Materialien 1976

Selbstbefriedigung

Gedanken beim Lesen des Buches von Volker Elis Pilgrim „Der selbstbefriedigte Mensch“, München 1975, Verlag Kurt Desch

„Auch Nixon tut wixon“
(Sponti-Klospruch)

1. Die prüden Spontis

„Du Wichser“ – das ist auch bei den Linksradikalen ein Schimpfwort. Es gilt zwar manchen als emanzipiert, mit Sexual- statt den guten alten deutschen Analwörtern zu schimpfen. Die Genos-
sinnen haben uns aber klargemacht, dass das „Dumme Votze“ gegenüber einer Frau sich nicht nur gegen diese, sondern gegen alle Frauen richtet.

Nicht nur das: das abgefackte Schimpfen drückt gleichzeitig auch Angst vor der Liebe aus. Es ist kein Zufall, dass Bommi Baumann in seinem Buch „Wie alles anfing“ über diese Angst vor der Liebe als einem Strukturmerkmal unserer Scene spricht und dass die Genossinnen und Genossen aus der Stadtguerilla mit Sexualbezeichnungen noch aggressiver als andere fluchen. Uns etwa werfen viele vor, politisch Onanie zu treiben. „Wichs dir einen“ hat mir zusammen mit der Über-
sendung einiger Pornoheftchen einer empfohlen, der meine Einschätzung, dass in der BRD Me-
tropolenguerilla gleichbedeutend mit Selbstzerstörung steht, praktisch nicht teilt.

Warum ist Onanie so schlimm? Die Selbstbefriedigung steht unter Schmach. Im Deutschen hat sie nicht mal einen richtigen Namen. ,Selbstbefriedigung’ ist ein Unsinn, weil alle geschlechtliche Be-
friedigung Selbstbefriedigung ist. Man befriedigt sich auch in jedem Geschlechtsakt selbst, nur da-
bei mit Hilfe eines andern Körpers …“ (Pilgrim, S. 17) Davon handelt das Buch: wie mit der Ent-
stehung des Kapitalismus Onanie von der Medizin als Krankheit entdeckt und von gesellschaftli-
chen Normen und offenen Zwängen unterdrückt wird. Neben der Ausgrenzung der Arbeitsunlust als Unvernunft und Wahnsinn wird die sexuelle Befriedigung um ihrer selbst willen, gleichsam das körperliche l’art pour l’art, auf den Index gesetzt. Das Zeitalter der Selbstkastration beginnt.

Wir lehnen die Fotos im „das da“ ab, weil Mädchen zur Ware gemacht werden. Die männlichen Wichsfantasien sind aber nicht ökonomiekritisch und aufgeklärt – das müssten wir uns erst er-
kämpfen. Zusammen das Buch von Pilgrim lesen heißt, dass wir darüber reden lernen, ohne dass die Angst, entdeckt zu werden, einem die Kehle zuschnürt.

2. Kapitalismus und Sexualitätserziehung

„In der Woche zwier/schadet weder dir noch mir“ soll Martin Luther beiläufig gesagt haben. Damit ist er zwar nicht der Erfinder des allgemeinen Fick-Zwanges, wohl aber einer seiner großen Pro-
pagandisten. Dass Luther was mit der kapitalistischen Weiterentwicklung fremdbestimmter Lei-
stungsnormen und politischer Autoritätsgläubigkeit zu tun hat, ist von Leuten wie Karl Marx sehr anschaulich beschrieben. „Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität ge-
brochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität be-
freit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt.“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 386)

Kurz: Luther ist die patriarchalische Führerfigur, die am Anfang des deutschen Kapitalismus steht: die die ursprüngliche Akkumulation in die Herzen pflanzte, nachdem dem Armen Kunrad die End-
lösung der Bauernfrage eingebrannt worden war, die die sexuelle Lust bevölkerungspolitisch in-
strumentalisierte; die die Selbstkastration als Voraussetzung sparsamer Lebensführung und arbeit-
samer Leistungsmoral zur gesellschaftlichen Norm erhöhte. Luther steht nicht nur für die Einfüh-
rung der Bürokratie, er hat auch einen stehn für die Einführung der Sexualpolitik im Dienste des Handelskapitals. „Zum Beispiel wenn du einen Handel hättest, der des Jahres auf Hundert Gulden liefe, und du über alle Kosten und ziemlichen Lohn, den du für deine Mühe, Arbeit und Gefahr da-
ran gewönnest und nehmest, ungefährlich einen Gulden, zwei oder drei zuviel gewönnest, das hei-
ße ich hier den Fehler im Handel, den man nicht wohl meiden kann, sonderlich so zu handeln ein Jahr lang. Darum sollst du dein Gewissen damit nicht beschweren, sondern als eine andere un-
überwindliche Sünde mit dem Vaterunser vor Gott bringen und ihm befehlen. Denn zu solchem Fehl dringt dich die Not und Art des Werkes, nicht der Mutwille und Geiz … Gleichwie die eheliche Pflicht nicht ohne Sünde geschieht, und doch Gott um der Not willen solchem Werk durch die Finger sieht (was wollte Luther damit sagen? Anm. d. Verf.), weil es nicht anders sein kann.“ (Von Kaufhandlung und Wucher, 1524).

Aber mit Luther haben wir auch gleich den Übergang zum modernen Fabrikkapitalismus. War Luther das Symbol des Übergangs zum frühen Kapitalismus, so ist ein anderer deutscher Groß-Reformator Symbol des Übergangs zur industriellen Akkumulation, zur wirklichen umfassenden Unterwerfung der ganzen Gesellschaft unters Kapital, der Fabrikgesellschaft.

„Ohnegleichen ist in der deutschen Geschichte die ungeheure Wirkung Adolf Hitlers. Man kann an Bismarck denken … es bleibt aber nur Martin Luther.“ (Ewiges Deutsches Volk, Berlin 1933, 317 f.).

Stell dir mal den Führer beim Wichsen vor. Die SS hätte aufgegeben, wenn Röhm und Strasser den Adolf beim Onanieren erwischt hätten. Der Führer wäre ins Arbeitslager eingewiesen worden.

3. Wieder mal zur „Gewaltfrage“

Der kapitalistische Staat schlägt wieder dauernd zu. Natürlich wird ihm die Arbeiterklasse die ent-
sprechende Antwort ins Gesicht schlagen, in dem auch das Auge des Gesetzes suchend über uns schweift. „Drum Schluss mit den Berufsverboten, für die sofortige Wiederherstellung der Aufhe-
bung des § 88a!“ – „Nieder mit der Regierung, für die freie Wahl der Repressionsorgane durch das Volk“ (KBW).

Wahnsinn. „Tötet die Schweine, Bullen sind keine Menschen!“ Und was sind wir? Der Genosse Wesker hat gesagt, „Wir lieben nicht die Menschen, wir lieben nur die Vorstellung davon, die Menschen zu lieben.“ Denn noch lieben wir uns selbst nicht allzu sehr.

„Ich hasse Franz-Josef Strauß und den Polizeimeister beim Einsatz, die Bundeswehr und den Staat, Chefärzte und große Maschinen, Arbeit und Langeweile – und manchmal mich selbst.“ Politische Restauration ist, wenn der gute Hass gegen oben wieder zurückfällt in Selbsthass und Angst.

Unsre politische Frage ist, warum lassen sich eigentlich die Leute soviel gefallen, in Fabrik und Familie. Und warum machen die, die sich nicht alles gefallen lassen, kriminelle Einzeltäter und politkriminelle Gruppen (die außerparlamentarische Opposition also) so unglaublich viel Scheiß. Ich glaube, dass ein Dogma sich durch diese Scene zieht, vom Ladendieb über die KPD, von den Gruppen der Frauenbewegung, den Spontibetriebsgruppen bis zu den Landfreaks, von der DKP über das Sozialistische Büro hin zur Metropolenguerilla, Bankräubern und Basiswühlmäusen – das Dogma: die Unterdrücker sind die andern; die Hölle, das sind die andern, wir sind arme Beutel, die für keine Sauerei verantwortlich sind. Wir sind gut, die andern böse. Die Angst vor uns selbst lässt uns den unbarmherzigen Schleier des Schweigens über uns breiten. Onanieverbot ist die frühein-
gesetzte Norm, die die Gewalt, die wir uns selbst durch Lustverzicht antun, gar nicht mehr als Ge-
walt, die uns fremd ist, erscheinen lässt, sondern als Angst vor der entdeckenden Umwelt.

Noch sind wir nicht die neuen Menschen, die befreit-spontan leben. Noch ist der Bulle und der Pfaffe in uns. Die politische Tendenzwende stärkte diese beiden Herrn. Und damit legitimiert Selbstrepression staatliche und betriebliche Repression. Der Mann von der Straße, der nach Ord-
nung ruft, lümmelt sich auch in unseren Wohngemeinschaften herum. Und er steht als Massen-
arbeiter friedlos aber ruhig am Fließband.

4. Männer

Die Frauenbewegungen haben, wie auch die sexistisch unterdrückten Schwarzen in den USA, einen Feind, gegen den sie eine neue Identität bilden können. Wir weißen Männer in der Sponti-Scene haben nach dem Ende großer Straßenschlachten und antiautoritären Alltags erst mal keine mehr. Die Schwestern in den Schwulengruppen können noch ihre spezifische Situation nehmen, um Leu-
te namhaft zu machen, die schuld sind.

Wir Hetero-Männer diskutieren über die Frauenbewegung, indem wir uns oft unter sie stellen. Wir werden aber nie gute Feministen werden. Und das ist gut so. Denn von der Frauenbewegung ler-
nen kann nicht heißen, sich ihr unterzuordnen.

Ganz anders: wir haben, schwer genug, eine wichtige Chance: Nämlich Selbstrepression und ihre Mechanismen zu erkennen und zu zerstören bei uns, die nicht einfach aus personalisierbaren Fein-
den abzuleiten sind.

„Er will unter sich keinen Sklaven sehn / und über sich keinen Herrn“ dichtete Bert Brecht. Nein, Freund, das stimmt nicht. Sado-Masochismus ist nicht nur frühkapitalistisch, und auch der Prolet mag Leder und Nietenhosen. Und er mag gern Juden und Emigranten, Frauen und Kinder unter sich und einen strengen aber gerechten Boss über sich. Oder gibt es autoritäre Strukturen in poli-
tischen Gruppen nur deshalb, weil einige bösartige Autoritäten die Macht ergriffen haben?

Es wird Männern unmöglich sein, von Gewalt auch dann zu reden, wenn es nicht um Spekulanten und Bullen, Staat und Spanien, Fabrik und Familie geht. „Die Destruktion der bürgerlichen Gesell-
schaft durch den Zerfall der männlichen Rolle.“ (Pilgrim, S. 99).

Ist es in der Scene möglich, über Fantasien beim Wichsen zu sprechen? Welche Gewaltträume hast du, Mann oder Frau? Und welche Vergewaltigungsfantasien hast du, Frau oder Mann?

Fantasien nicht wahrhaben zu wollen, über das, was wir träumen, politisch nicht reden zu können – da beginnt die Angst und die hilflose Gegengewalt. Dann wird unser heimlicher Faschismus täglich reproduziert. Wer Träume veröffentlicht, ist verrückt, weil er das täglich Verschwiegene, Normale sagt. Oder weshalb haut Pasolinis ,,120 Tage von Sodom“ die Männer so um und wird von der Männergesellschaft verboten?

In der antiautoritären Jugendrevolte sind Frauengruppen aus der kollektiven Diskussion und Pra-
xis antiautoritärer Erziehung der Kinder entstanden. Die Frauengruppen entwickelten sich zur feministischen Bewegung, als sie die Tatsache, dass Frauen als Mütter patriarchalische Gewalt ausüben und somit auch aktiv den Kapitalismus reproduzieren, erst mal nebenanstellten. Die Unterdrückten werden nicht autonom, wenn sie darauf starren, dass sie gleichzeitig auch Unter-
drücker sind. Und der Feminismus, der Beginn der Frauenautonomie, führt ja gar nicht zur Kin-
derfeindlichkeit, zumindest zu weniger als in den normalen Familien.

So kann es auch für uns weitergehen. Die Erlaubnis, fantasievoll zu onanieren, bedeutet nicht auf-
opfernde Rücksichtnahme auf Frauen, sondern kann bedeuten, sexuelle Herrschaft über Frauen gar nicht mehr ausüben zu wollen. Auf jeden Fall ist das unsere Möglichkeit, wieder mehr zu uns zu finden.

Selbstrepression bedeutet Knecht sein wollen. Es gibt keine Veranlassung, aus der Rolle des Djan-
go in die des Gebückten zu stürzen.

Matthias Beltz/Klaus Trebes


Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft 3 vom April 1976, München, 77 ff.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Religion

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