Materialien 1976
Ulrike Meinhof ist tot
Ulrike Meinhof hat in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1976 durch Freitod ihr Leben beendet. Ich war bis zu ihrem letzten Tag ihr „Sympathisant“ und werde es über ihren Tod hinaus bleiben. Wenn das in der bundesrepublikanischen Szene so verteufelnd gebrauchte Wort „Sympathisant“ einen Sinn hat, dann heißt es: ein Mitfühlender sein, sensibilisiert zu sein und bleiben zu wollen für den moralisch-politischen Impetus, der Ulrike Meinhof in den Jahren, aus denen ich sie kenne, bewegt hat und auch immer noch in den Jahren, in denen sie zusammen mit einer verzweifelten Gruppe von „Tupamaros“ immer mehr in falsche Entscheidungen glitt und immer mehr zu gewalttätigen Handlungen neigte, die – zumindest hierzulande – durch keine „Situation“ zu rechtfertigen waren. Sie war aber auch in diesen Aktionen keine gemeine Verbrecherin, sondern eine politisch motivierte Gewalttäterin.
Das wird man im Sinn behalten müssen, weil an diesem in der Bundesrepublik erstmals aufgetretenen Phänomen sich erstmals auch die Rechtsstaatlichkeit unseres Rechtsstaates hätte beweisen müssen, bis auf den heutigen Tag aber teils kläglich, teils empörend versagt hat. Ich brauche hier nicht daran zu erinnern, was vor etwa neun Jahren – ehe es eine Baader-Meinhof-Gruppe überhaupt gab – an „Rechtsstaatlichem“, sprich Polizeistaatlichem gegen die studentische und linke Protestbewegung schon möglich war, auch nicht daran, welche Eskalation von staatlicher Gewalt, angetrieben von beispielloser Pressehetze, während der Fahndung nach Baader-Meinhof-Leuten passierte. Damals fragten sich, wenn vielleicht nicht „rechts-staatlich“, so doch rechtlich denkende Leute, was sie tun sollten, wenn Ulrike Meinhof bei ihnen vorsprechen und für eine Nacht um Asyl vor Verfolgung bitten würde. Die Antwort war (mit Angstgefühlen – ich habe darüber vor viereinhalb Jahren in den „Vorgängen“ geschrieben) für viele ziemlich klar. Was dann später an „Sondergesetzen“ am Rande des Rechtsstaates gemacht wurde, wie Staatsanwaltschaft und Gerichte mit den Angeklagten und ihren Verteidigern umgingen – alles das ist bekannt.
Ulrike Meinhof ist auf ihren ausweglosen Irrweg nicht aus Sturheit, sondern aus politischer und sozialer Feinfühligkeit geraten. Wer ihre persönliche Historie etwas kennt, daneben die parallele Entwicklung hierzulande und in der „Einen Welt“ bedenkt (Grundmotiv der Empörung war unter anderen die Hartfühligkeit der westlichen Welt gegenüber dem völkermordenden Vietnamkrieg und das gleichzeitig nicht ablassende Geschwätz über Verteidigung von Freiheit und democracy), wird feststellen müssen: Weil sie unter Ungerechtigkeit so sehr gelitten hat, mehr als Millionen, die sie lauthals verurteilen, wurde sie zur Terroristin. Nachdenklich macht mich auch – was nicht als Motivsuche für ihren Selbstmord verstanden werden sollte -, dass sie starb am Jahrestag des 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung der Deutschen (nicht durch Revolution, sondern durch einen verlorenen Krieg), der damals Generationen zu Hoffnungen beflügelte, die verloren gingen, wie zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre später eine junge Generation, die sich in der (gescheiterten) APO zu organisieren versuchte.
Von Ulrike Meinhof wird, dessen bin ich sicher, mehr bleiben. Um Brecht zu zitieren: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein. Ihr aber, wenn es soweit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unsrer mit Nachsicht.“
Am Grabe in Berlin-Mariendorf sprach neben dem mutigen Christen Helmut Gollwitzer der Rechtsanwalt Otto Schily den wichtigen, menschlichen Satz: „Der Tod und das Leiden von Ulrike Meinhof möge ein Zeichen für die Hoffnung der Menschheit sein.“ Es wäre mir tatsächlich ein Zeichen der Hoffnung, wenn – hierzulande unerhört – am Grabe einer politischen Terroristin eine solche gemeinsame Solidarität Zustimmung finden würde. Dann behielte auch der Satz, den Demonstranten plakatierten, von der „Trauer und Wut, die wir nie verlieren werden“ einen Sinn: Trauer um diese aufrechte Frau, Wut, nicht in den Methoden, aber in der Sache, die sie bewegt hat.
Gerd Hirschauer
Dieser Artikel ist keine offizielle Stellungnahme der Humanistischen Union. Die „Mitteilungen“ drucken ihn ab, weil in ihm eine Betroffenheit artikuliert ist, die dem Denken von HU-Mitgliedern nahekommen könnte.
Mitteilungen der Humanistische Union 75 vom Juni 1976, 12.