Materialien 1976

Das Münchner Räteterritorium

im Schimmer der Pariser Commune

1.
Am späten Nachmittag der Novemberrevolution erlebte Deutschland den Hauch der Commune, der organisierte Dilettantismus der KP und weißer Terror sorgten dafür, dass er vorüberging wie der Föhn.

2.
Ging die Commune als erstes proletarisches Fest in die Vorgeschichte ein, so blieb die Rätemacht in Bayern im Räderwerk historienverwaltender Parteibeamter oder als Vorspiel zu de Sades ‚Marat’ mit einer ganzen Stadt als Klinik auf der Strecke. So tief, wie sonst nur Seuchenopfer begraben werden, verscharrte die heilige ‚Kanaille’ die Wahrheit, mit der Angst im Nacken, dass das Grab sich öffnen könnte. Es läuft ihnen nicht ohne Grund ein Schauer über den Rücken, wenn sie dabei an ‚Dracula’ erinnert werden; denn sie sehen ihre Köpfe schon auf Zaunpfähle gepflanzt – wie es einst der rumänische Fürst mit seinen Bauern machte. Sie wissen gleichfalls, wie gut das Proleta-
riat lernt, wie wenig es vergisst, und dass sie es sind, die vergessen, dass das Proletariat schon immer eine unterirdische Existenz führte. Begraben hilft da nicht.

3.
War der ‚Spartacus-Aufstand’ in Berlin die Erhebung gegen die Pläne der Führer, die Rebellion von des Kaisers ‚liebstem Spielzeug’ – der Kieler Matrosen, die ihre schwimmenden Särge verließen – die eiserne Kolonne im Novembergewitter, so war die bayrische Rätemacht die Monsunzeit in un-
seren ‚teutonischen Urwäldern’. Sie schwemmte die Biergemütlichkeit für eine knappe Zeitspanne fort, zu kurz und doch lang genug, um das Mögliche zu zeigen, so dass das Phantastische stranden konnte.

4.
Die Verleumdungen, die sich aus dem letztlich peinlichen Schweigen abzeichnen, jener Angst ge-
schichtsverwaltender Beamten, einmal Sätze auszusprechen, die als ‚Stunde der Wahrheit’ ihren Berufsmystizismus hervortreten ließen, richten sich gegen die latente Ignorierung der Führer durch die Arbeiter in München. Es war mehr Verschwinden von glorifizierten Führern als deren Anwesenheit zu beobachten, denn die Gestalten, die während jeder Loge auftauchten, waren alles andere als Führer. Gewollt oder ungewollt setzten sie eine Komödie in Szene und verlegten da-
durch einem bayerischen Lenin den Weg. Sie fanden ihr Waterloo nicht in Belgien, sondern an der Isar.

5.
Alle Rollen sind während der bayerischen Rätezeit aufgeführt worden. Spielte die SPD nicht einmal mehr eine eigene Rolle, so fiel es ihrer moralischen Abspaltung, der USPD, zu, etwas von der Rüh-
rigkeit jener Paulskirchener von ’48 aufs Parkett zu bringen, den Anarchisten jener Part des Absur-
den, von wo aus sich alles Institutionalisierte lahm legen lässt, auch wenn es ernsthaft angegangen wird, und letztlich der KPD die Stimme des Heldentenors, das einzige, wozu dieses Gebilde – mit allen seinen nationalen wie auch internationalen Schwestern, Vettern, illegitimen Kindern – fähig war und bis heute ist. Hierdurch konnte sich das Proletariat selbst erfahren, jeder Lohnarbeiter konnte das Ende seiner Lage spüren, bevor das Kapital ihn zurückerobern konnte. Dies ist das ein-
zige, was zählt, gestern in München wie vorgestern in Paris, die Augenblicke nämlich, in denen so-
wohl Kapital als auch die Parteien, Grüppchen und ähnliche Krämerbuden des Überlebens leerlau-
fen bzw. paralysiert sind.

Es liegt in all diesen Augenblicken mehr Poesie als in all dem, was zwischen Buchdeckeln versam-
melt werden kann, für solch einen Augenblick lohnt es sich, da zu sein, alles andere ist letztlich lächerlich.

6.
Keiner weiß dies nicht – damit soll niemand mehr hausieren – , auch nicht, dass diese Zeit der Räte in Bayern uns nichts und doch alles sagt. Wir können mit der 11. Feuerbachthese anfangen, über Heines Bemerkung, dass Institutionen gleichgültige Dinge sind, solange es um die Idee des Lebens selbst geht, zu Bakunin übergehen, der im Zerstören eine schöpferische Lust fand, um heute nur noch sagen zu brauchen:

Das Leben lindern, die Welt verlindern!

Mit all den
Professoren, Dichtern, Malern, Politikern, Bürokraten, Psychologen, Ausstellungsbesuchern, Galeriefetischisten, Soziologen, Freunden des Kinos und des Fernsehens, Journalisten, Frauen-
rechtlerinnen, Männerrechtlern, Kinderrechtlern, Pädagogen und anderen Geisteskranken
keine Nachsicht mehr.

Es leben die Wütenden – Es wüten die Lebenden.

Die Subrealisten Bewegung
April 1976

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Dieser Text ist als Stellungnahme zu einer Ausstellung über die Münchener Räteereignisse ent-
standen. Sie stieß bei dem Verantwortlichen dieser Ausstellung, obwohl er sich aufrichtig mit dem Inhalt des Artikels identifizierte, auf einige Bedenken wegen des Schlussabsatzes. Wir möchten deshalb noch einmal betonen, dass es keine Beschimpfung von Professoren usw. ist, sondern nur von deren Berufsrollen, aber doch eine, soweit sie sich mit dieser Rolle identifizieren und sie ver-
teidigen. Die Thesen von dieser Schlussbemerkung zu lösen, hieße, keinerlei Schlüsse aus ihnen zu ziehen.

Die Thesen wurden des weiteren in dem Buch: „Erich Mühsam, Von Eisner bis Levine …“, als Dokument abgedruckt.


Revolte! Organ der Subrealisten 15/16 vom Juni 1976, Hamburg, 64 f.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Gedenken

Referenzen