Materialien 1976
Eine weitere Unverschämtheit: Einbruchsversuch ins sozialistische Lagerhaus
— Ordnung der politischen Posten und Positionen erfolgreich wiederhergestellt
— Schaden an der sozialistischen Sache geringfügig
Am Mittwoch, dem 1. Dezember, hatte die Bürgerinitiative gegen Berufsverbote im Schwabingerbräu unter dem Motto „Wissenschaftsfreiheit — Holzer: Beamter auf Lebenszeit!“ zu einem Vortragsabend mit international bekannten Gelehrten geladen. Nicht vorgesehen war dabei eine Diskussion der Biermann-Ausweisung. Der Blick auf die Einheitsfront gegen die Berufsverbote sollte sich konzentrieren auf die BRD-Verhältnisse. Einige Tage davor hatte Professor Horst Holzer schon einen Schritt in diese Richtung getan, indem er seine ursprünglich (solidarische) Stellungsnahme zur Biermann-Ausweisung nach Maßgabe der DKP-Führungslinie korrigierte (siehe UZ).
19.25
Von dem wachsamen Auge der Ordner unbemerkt, dringen als Bürokraten verkleidete subversive Elemente in den erwartungsgespannten Saal ein.
19.40
Eine von diesen gefährlichen Irren in vernünftigem Ton abgefasste Unterschriftenliste (Solidarität mit Herrn Holzer!) kann von den zahlreich versammelten Berufsverbotskämpfern noch gebilligt werden. In sozialistischer Sollerfüllung huschen die Stifte über das Papier. Und nur unserer Bundesregierung mit ihrem Gesetz gegen das Kleingedruckte ist es zu verdanken, dass zahlreiche DKP-Genossen nicht ihre Gesicht verlieren, als von zentraler Stelle aus auch jenes Kleingedruckte verlesen wird: „Wir sind mit dem in der DKP-Bredouille sich befindenden Holzer solidarisch! Ein Mann — ein Wort — eine Unterschrift. Verantwortlich Rosa Benelux (Die Seife der mittleren Führungskader)“. — Würdig wird von Professor Holzer dieser obszöne, betrügerische Angriff abgewehrt. Als souveräner Kenner der Wissenschaftslogik beweist er: „Wenn ich in der DKP-Bredouille wäre, hätte ich kein Berufsverbot.“
19.45
Auf die eindringliche Versicherung des Versammlungsleiters Peter Stuyvesant, dass die Lage noch viel ernster sei, als dies einige anwesende Chaoten glauben mögen, reagiert die Masse der werktätigen und fortschrittlichen Menschen mit betroffenem Schweigen. Die Veranstaltung nimmt ihren vorgesehenen Lauf. Auf dem Podium eine Riege von international bekannten Professoren, die alle zu Wort kommen wollen. Am Rednerpult Prof. H. Holzer, das Ziel dieser Veranstaltung fest im Visier: Auch er will, wie seine internationalen Kollegen lebenslänglich verbeamtet seien. Seine Inauguralvorlesung dokumentiert: Die notorische Überlegenheit des wissenschaftlichen Sozialismus ist auch die seine. Während dem ehrwürdigem Anlass gemäß wohl auch der letzten Parteimaus das Blut in den Adern gefriert.
20.05
Filmriss! Ein langsam anschwellender, dumpfer Chor „Es gehehet jetzt seinen sozialistischen Gang“ erschallt von der Galerie. Ein bunter Flockenwirbel von Flugblättern anstößigen Inhalts trübt die klare Sicht auf die Einheitsfront. Wenig gefestigte Charaktere raffen gierig die Flugblätter zusammen, die ernsten Gesichtszüge geraten ins Wanken, vorwärts gerichtete Blicke schweifen ziellos umher. Die Positionen im sozialistischen Lagerhaus sind durcheinandergebracht. Was ist das für eine Sparte? RCDS, KPD, ML, Rumpelstilzchen, Narren, Provokateure, Rotkäppchen, Böser Wolf???? — Soll jetzt alles im Chaos untergehen? Der allseits vielgeliebte Professor Holzkamp, in seinem RedefIuss unterbrochen, wirft sogleich das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit auf die Waagschale der demokratischen Abstimmung: „Wollt Ihr mich oder nicht?“ Erst als sich die Ordnungskräfte zur Mehrheitsentscheidung bekennen, „kommt’s, hört’s auf, wir sind mehr Ordner als Ihr“, neigt sich die Waagschale dem realen sozialistischen Gang zu.
20.10 bis 20.25
Dank fünfzehn wachsamer Ordner und derer Fäuste keine besonderen Vorkommnisse.
20.26
Eine Verzweiflungstat der bedrängten Irren: In unbändigem Opferwillen entledigt sich ein irres Subjekt seines teuer eingekauften Abendessens: Beinahe unbemerkt seilt es zwei Schweinsfüße vom Geländer ab; diese an die Mär vom abgeschnittenen Parteifuß (Biermann) erinnernden Ekelstücke baumeln den Genossen unten im Saal direkt vor der Nase. Diese provokanten Objekte werden aber ebenso entschlossen beseitigt wie auch ein von der gegenüberliegenden Seite herabhängendes Sicher- und Fuß-Emblem. Auch ein als Nikolausstiefel getarnter Arbeiterfuß wird schamhaft entfernt.
20.35
Die solchermaßen ihrer Produktionsmittel beraubten Irren singen das schöne Kinderlied vom Fuß. Ein spontanes Übergreifen auf einige andere Tischgesellschaften unten im Saal kann nicht verhindert werden. Circa zwanzig Ordner isolieren also den Krankheitsherd vom gesunden Kern und halten die Entzündung unter Kontrolle: „Noch ein Wort, und Ihr werdet verprügelt, bis Ihr nicht mehr gehen könnt!“ Ein DKP-Held impft nach: „Keine Diskussion“. Er bewahrt damit die Ordner vor möglichen Infektionen und Schwächeanfällen. Deren Alternative: „Entweder Ihr haltet’s Mei’, oder Ihr fliagt’s von da Brüstung!“ Professor Dr. Holzer schlicht aber prägnant: „Wenn Ihr ruhig gewesen wärt, hätten sich auch die Ordner anders verhalten“. Die eingangs von Holzer auf die Probe gestellte und innerhalb der Forschungslogik bestens bewährte Methode des „Wenn-Dann“ bezeugt auch hier wieder die schon sprichwörtliche Schlagkraft des wissenschaftlichen Sozialismus.
21.00
Dem klaren Bekenntnis zum sozialistischen Eigentum („Das ist unsere Veranstaltung“) wird zum endgültigen Durchbruch verholfen. Diesmal noch können die Narren zur stummen Einsicht gebracht werden. Ein Schlichter: „Ihr müsst doch verstehen, die Ordner haben den ganzen Tag geschuftet und wollen jetzt eine ruhige Versammlung!“
21.46
Es gehehehehet nun alles wieder seinen sozialistischen Gang.
Überlegung:
Wie lange will die sogenannte Einheitsfront gegen Berufsverbote ihre eigenen Widersprüche ausgrenzen? (Wenn Biermann, der die Partei „als einzige Hoffnung der deutschen Arbeiterklasse“ bezeichnet, Berufsverbot erhält + ausgebürgert wird, ist er ein Spalter + Anti-Sozialist) War es der Klassenfeind, der die Linke in Widersprüche gebracht hat, oder war es die SED? Wie verhalten wir uns zu solchen Widersprüchen? Können wir uns nur mit dem Verstand, durch vernünftiges Diskutieren wehren? Begrüßen wir die Notwendigkeit des Widerstands begeistert oder sind wir nicht erstmal gezwungen Widerstand zu leisten? Leiden wir da nicht auch drunter, haben Angst, sind traurig? Müssen wir nicht auch unserer Gespaltenheit Ausdruck geben, wenn wir gegen Berufsverbote kämpfen und doch von der Abschaffung der Arbeit träumen? Können wir uns nur dann gegen Berufsverbote wehren, wenn wir in diesem Widerstand unsere Arbeitswilligkeit, Ordentlichkeit und Qualifikation demonstrieren?
Blatt. Stadtzeitung für München 83 vom 10. Dezember 1976, 10 f.