Materialien 1976

79. BLATT auf den Index gesetzt - bei den Vertriebsstellen beschlagnahmt

München (Blatt/ID) 27. Oktober

Folgender Bericht ist vom BLATT geschrieben worden. Die alternativen Zeitungen haben sich auf einen Solidaritätsabdruck im Falle staatlicher Repression geeinigt …:

Gott, wie putzig, dachten wir, bis wir sehr schnell merkten, wie ernst diese Beschlagnahme ist. Neun bis zehn Tage nach Erscheinen setzten sich die Herren Gesetzeshüter in Marsch und kassierten das noch vorhandene Potential an 79. Blatt.

Hatten wir wieder politisch über die Stränge geschlagen? War der Staat mitsamt seinen Symbolen wieder verunglimpft worden, oder war Aufforderung zu Straftaten und deren öffentliche Billigung in Tateinheit mit Befürwortung und Verherrlichung von Gewalt im Spiel?

Weit gefehlt, lieber Leser. Diesmal war es die Sitte, die zugeschlagen hat. Wie wir später und erst auf Drängen unseres Rechtsanwalts erfuhren, ging es diesmal um den Päderastie-Artikel, mit dem wir eine Diskussion über Sexualität und linke Moral in Gang bringen wollten, und die so jugendgefährdend ist, dass sie unbedingt auf den Index muss.

Wer sich jetzt aber vorstellt, dass diese Herren die Redaktionsräume auf den Kopf gestellt hätten, um den letzten Rest Schmutz zu verhaften und unter Anklage zu stellen, liegt heute wirklich völlig falsch. Betroffen sind (erstmal jedenfalls) die Kioske und Läden, und Kneipen und Kinos und Theater, also unsere Vertriebsstellen, die in gutem Glauben das Blatt ausgelegt und ein Titelblatt ausgehängt hatten. Denn die haben sich nach Auffassung des herrschenden Rechts schuldig gemacht, der „Verbreitung jugendgefährdender Schriften“. Das hat man ihnen zwar nicht überall gesagt, der Beschlagnahme-Beschluss wurde auch nur so vors Gesicht gehalten, dagelassen hat man in den wenigsten Fällen etwas Schriftliches, aber dafür wurde den Kioskbesitzern mit Anzeige gedroht und mit Ladenschließung, falls so ein Fall von „Verbreitung jugendgefährdender Schriften“ noch einmal vorkäme. Man kann sich wohl vorstellen, wie das auf unsere Vertriebsstellen gewirkt hat. Wegen des BLATTs die Existenz verlieren?

Die Sitten- und anderen Wächter sind streng. Ein Problem zu diskutieren, es tiefer anzugehen und zu lösen, das ist nicht ihre Aufgabe und überschreitet bei weitem den Bereich ihrer ohnehin schon geringen Kompetenzen.

Aber immerhin reichen die soweit, eine Zeitung erstmal zu beschlagnahmen, die Vertriebsstellen einzuschüchtern und uns einen finanziellen Schaden zuzufügen.

Denn anders als bei unseren Polit-Sachen, die wir – BLATT – selbst mit der Justiz ausfechten, gehn sie diesmal über die Vertriebsstellen vor.

Wenn die Kioske eine Anzeige bekommen und Strafe zahlen müssen, wenn sie dann das BLATT nicht mehr verkaufen, trifft uns das natürlich hart.

Außerdem droht uns bei einem zweiten Vorfall dieser Art eine Dauer-Indizierung. Dann wird, wenn überhaupt noch, das BLATT unterm Ladentisch gehandelt.

Selbst wenn, wie beim 68. BLATT, die Beschlagnahme nach x Wochen aufgehoben und für rechtswidrig erklärt wird, so wird immer ein schaler Geschmack zurückbleiben. Gerade bei den Vertriebsstellen.

BLATT-Redaktion.

NACHTRAG ZUR AKTION GEGEN DAS „BLATT“

Von der Aktion der Polizei haben sich die Besitzer von elf Vertriebsstellen einschüchtern lassen: sie verkaufen das „Blatt“ nicht mehr. Viele andere sind verunsichert. So fragte einer in der Blattredaktion nach, ob er das 80. Blatt (soeben rausgekommen) verkaufen könne. Aber es gab auch Vertreiber, die den Blattleuten sagten: „Ist ja wie im 3. Reich“ und „Nu soll’n se mal kommen“.

Gewesen sind die Sittenhüter bei 40 Vertriebsstellen, bei 25 haben sie insgesamt 350 Ausgaben vom Blatt 79 beschlagnahmt, ohne etwas schriftliches wie Verfügung oder dergleichen vorzulegen. Dafür haben sie den Kioskbesitzern mit Anzeigen gedroht. Einer wurde genötigt: Er musste unterschreiben, dass er das „Blatt“ nicht mehr verkauft.


Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten ID 149 vom 30. Oktober 1976.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Bürgerrechte

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