Materialien 1976
Druckerstreik: Ein Gespenst geht um
Kanzler Schmidt und einflussreiche Unternehmer fürchten, dass sich der Inflationstrott noch in diesem Jahr verschärft. Wenn nämlich der Arbeitskampf der Druckindustrie auf anders Branchen übergreift und zu Lohnnachschlägen führt, würden die Unternehmer auch die letzten Hemmungen verlieren, die Preise heraufzusetzen. Die Gegenspieler eskalierten den Lohnkrieg — und sorgten für bundesweite Aufregung.
„Die größte Errungenschaft der Nachkriegszeit“, pflegt Bonns liberaler Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher gelegentlich guten Freunden zu bekennen, „war für Westdeutschland die Einführung der Einheitsgewerkschaften“.
Nur dank der kooperativen, das Gemeinwohl stets pfleglich behandelnden Arbeiterorganisationen sei den Westdeutschen nach dem Zusammenbruch von 1945 der rasche Aufstieg aus politischem und wirtschaftlichem Chaos gelungen; nur wegen der konstruktiven Mitarbeit der 16 DGB-Gewerkschaften habe sich die Bundesrepublik zu einer stabilen Demokratie, zu einem kapitalistischen Musterland entwickeln können.
Das Lob des Liberalen, dessen Partei sich ein allenfalls distanziertes Verhältnis zu den Gewerkschaften leistet, scheint begründet. Selbst Arbeitgeber-Funktionäre wie Hanns Martin Schleyer wissen Verdienste und Verantwortlichkeit der Arbeiterorganisationen zu schätzen.
Heinz Kluncker etwa, Vorsitzender der mächtigen ÖTV, hatte angesichts der nur zäh fallenden Arbeitslosenzahlen vor „Kraftproben“ gewarnt, sein Kollege Karl Buschmann von der Textil-Gewerkschaft meinte gar: „Worauf es ankommt, ist die friedliche Austragung der Konflikte“ — da schlug eine der kleinsten unter den DGB-Gewerkschaften zu. Sie riskierte den offenen Arbeitskampf.
Kaum hatten Bonns Kanzleramt und prominente Sprecher aus den Chefetagen der Wirtschaft, Wirtschaftsforscher und Bundesbankexperten die mitgliedsstärksten Gewerkschaften des Landes, die IG Metall und die ÖTV, wegen ihrer zurückhaltenden Lohnpolitik öffentlich belobigt, verkrachten sich die Tarifparteien des Druckgewerbes. Der bundesdeutsche Arbeitsfriede, der gerade nach der Rezession von 1974/75 kaum zerstörbar schien, zerbrach.
Rasch wurde aus dem Arbeitskampf der gesamtwirtschaftlich allenfalls zweitklassigen Branche ein nationales Ereignis. Denn anders als bei Ausständen von Metallern oder Chemiearbeitern waren diesmal fast alle Deutschen dran, die des Lesens mächtig sind.
Und die verfolgten bald ein merkwürdiges Spektakel. Zunächst einigten sich Arbeitgeber und Gewerkschaften nach vier Tagen Streik und Aussperrung darauf, einen Waffenstillstand zu schließen. Zwei Tage lang vermochten sie sich dann trotz zähen Feilschens nicht auf einen Abschluss zu einigen, obgleich Arbeitgeberangebot und Gewerkschaftsforderung nur noch in den Dezimalen differierten.
Ab Mitte letzter Woche ging dann gar nichts mehr. Die IG Druck, deren Vorsitzender Leonhard Mahlein sich noch am Dienstag mit sechs Prozent mehr Lohn und Strukturverbesserungen des Lohngefüges im Werte von 0,2 Prozent zu begnügen schien, pokerte wenig später wieder höher.
Die Arbeitgeber dagegen beharrten darauf, 5,9 Prozent Zuwachs plus 0,3 Prozent für Nebenabreden seien ihr letztes Wort. Die streikentwöhnten Bundesbürger, die häufig den Arbeitskampf der Gewerkschaften als eine Art Landfriedensbruch missdeuteten, hatten diesmal allerdings Mühe, den Sinn des Konfliktes zu begreifen, allzu irrational waren Ablauf und Eskalation des Streits. Selbst ein Verhandlungsführer resignierte nach dem nächtlichen Lohnpoker: „Jetzt geht es wohl nur noch um Prestige-Promille“.
Sogar Walter Hesselbach, Chef der gewerkschaftseigenen Bank für Gemeinwirtschaft, der zwischen den Widersachern vergebens zu vermitteln versucht hatte, blickte da nicht mehr durch. Ihm sei die Gewerkschaftshaltung zwar „emotional verständlich, rational aber völlig unverständlich“.
Emotional auch waren allerdings die Reaktionen des ehrgeizigen Gewerkschaftsbankers, als seine Mission gescheitert war: Er verärgerte die Gewerkschaften und brachte schließlich auch noch die Bundesregierung in Verlegenheit, als er enthüllte, das Kanzleramt habe insgeheim auf einen Abschluss unter sechs Prozent gedrängt. Hesselbachs Indiskretion verstärkte den Verdacht der IG Druck, Bonn verletze seine tarifpolitische Neutralitätspflicht.
Ende letzter Woche war aus dem Lohnkampf der Drucker und Setzer eine nationale Auseinandersetzung geworden. Die Gegner zurrten ihre Verhandlungspositionen so fest, dass sie schließlich selber weitgehend bewegungsunfähig waren.
Die Gewerkschaften hatten schon den Tag der Arbeit genutzt, den Kollegen mit markigen Sprüchen ihren Beistand zu versprechen. Schleyer führte seinen Arbeitgeber-Spitzenverband ins Feld: Seine Bundesvereinigung werde „ideell und materiell“ den Druckindustriellen aushelfen. Immerhin stehe nun das „Prestige“ der gesamten Unternehmerschaft auf dem Spiel.
Die Probleme und Eigenheiten der beiden Kontrahenten interessierten kaum noch — obgleich sie den Konflikt ausgelöst hatten.
Der Bundesverband Druck wird von einigen tausend Klein- und Mittelbetrieben majorisiert, die trotz des anlaufenden Konjunkturaufschwungs noch immer jammern. In den beiden vergangenen Jahren, beteuern ihre Sprecher, hätten ihre Einnahmen nach Abzug der Inflationsrate abgenommen, allein im letzten Jahr seien 71 Firmen in die Pleite gerutscht.
Während die großen Zeitschriftenverlage Rekordgewinne einstrichen, stünden die kleinen noch immer vor dem Ruin: „Die Ertragslage“, beteuerte ihr Verbandssprecher, „ist bei vielen Unternehmern noch immer existenzgefährdend“.
Der Gegensatz zwischen Groß und Klein, zwischen Arm und Reich hatte zu Beginn des Arbeitskampfes nicht allzu viel Unternehmersolidarität aufkommen lassen. Wenige Tage nachdem der Industriellenclub sich zur Aussperrung entschloss, fühlten Abgesandte einiger großer Verlagshäuser bei der Druckergewerkschaft vor, um für sich die Chancen eines Separatfriedens zu erkunden.
Ihr offizieller Unterhändler Gerold Mack schien manchen nicht mehr gut genug: Allzu stur hatte er lange Zeit auf dem Anfangsgebot des Verbandes beharrt, allzu starr darauf gesetzt, dass sich die andere Seite schließlich schon beugen werde.
Nun murrten auch jene Unternehmer, die dem mittelständischen Druckunternehmer aus Speyer eigentlich hätten gewogen sein müssen. „Die großen Zeitschriften verdienen sich dumm und dämlich“, klagte ein Frankfurter Druckereibesitzer, der seine 70 Beschäftigten auf Geheiß des Verbandes aussperrte, „die machen aus dem Tarifkonflikt ein Politikum.“
Genau das hatte die Gewerkschaft schon seit Wochen vor. Ihr Verbandsorgan „Druck und Papier“ machte unter Überschriften wie „Jetzt erst recht: die Unternehmer müssen ihre Antwort bekommen“ oder „Wir können auch anders“ die rund 80.000 gewerkschaftlich organisierten Setzer, Drucker und Metteure beizeiten gegen „eine lohnpolitische Zurückhaltung“ mobil.
Auch Rücksicht auf Ziele, Methoden und Ergebnisse der anderen Gewerkschaften galten nun nicht mehr. Kaum hatte Eugen Loderers IG Metall sich mit einem Tarifabschluss von 5,4 Prozent zufriedengegeben, höhnte die Druck-Gewerkschaft, „niedrige Abschlüsse jetzt“ würden zwangsläufig zur „Blamage wilder Streiks im Herbst“ führen. Und: „Ein Gespenst geht um — das Gespenst der 5,4 Prozent“.
Chef Mahlein hatte sich schon Mitte April festgelegt. Vor dem Komma, pflegte er zu verkünden, müsse „eine Sechs stehen“.
Noch während der Hesselbach-Runde („Der Mahlein hat wohl die Sechsophilie“) wiederholte er seine Zielvorgabe — vor allem zulasten der eigenen Verhandlungsposition. Die Arbeitgeber nämlich meinten, auch knappe sechs Prozent würden dem IG-Druck-Chef schließlich genügen, wenn sie durch einige Zulagen unauffällig über Mahleins Marke geliftet würden. Seine Tarifkommissare dagegen lösten das Zahlenrätsel des Vorsitzenden dadurch auf, dass sie sich auf Werte um die 6,9-Prozent-Marke einstellten.
Die harte Gangart der Druck-Gewerkschaft wurde zumeist von IG-Druck-Vorstandsmitglied Detlef Hensche, 38, vorgegeben, jenem Mann, der nach Unternehmerurteil für das giftige Klima zwischen den Tarifparteien verantwortlich ist.
Der Jüngste unter den prominenten westdeutschen Gewerkschaftsführern hat in der Tat weniger Skrupel als seine Kollegen in den ungleich reicheren und mächtigeren Arbeiterorganisationen, die „Muskeln spielen zu lassen“ (SPIEGEL Nr. 19/1976).
Anders als DGB-Chef Heinz Oskar Vetter oder IG-Metall-Chef Eugen Loderer, als Chemie-Arbeiterführer Karl Hauenschild oder Bauarbeiter-Chef Rudolf Sperner scheren Hensche die Ermahnungen befreundeter Politiker kaum. Auch Empfehlungen von Konjunkturforschern und Wirtschaftsexperten hält er für kaum beachtenswert: Auch sie spiegeln nach seiner Ansicht allzu oft den Klassenstandpunkt der Systemerhalter wider.
Nicht nur die Vehemenz seiner verbalen Kraftakte unterscheidet Hensche von den Vorstandsmitgliedern fast aller anderen Gewerkschaften. Auch Herkunft, Karriere und Alter haben mit dem bislang verbindlichen Lebenslauf eines westdeutschen Arbeiterführers kaum etwas gemein. Der promovierte Jurist nämlich stammt aus gutbürgerlichem Elternhaus und genoss eine gediegene Ausbildung.
Er studierte in Bonn und Berlin, um als Assessor in den Dienst des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB zu treten. 1971 stieg er einige Etagen höher: Er avancierte als Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitik im DGB Bundesvorstand zum Vordenker seines Dienstherrn Heinz Oskar Vetter.
Im vergangenen Herbst dann rückte Hensche, laut eigener Einschätzung ein „linker Sozialdemokrat“, ein Stück näher an die eigentliche Arbeitermacht heran. Er wurde Vorstandsmitglied der IG Druck und zugleich Chefredakteur des Verbandsorgans „Druck und Paper“. Seinem politischen Glaubensbekenntnis blieb er dabei treu: „Erstens eine Mitbestimmung nach dem Montanmuster, zweitens die Investitionslenkung … und drittens eine volkswirtschaftliche Planung mit Sozialisierung der Schlüsselindustrie. 100 Konzerne genügen.“
Kollege Mahlein dagegen hat die bislang für Gewerkschaftsführer obligate Karriere hinter sich: Der Eisenbahnersohn absolvierte die Druckerlehre, diente sich in Wochenendkursen zum Meister hoch, arbeitete am Aufbau der IG Druck Ortsverwaltung Nürnberg mit und wurde vor 20 Jahren schließlich hauptberuflich Gewerkschaftsfunktionär. Und so wenig sich Hensche scheut, „den Kampf anzunehmen“, so leicht fiel Mahlein das „Bekenntnis zu diesem Staat mit seiner Grundordnung und Wirtschaftsverfassung“.
Schon wenige Monate nach seinem Amtsantritt in der Stuttgarter IG Druck-Zentrale, argwöhnen Arbeitgeber-Funktionäre, habe Hensche den Handlungsspielraum des altgedienten Spitzenfunktionärs eingeengt: Rechtzeitig zur Tarifrunde sei, dank Hensches Mitgliedszeitung, die Stimmung an der Basis so aufgeheizt worden, dass Mahlein kaum etwas anderes blieb, als Kampfgeist und Entschlossenheit seines Juniorpartners zu übernehmen.
Die Autorität des IG Druck-Chefs habe dabei, vermuten auch Neutrale, Schaden gelitten. Als am vergangenen Mittwoch Mahleins Tarifkommission den letzten Vermittlungsvorschlag ablehnte, klagte ein Hesselbach-Vertrauter: „Das wäre dem Eugen (Loderer) nicht passiert.“
Der IG-Metall-Chef und seine Metaller haben allerdings auch geringere Sorgen. Ärger als den Arbeitnehmern fast aller anderen Industriezweige drohen den Druckern seit einigen Jahren technische Neuerungen. Jene Zunft, die jahrzehntelang zur Avantgarde der Arbeiterbewegung zählte und die sich hohe Einkommen und unangefochtenen Respekt erstritten hat, muss fürchten, dass hochkomplizierte Maschinen ihr binnen weniger Jahre Arbeit und Arbeitsplätze abnehmen (siehe Seite 19). Schon in den vergangenen fünf Jahren gingen in der Druckindustrie 32.000 Arbeitsplätze verloren.
Entsprechend verbiestert und angriffslustig zogen die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer des Gewerbes mit, als ihre Zentrale sie zum Arbeitskampf aufrief. Auf Streikversammlungen in Hamburg und Frankfurt, München und Düsseldorf mahnten aufgebrachte Drucker ihre Spitzenfunktionäre, standfest zu bleiben und unternehmerische Hartleibigkeit unnachsichtig zu bestrafen.
Selbst das Aussetzen des Streikes galt vielen Druckern als reichlich schlappes Zurückweichen vor der Unternehmerfront. „Da wird doch Schindluder mit unserer Kampfbereitschaft getrieben“, schimpfte ein Frankfurter Gewerkschafter. Ein anderer fand: „Es ist eine Schweinerei, den Kampf mir nichts, dir nichts abzublasen“.
Der Arbeitskampf, von den Unternehmern durch ihre rasche und radikale Aussperrung leichtfertig angefacht, war nun so leicht nicht mehr unter Kontrolle zu bringen. Die Basis hatte, angefeuert von Hensches Kommentaren, ihrer Führung den Rückweg zu dem Tarifpoker konventioneller Machart verbaut.
„Es wäre für die Gewerkschaft verhängnisvoll gewesen“, urteilte der hessische IG-Druck-Bezirksleiter Max Melzer, „wenn wir am Mittwoch dem Hesselbach-Kompromiss zugestimmt hätten. Den Kollegen draußen in den Betrieben ist nach der Aussetzung des Streiks und der Aussperrung von den Unternehmern bös’ mitgespielt worden. Alles liegengebliebene sollte in Überstunden nachgearbeitet werden.“
Gewerkschaftsmitglied Hesselbach, der zunächst geglaubt hatte, er werde den Streit im ersten Anlauf schlichten können, habe einen entscheidenden Wandel übersehen: „Der Walter hat die Stimmung an der Basis unterschätzt“ (Melzer)
Auch manche Journalisten bekamen das neue Selbstgefühl zu spüren. So verweigerten knapp 100 Teilnehmer des hannoverschen Druckhaus Madsack, das im Auftrag Springers täglich 450.000 „Bild“-Zeitungen druckt, ihre Beihilfe beim Druck eines im Hamburger Springer-Haus verfassten Kommentars, der mit der Druckgewerkschaft ins Gericht ging: „Mit dem Streik gegen die Zeitungsverlage“, hatten die Redakteure vermutet, „wurde auch ein Stück Freiheit bestreikt, Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit“.
Diese „Bild“-Sicht schien den Madsack-Beschäftigten allzu schief: „Das wollen wir nicht, das machen wir nicht“, meuterten sie und verlangten den Abdruck eines Gegenkommentars. Als Springer die Setzer nicht zu Schreibern aufsteigen lassen wollte, erschien die Dienstag-Ausgabe von „Bild“ Hannover mit einem weißen Fleck auf Seite eins.
Ähnlich erging es dem Chefredakteur der „Frankfurter Neuen Presse“ Robert Schmelzer. Sein Streik-Leitartikel landete nicht an der Setzmaschine, sondern wurde im Mettagensaal verlesen. Etwa 150 Arbeitnehmer erregten sich über seine rhetorische Frage, „zu wessen Nutzen eigentlich gestreikt worden ist“, da die durchsetzbaren Tarifaufbesserungen „durch die Lohnausfälle des Streiks bereits vernascht sind“.
Nach einigem Palaver griff schließlich ein Betriebsrat ein: „Jetzt sind unsere Interessen wichtiger“. Unter Protest verzichtete Schmelzer schließlich auf den Abdruck seines Aufsatzes — und auch die „Neue Presse“ erschien mit einem weißen Fleck auf Seite zwei.
Empfindlicher noch reagierten die Kollegen im Berliner Springer-Haus, als die „BZ“ die Antwort auf eine Leserfrage nach dem Einkommen der Setzer und Drucker veröffentlicht hatte. „Die Kollegen“, erinnert sich Betriebsrat Kurt Seibt, waren „spontan uff ’em Knüppel“ und weigerten sich, ihr Einkommen — laut Verlagsauskunft einschließlich Schichtzulage 17,25 Mark pro Stunde — zu veröffentlichen.
Erst nachdem die Streikleitung die Meuternden beschwichtigt hatte, ließen sie den Briefkasten passieren. Denn, so Betriebsrat Rosanowski, „in Sachen Pressefreiheit stehen wir hundertprozentig“.
Genau das allerdings bezweifeln manche skeptische Journalisten und Verleger. Denn schon einmal, nach dem Druckerstreik von 1973, frästen Techniker des Kölner Druckhauses Deutz einen Streikkommentar aus der „Neuen Rhein-Zeitung“ („NRZ“).
Die IG Druck allerdings fand nichts dabei, die Kollegen interpretierten die Pressefreiheit (Artikel 5 Grundgesetz: „Eine Zensur findet nicht statt“) auf ihre Weise. Sie verbreiteten in ihren Gewerkschaftsblättern: „Die Arbeits-Verweigerung der Kölner Drucker war … ein Stück Mitbestimmung, nicht etwa eine Panne oder gar eine bedauerliche Entgleisung.“
Drei Jahre später waren Drucker ähnlich selbstbewusst — und auch die Kollegen in den Schlüsselbranchen der Wirtschaft wurden wachsam.
Sorgfältig registrierten sie, dass ihre Bescheidenheit nur von einem Teil der Unternehmer honoriert wurde. Die Arbeitnehmer etlicher Großbetriebe der Metallindustrie, berichteten die Vertrauensleute der Gewerkschaften, fragten sich, ob nicht schon bald die Zeit für neue Lohnvorstöße reif sei.
„Ich muss einiges befürchten“, so Dieter Kirchner, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, „wenn diese unheilvolle Diskussion noch bis zum Herbst fortgeführt wird“. Für die Arbeitgeber der chemischen Industrie, die als nächste ins Tarifgetümmel gehen, aber hat schon die erste Woche Getöse im Druckgewerbe genügt, ihr die feingesponnene Verhandlungsstrategie zu zerreißen.
Bislang nämlich haben die Chemie-Unternehmer in den drei größten Tarifgebieten fünf Prozent Lohnzuwachs angeboten — in der Hoffnung auf einen 5,4-Prozent-Abschluß nach Art der Metallindustrie. Jetzt aber weiß Karl Molitor, Hauptgeschäftsführer des Arbeitsrings der Chemischen Industrie: „Es ist keine Frage, dass ein höherer Druckabschluss das Niveau bei den Forderungen verschieben würde.“
Bundesbankpräsident Karl Klasen hebt das Ganze noch eine Stufe höher: „Die neue Tarifauseinandersetzung im Druckergewerbe gefährdet unsere Stabilitätserfolge.“ Und Kanzler Helmut Schmidt gar, dem das alles zunächst noch eine Nummer zu klein schien, beklagte auf dem Düsseldorfer Sparkassentag die Lücke des Geschehens. „Mit allen großen Gewerkschaftsführern haben wir vor den Lohnabschlüssen gesprochen, nur nicht mit Mahleins kleiner Druckergewerkschaft.“
Mahleins kleiner Verein bringt nun, so fürchtet Sparkassenpräsident Geiger, „die gesamte Wirtschaftspolitik unseres Landes in Gefahr“. Schön leise und ohne viel Aufhebens nämlich wollte das Trio Schmidt, Apel, Klasen mit niedrigen Löhnen Preise und Kosten dämpfen und die Unternehmensgewinne erhöhen.
Mit den niedriggehaltenen Kosten sollte dann eine Exportkonjunktur gezündet werden, die hohen Unternehmergewinne sollten die Lust am Investieren fördern — und damit das Entstehen neuer Arbeitsplätze.
Genau zur Bundestagswahl sollte die große Konjunktur-Strategie dann sichtbar und erfolgreich genug sein, um die sozialliberale Koalition auf den Regierungsbänken zu halten. Das Modell funktionierte pünktlich und akkurat.
Fünf Prozent reales Wachstum ist der westdeutschen Volkswirtschaft nach Jahren der Stagnation für 1976 schon jetzt sicher. Karl Otto Pöhl, Staatssekretär in Apels Bundesfinanzministerium: „Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft sehr viel günstiger, als alle Leute vor einem halben Jahr gedacht haben.“
Die Automobilindustrie etwa, durch Nachholbedarf geschoben, steuert einem neuen Absatzrekord entgegen. Die Großchemie hat hohe Konjunktur im Kunststoff- und Fasergeschäft. In besonders begünstigten Branchen werden Gewinnsteigerungen von zwanzig bis dreißig Prozent registriert. Apels Pöhl: „Die Firmen sind außerordentlich flüssig.“
So weit, dass die Unternehmer das Flüssige in neue Arbeitsplätze investieren, aber ist es noch lange nicht. Misstrauisch, weil sie es einfach nicht fassen können, daß alles so modellgerecht läuft, halten sie ihr Bares zusammen, und die Banken schwimmen in Geld.
„Es läuft überhaupt nichts an klassischen Krediten“, umschreibt Bernhard Schenk vom Bankenverband die Lage am Geldmarkt. „Die Kreditlinien“, ergänzt Sparkassen-Geiger, „werden immer seltener ausgenutzt.“ Allein der vergangenes Jahr noch völlig ausgepumpte VW-Konzern hat Guthaben von rund einer Milliarde Mark angehäuft. Mehr als 15 Milliarden Mark hält das Kreditgewerbe an freier Liquiditätsreserve in der Hinterhand. Denn das eine Jahr des großen Verdienens genügt den Unternehmern nicht, um auf Expansion zu schalten.
Noch immer nicht ist deshalb die Investitionsgüterindustrie aus ihrer Flaute heraus. Die Inlandsaufträge des Maschinenbaus etwa lagen im Januar und im Februar noch einmal um acht Prozent unter den Vergleichswerten des Vorjahres, im März gingen sechs Prozent weniger Aufträge ein als im März davor. Kurt Richebächer, Generalbevollmächtigter der Dresdner Bank: „Die Abschreibungen werden verdient, aber nicht wieder investiert.“
Erst wenn ein weiteres Jahr Ruhe an der Lohnfront gesichert ist, wollen die bislang ohnehin nicht voll ausgelasteten Unternehmen wieder an Expansion denken. Jede Regung unter den Tarifvertragsparteien, etwa mehr auszuhandeln, als es damals Eugen Loderer mit seiner IG Metall tat, wird deshalb auf den Chefstühlen der Industrie übersensibel wahrgenommen. „Die Furcht der Leute ist“, sinniert Bankier Richebächer, „dass dieses Mal viel früher die Zins- und Lohnerhöhungen einsetzen.“
VW-Aufsichtsratchef Hans Birnbaum, Vorstandsvorsitzender der bundeseigenen Salzgitter AG, präzisierte den Kummer des Geldmannes: „Die Sache ist jetzt nicht mehr zu halten — im Juni werden die Leute kommen und ihren Nachschlag verlangen.“ Das meint auch Bundesbankchef Klasen: „Über Tarifnachschläge muss man ernsthaft diskutieren“, plauderte der Bankier, „sobald die Preissteigerungsraten über die Erwartungen vom März hinausgehen.“
Leonhard Mahleins lärmender Lohnkampf scheint nun auf seinen Schlag alle Unternehmerängste zu bestätigen.
Dabei sind es nicht die Gewerkschaften gewesen, sondern die Industrie war es, die das gefürchtete Lohn-Preis-Geschiebe wieder in Gang setzte: Durch ungenierte Preiserhöhungen hatten Auto- und Benzinproduzenten den Verbraucher bereits am Edelsten getroffen, am privaten Automobil, das nach dem Credo der Autoindustrie nur ein anderes Wort für Freiheit ist
Es sei an der Zeit, eine „eindeutige Mahnung an die Unternehmer auszusprechen, die zur Unzeit herauszuholen versuchen, was herauszuholen ist“, zürnte Kanzler Helmut Schmidt. Der Regierungschef muss damit rechnen, dass sein Konjunkturkonzept brüchig wird, wenn nach dem Arbeitskampf in der Druckindustrie die Zeit der Nachschläge anbricht. Dann nämlich wird Parteifreund Klasen kaum eine andere Wahl haben, als die in der letzten Woche gestartete strammere Kreditpolitik zu verschärfen und die Konjunktur abzubremsen, bevor sie richtig in Schwung gekommen ist.
„Wenn das so weitergeht“, sinnierte Kanzler Schmidt. „mache ich mir große Sorgen.“
Der Spiegel 20 – 21 vom 17. Mai 1976.