Materialien 1976

Vom Verhältnis von Kultur und Geschichte

Am Beispiel der Ausstellung über den bayerischen Kurfürsten Max Emanuel 1976 in Schleißheim bei München

Die „Max-Emanuel-Ausstellung” dieses Jahres in München hat vor allem eines bestätigt: das Inter-
esse der Öffentlichkeit an der Geschichte wächst wieder. Bei dieser „historischen Ausstellung” war der Versuch unternommen worden, ein Geschichtsbild vor allem aus der überlieferten Kunst und Kultur um 1700 zu entwerfen. An dieser Methode hat sich die Kritik der Fachleute festgemacht. Dies soll Anlass sein nach der Rolle der Geschichte in unserer Kultur zu fragen.

Die Ausstellung

1976 jährte sich der 250. Todestag des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel (1662 – 1726). Zum Gedenken daran fand im Alten und Neuen Schloss Schleißheim bei München vom 2. Juli bis 17. Oktober eine Ausstellung unter dem Titel „Kurfürst Max Emanuel. Bayern und Europa um 1700” statt. An der Lebensgeschichte des Wittelsbachers sollte ein Bild dieser schillernden Epoche und seiner barocken Kultur entstehen. Die Stationen seines fürstlichen Lebens, die „großen Ereignisse, die er mitmachte” (Glaser) sollten aus Gemälden, Skulpturen, Möbeln, Waffen, Druckwerken an-
schaulich werden. Die These der Ausstellungskonzeption lag darin, dass aus den überlieferten Stücken barocker Repräsentationskultur, die im Zusammenhang mit Max Emanuel entstanden sind oder von ihm in Auftrag gegeben wurden, die Intentionen der Auftraggeber deutlich und den Blick auf „Selbstgefühl, Stil, Geschmack” freigeben würden, mit denen der fürstliche Auftraggeber seine Welt sah. Das unter Max Emanuel entstandene Schloss Schleißheim bei München, ein groß-
artiges und exemplarisches (aber eben nicht vollendetes) Zeugnis höfischer Architektur, war hier-
für der adäquate Ort. Allerdings ließ der Untertitel „Bayern und Europa um 1700” den Eindruck zu, als ginge es der Ausstellungskonzeption darum, wesentliche und idealtypische Elemente herauszu-
arbeiten, ein umfassendes und übergreifendes Bild der Epoche zeichnen zu können. Das Leben Max Emanuels war verflochten in die europäische Politik. München, Wien, Brüssel waren wesentli-
che Stationen. Die adlig-höfische Kultur, in der er lebte und deren Wertmuster er vollzog, verband die Oberschicht Europas. Die Verschwägerung der Dynastien war ein Mittel zur Machterweiterung. Die Rivalitätskämpfe und politischen Spannungen, die sich daraus ergaben, brachten europäische Kriege über die Länder. Lebenswelt und Kultur, wie sie am Beispiel Max Emanuels vorgeführt wur-
den, integrierten die adlige Oberschicht am gemeinsamen Leitbild Ludwigs XIV.

Das Land Bayern um 1700 war betroffen von der Politik und vom Lebensstil seines Kurfürsten. Die Kriege ließen das bayerische Volk ausbluten. Die aufwendige Hofhaltung und die Kriegskosten er-
schöpften die finanziellen Ressourcen. Von den XXX Abschnitten der Ausstellung war nur einer, der XXX., dem bayerischen Volk gewidmet. Er befasste sich unter dem Titel „Land und Volk” mit dem strukturellen Aufbau der Ständegesellschaft Bayerns, war mit großer verfassungs- und sozial-
geschichtlicher Präzision erarbeitet und zählte sicher zu den besten Teilen der Ausstellung. Aber vom bayerischen Volk selbst, von den Lebensverhältnissen und Kulturformen der Menschen außerhalb des Hofes erfuhr man nichts. Den bayerischen Bauernaufstand von 1705 hatte die Aus-
stellungskonzeption zwar berücksichtigt, eine sozialgeschichtliche Interpretation der Gründe und Ursachen, die auf der katastrophalen Verschlechterung der Lebensbedingungen durch die Kontri-
butionen an die österreichischen Besatzer aufbauen müsste, fehlte. Dies muss vor allem deswegen verwundern, weil die 1976 erschienene Biographie Max Emanuels von Ludwig Hüttl gerade diesen Aufstand zum Anlaß nimmt, um die Sozialstruktur der Zeit herauszuarbeiten.1

Inwiefern also Bayern um 1700? Der Hof Max Emanuels hatte 1701 schätzungsweise 2.000 Köpfe; Bayern, das damals aus Ober-, Niederbayern und der Oberpfalz bestand, 800.000 Einwohner. Die Beschränkung der Ausstellung im wesentlichen auf den Hof und seine barocke Kultur mag unter dem Aspekt der Biographie Max Emanuels legitim erscheinen. Seine Distanz zum Volk aber war groß. Dieses konnte die höfischen Feste, gemäß der absolutistischen Herrschaftsideologie, allen-
falls aus geziemender Distanz bestaunen. Bayern um 1700, in der Vielfältigkeit seiner Gesellschaft, den regional differenzierten Ständekulturen, wurde also nicht dargestellt.

Dennoch, die Ausstellung war ein Erfolg. Die Gesamtzahl der Besucher stieg auf die stattliche Zahl von 277.000. Darunter waren freilich allein 53.600 Schüler, deren Besuch vom Kultusministerium praktisch angeordnet worden war. Die Bundeswehr stellte ebenfalls ein halboffiziell beordertes Kontingent. Berücksichtigt man dann noch die circa 50.000 touristischen Besucher Münchens pro Jahr, die sowieso zum Schloß Schleißheim hinausfahren, so relativiert sich die Gesamtzahl ent-
scheidend. Die Ausstellungsleitung hat aber vor allem die absolute Besucherzahl als Beleg für den „großen Erfolg” herangezogen, um das verhaltene bis kritische Urteil der Historiker und Kunsthi-
storiker zu mildern. Die Besucherzahl, so meine ich, könnte aber nur eines beweisen: das Interesse der Öffentlichkeit an Geschichte und Kultur ist groß.

Der bayerische Staat hatte die ansehnlichen Kosten von 2,4 Millionen DM übernommen. Aus den Einnahmen der Ausstellung, vor allem Eintrittsgeldern, floß ein Drittel dieses Betrags wieder in die Staatskasse zurück. Ausstellungsleiter war der Münchner Professor für Didaktik der Geschichte, Hubert Glaser. Als Veranstalter zeichneten die „Arbeitsgruppe Haus der bayerischen Geschichte” (eine Arbeitsgemeinschaft), die staatliche Schlösserverwaltung, das bayerische Nationalmuseum, die Staatsgemäldesammlungen und staatlichen Archive Bayerns. Die reichen Bestände der Kunst-
sammlungen prägten denn auch die Ausstellung. Über 1.000 Exponate waren in die dreißig Ab-
schnitte aufgenommen worden. Ihre Gliederung orientierte sich an der Lebensgeschichte Max Emanuels, den bestimmenden politischen Ereignissen der Epoche, wie den Türkenkriegen oder dem spanischen Erbfolgekrieg. Aber auch für den Hof typische Kulturformen wie Musik am Hofe, Höfische Jagd, Frömmigkeit am Hofe waren zu eigenen Bildern zusammengestellt, Die zahlreichen Porträts gaben Anlaß, die dynastischen Zusammenhänge studieren zu können. Dieses Interesse er-
stickte jedoch bald an der Überfülle der Objekte.

Ausklammerung der gesellschaftlichen Zusammenhänge

Wer etwas über die gesellschaftlichen Zusammenhänge, über die typische Struktur des Hofes und die Adelsgesellschaft Europas, über die Funktion der Kunst und des Kunstmäzenatentums der Zeit erfahren wollte, war in der Ausstellung allein gelassen. Der Titel der Ausstellung hatte verspro-
chen, zu dieser Biographie nicht nur eine Quellensammlung zu bieten, sondern sie zum Modell für eine historisch erarbeitende Darstellung zu nehmen, anhand des Materials mit didaktischen Me-
thoden ein Gesamtbild zu entwerfen, dessen einzelne Elemente die wesentlichen Charakteristika hätten herausarbeiten können.

So aber blieb die Ausstellung ein Zwitter: zum Teil verzettelte sie sich im kunstgeschichtlichen De-
tail, erschöpfte sich im beschreibenden Erstaunen vor der Leistung des Künstlers, oder sie verlor sich an der ereignisgeschichtlichen Oberfläche der Epoche. Die Kunst- und Quellensammlung prägte den Charakter. Die eigentliche historische Erarbeitung war dem ersten Band des Katalogs2 überlassen, der teilweise ausgezeichnete Beiträge enthält. So lagen die Schätze der Zeit in großer Zahl vor, ein Geschichtsbild der Zeit aber entwickelten sie nicht. Oder besser, die dargebotene Kunst und Kultur stellte sich als Geschichte vor. Der Besucher konnte dem Schein erliegen.

Es entstand ein Bild, das sich der Perspektive seines Gegenstandes unterordnete und gemäß der absolutistischen Ideologie den Betrachter in Staunen verfallen ließ. Das aber war eine der wesent-
lichen politisch-ideologischen Funktionen der barocken Auftragskunst, die an der Aufgabe gemes-
sen wurde, wie gut sie den Herrscher glorifiziert, seinen Ruhm mehrt.

So wurde nicht die historische Betrachtung, die verstehende Analyse und die strukturelle Erarbei-
tung der Kultur der Zeit ermöglicht, sondern der Besucher mußte sich Absicht und Wirkung der höfischen Kunst und Kultur ausliefern: er mußte die Faszination an der Darstellung der edlen Er-
habenheit und des Ruhmes des absoluten Herrschers Max Emanuels, die ein wesentlicher Teil der Herrschaftslegitimation gewesen war, nachvollziehen, sie wiederholen. Die Herrschaftsideologie, die die Kunst zum Mittel machte, konnte so nicht durchschaubar werden. Vielleicht ist diese Wir-
kung auch bei einem Teil der an der Erarbeitung der Ausstellung beteiligten Kunsthistoriker und Historiker mächtig geworden. Dann wäre erklärbar, warum vor allem Quellen herangezogen wur-
den, die ein positives Bild Max Emanuels ergeben mußten und auf die ebenfalls quellenmäßig vor-
handenen Bankrotterklärungen und die Zeugnisse der not- und unglückstiftenden Politik dieses Wittelbachers, die für das bayerische Volk die Katastrophe brachte, verzichtet wurde. Die histori-
sche Wahrheit hätte zwei Gesichter gehabt.

Der Kurfürst und die politische Funktion der höfischen Kultur

Wer aber war eigentlich dieser Kurfürst, daß man ihm zum 250. Todestag mit ansehnlichen finan-
ziellen Mitteln eine Ausstellung widmete? War er tatsächlich jener kunstsinnige Fürst, der zwar in Kriege verwickelt wird, der auch den Fehler hat, daß er seine Macht mehren wollte und deswegen im politischen Spannungsfeld der europäischen Großmächte Spielball wurde, der zwar von Bayern nichts wissen wollte, das Land gern eintauschen würde, der aber dann doch sein Schicksal, als die-
se Pläne scheiterten, der Kunstförderung ergeben, geduldig trug, dessen Ruhm als Kriegsheld zu bewundern ist? Eine historische Figur, die darin tragisch erscheint, daß sie den Schwächen der Zeit erliegt, die aber großartige Kunst durch ihr großzügiges Mäzenatentum stiftete, an deren Überliefe-
rung uns Freude erwächst?

In der Ausstellung selbst erfährt man vor allem Stichworte: seine Stellung in der wittelsbachischen Genealogie, seine Abstammung, seine Kriegstaten in den Türkenkriegen, die Eroberung von Bel-
grad (1688) und von Namur. Die Bilder sind triumphal, der Kriegsheld bleibt im Gedächtnis. Der „blaue Kurfürst” wird zum Begriff. Von der Verschwägerung mit den Habsburgern, der spanischen Statthalterschaft, sein Unglück mit dem Söhnlein, das zu früh stirbt und die aussichtvolle Anwart-
schaft auf die spanische Thronfolge mit ins Grab nimmt. Dann die Koalition mit dem französischen König, der gute Subsidien zahlt (finanziell die Vorteile eines Bündnisses mit den Habsburgern aus-
sticht), mit denen die Pracht des Hofes teilweise finanziert werden kann. Der spanische Erbfolge-
krieg und die Vertreibung aus dem bayerischen Stammland.

Ein Fürst, der sich als Kriegsheld hervorgetan hat, der um Erweiterung und Mehrung seiner Macht ringt, der aber vor allem als kunstsinniger Mäzen Bilder und Bauten in Auftrag gibt, der nicht knauserig ist und das Schaffen der Künstler mit eigenem Geschmack fördert und verfolgt, dem es gelingt, die höfische Kultur zur Blüte zu bringen, der es trotz seiner Schwächen gut meint.

Daß dieses Bild einseitig ist, Wesentliches verschweigt, ist wohl nicht Absicht. Vielleicht steht da-
hinter vor allem das Bedürfnis einen „guten und für sein Land wohltätigen Fürsten” finden zu können. Leider kann der Ausstellungsbesucher ein objektiveres Bild erst durch die Erarbeitung der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur erhalten.

Die Entwicklung des Staatsschatzes während der sechsundvierzigjährigen Regierungszeit war ka-
tastrophal. Durch die verschwenderische Verschleuderung des Geldes wuchs ein Schuldenberg von fast 27 Millionen Gulden an, der zehnfache Betrag der jährlichen landesherrlichen Einkünfte. Das Land Bayern bewegte sich deswegen die nächsten hundert Jahre immer am Rande des Staatsbank-
rotts. Karl Bosl, der Münchner Ordinarius für bayerische Landesgeschichte, nennt Max Emanuel deswegen den „fürstlichen Bankrotteur“3.

Mit dem Land Bayern und dem bayerischen Volk hatte der Kurfürst wenig im Sinn. Es war ihm zu klein, konnte seinem Ehrgeiz und Darstellungsbedürfnis nicht genügen. Er wollte es eintauschen, ein größeres Land gewinnen, das mehr höfische Prachtentfaltung hätte tragen können. Seine Bündnispolitik mußte das Land, das militärisch nicht zu verteidigen war, der feindlichen Besetzung öffnen und Kriegsleid und Not für die Bevölkerung bringen. Dies war auch damals absehbar, aber gegenüber dem Glück, der Existenz, dem Wohlergehen seiner bayerischen Untertanen verhielt sich Max Emanuel gleichgültig. Er betrachtete sein bayerisches Land bestenfalls als Ressource.

Aber die ungeheuren Summen, die er mit einer geradezu verschleudernden Finanzpraxis für die Finanzierung des prächtigen Hofes und seiner Kultur, für das Heer und die Kriege, für die höfi-
schen Bauten und Aufträge an Künstler steckte, hatte er nicht. Er mußte neben politisch verpflich-
tenden Subsidien durch den französischen König Ludwig XIV. durch korrupte Finanzmakler uferlose Kredite erhandeln. So lange das Geld irgendwie beschafft werden konnte, so scheint es, war ihm das gleichgültig. Die Schätze des Landes und der Besitz der Untertanen wurden durch Steuern, Krieg und Kontribution „ausgepowert” und verpfändet. Wichtig war, daß er prächtigen Hof führen konnte und die Aufwendungen für Kunst, Kultur und Bauten irgendwie aufgebracht oder in Aussicht gestellt werden konnten. Beruhte seine „Kunstsinnigkeit”, seine „barocke Freude am Lebensgenuß” auf Großmannssucht, auf Skrupellosigkeit und verschwenderischer Schlampe-
rei? War die so „geförderte” Kunst und Kultur mit dem Leid, den Tränen, existentieller Not und Verderben der Untertanen erkauft? Hatte der Kurfürst Max Emanuel eigentlich autonome Ent-
scheidungsfreiheit, war er Herr über seine Handlungen oder stand er selbst in einem Netz von Zwängen, von Wertmustern seiner Umgebung, die die höfische Kultur zusammenhielten, denen er genügen mußte, denen er sich aus charakterlicher persönlich-individueller Schwäche oder man-
gelnder eigener Einsicht nicht entziehen konnte? Vollzog er, dessen souveräne Entscheidungsge-
walt, dessen Taten und Leben die Ausstellung als sein individuelles Handeln vorstellt, in Wirk-
lichkeit die Normen, Wertmuster, die Mentalität, die in der höfischen Oberschicht und barocken Kultur vermittelt waren? Kann man seine Biographie, sein Leben und Handeln nicht verstehen, solange man die „Geistesverfassung”, die Normen, Werte und Verhaltensweisen der adlig-höfi-
schen Schicht, die nur ein verschwindend kleiner Teil der Gesamtgesellschaft ist, und ihrer Kultur nicht kennt?

Die soziale Dimension der höfischen Kultur

Was aber bleibt dann an der „Kunstsinnigkeit” dieses Max Emanuel, wo ist seine individuelle Einstellung zu sehen, wo aber ist er nur Gefangener der gerade auch für ihn verbindlichen Nor-
men, oder erliegt er ihnen aus charakterlicher Schwäche? Ein ausgezeichneter Aufsatz im Darstel-
lungsband des Katalogs von Jürgen Freiherr von Krüdener, der auf der grundlegenden Arbeit von Norbert Elias über die höfische Gesellschaft4 aufbaut, analysiert die zentrale Bedeutung des Hofes und seiner höfischen Kunst und Kultur als politischer Institution, die der Durchsetzung des Abso-
lutismus dient. Dieser Ansatzpunkt verändert allerdings auch unsere Perspektive. Von der „Kunst-
sinnigkeit”, dem Streben nach der Förderung schöner und wertvoller Kunst und Kultur her, wird der Blick freigegeben auf das Streben nach Durchsetzung der absolutistischen Macht und auf die soziale Dimension der höfischen Kultur, in der damals Menschen subjektiv Freude und Genuß empfanden wie auch Zwänge und Entfremdung zu spüren hatten.

Die politische Funktion der Kunst und Kultur am Hofe bestand darin, Anziehung auf den ständi-
schen Adel auszuüben, dessen Unabhängigkeit und politischen Eigenwillen zu brechen und die absolutistische Gewalt des zentralen Herrschers überhaupt erst durchzusetzen; den ständischen Adel, der bislang im Feudalismus relativ unabhängig gewesen war und der in seiner Herrschaft autonome Macht und Gewalt ausübte, nun in die soziale Hierarchie des Hofes zu zwingen, ihm meinen Platz anzuweisen, der von der Person des absoluten Herrschers aus definiert war. Die hö-
fische Kultur, die rauschenden Feste und sprühenden Feuerwerke, die Oper, Komödien, Konzerte und all der Kunstgenuß, die Jagden und Schlittenfahrten, die höfischen Tänze und Spiele, die Mä-
tressen, die Menge der Bedienten, die großzügige Architektur, die höfische Malerei, die prächtigen Kleider, die großartigen Umzüge und Empfänge, das glanzvolle und genau abgezirkelte Zeremoni-
ell haben vor allem einen Zweck: den Fürsten als mächtig und unangefochten, aus unbeschränkten Ressourcen schöpfend darzustellen und den versammelten Adeligen ihren Platz in diesem Zeremo-
niell, dieser sozialen Hierarchie zuzuweisen, der gleichzeitig den Grad der Gunst oder Ungnade des absoluten Herrschers signalisiert.

Mittelpunkt dieser verschwenderischen Hofkultur und Kunst ist immer der Fürst, von ihm aus wird die Geometrie definiert. Kultur und Kunst haben die Aufgabe, Macht und Ruhm des Herr-
schers zu demonstrieren und symbolisch darzustellen, ihn zu glorifizieren, mit dem Ziel Rivalen auszuschalten, den Eigenwillen des Adels zu brechen, ihn symbolisch in den Kulturformen in die soziale Hierarchie der Hofgesellschaft zu integrieren. Wer da nicht mitmacht, soll zum Außenseiter gestempelt werden, es soll Ansehen verleihen, die Gunst und Nähe des Fürsten zu genießen. Die Kunst am Hofe, die Prachtentfaltung, die Bilder und kostbaren Gegenstände sind bei aller Freude, die sie vermitteln, bei aller Schönheit, immer Herrschaftsmittel und sollen durch die Bewunde-
rung, die ihnen zu zollen ist, den Gehorsam und den Respekt der Untertanen und vor allem des Adels erzwingen, der oft in keinem direkten Untertanenverhältnis zum Herrscher stand.

Hinter der Schönheit, der Kunst, dem genau vorgeschriebenen und feierlichen, Würde verheißen-
den Zeremoniell und der Freude am Genuß tobt der Kampf um die Macht, den Einfluß am Hofe, um die Gunst des Fürsten und seiner nächsten Ratgeber und Vertrauenspersonen: die Intrige ge-
hört in dieser kunstvollen und kulturreichen Umgebung zur Alltäglichkeit. Man ficht in diesem Kampf um Macht, indem man durch Kunst und Kultur Macht, die man nur zum Teil hat, und Reichtum, der beschränkt ist, vortäuscht. Die kunstvolle Erzeugung des Scheins ist Trumpf (1701 verschlang die barocke Kultur und Hofhaltung Max Emanuels die Hälfte des Finanzbedarfs). Max Emanuel in seinem prestigesüchtigen Ehrgeiz scheint im Vergleich zu anderen absoluten Fürsten, die real mehr hatten, besonders darstellungsbedürftig gewesen zu sein. Er verschleuderte das nicht vorhandene Geld, zum Schaden des bayerischen Volkes, mit vollen Händen. Nur ein kleiner Teil dieses Geldes diente zur Finanzierung wirklich großer Kunst, die uns überkommen ist. Wenn uns die Objekte der damals entstandenen Kultur vorgestellt werden, so können wir uns erst ein histo-
risch richtiges Bild machen, wenn dieser Zusammenhang in einer „historischen” Ausstellung mit-
vermittelt wird. Sonst wird das Bild schief.

Wolfgang Ruppert

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1 Vgl. Ludwig Hüttl: Max Emanuel, der blaue Kurfürst, 1976.

2 Der 1. Band des Katalogs enthält eine Sammlung von Aufsätzen zum Thema Max Emanuel. Er ist unter dem Titel der Ausstellung erschienen.

3 Vgl. den Titel einer Sendung des Bayerischen Rundfunks vom 22. Februar 1976 über Max Emanuel. Autor der Sendung ist Karl Bosl.

4 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, 1969.


vorgänge 24 (Heft 6/1976), 87 – 91.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Gedenken

Referenzen