Materialien 1976
München ...
das sich gerne als Kulturhauptstadt der Nation titulieren lässt, ist der wohl eklatanteste Fall solch ungebrochener Selbsteinschätzung. Tatsächlich hat die Herkunft Münchens als Residenzstadt kunstsinniger Herzöge und Könige ein urbanes Ensemble entstehen lassen, das die selbstverständliche Anwesenheit von „Kultur” mit geradezu imperialer Geste unterstellt. Dies und einige auf ein gesondertes Blatt gehörende regionale psychologische Bedingungen des örtlichen Bodenstandes haben zu bestimmten Graden der Selbstzufriedenheit geführt, die jegliche über das gemauerte Kulturselbstverständnis hinausführende Aktivitäten als wenigstens suspekt, wenn nicht gar überflüssig erscheinen lassen. Aktive Kulturpolitik muss also in einem so ausgestatteten Operationsfeld ständig den Beweis mitliefern, dass sie, wenn sie etwas tut, dies nicht tut, um den gewachsenen Bestand zu roden.
Zum historischen Angebot kommt – noch massiver und vielfältiger- das aktuelle. So bietet beispielsweise München eine Theater-, Galerien- und Museenszenerie, deren Quantität wahrlich weltstädtisch zu nennen wäre. Zwei Opernhäuser, drei hochklassige Sinfonieorchester – daran zeigt sich schon der Akzent auf der Repräsentationsseite der Kulturübung. Warum dann, so fragen manche in der Tat, noch zusätzliche Kulturambitionen?
Weil die Fassade, auch wenn sie noch so imposant gegliedert ist, mitunter darüber hinwegtäuscht, dass die Kulturübung dahinter zur widerstandslosen Routine erstarrt ist oder doch wenigstens sich zu einem nichts weiter als Freundlichkeit provozierenden Angebot verharmlost hat. Dieser Gefahr gegenüber muss eine recht verstandene und gerade eine auch bewahrende Kulturpolitik den Stachel setzen, Widerstand provozieren, die vor lauter Kulturzufriedenheit aufgestauten Aggressionen freisetzen …
Jürgen Kolbe: Kultursatt in der Stadt? Einige Perspektiven kommunaler Kulturkonjuktur-Politik. Aus: vorgänge 24 (Heft 6/1976), 33 – 38.