Redaktion gründlich und beschlagnahmten obendrein 45 unzensierte Exemplare der Nummer 68. Um ihre Zeitungen zurückzuerhalten, mussten die Redakteure zur Polizei gehen und unter Bewachung selbst die gefährliche Seite 38 aus jedem Exemplar herausreißen!

So geht es zu in Bayern.

Der Täter muss selbst sein Werk zerstören!

Fausto Giudice


Blatt. Stadtzeitung für München 71 vom 4. Juni 1976, 6.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Bürgerrechte

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