Materialien 1976
Nachtasyl
Was nicht im Polizeibericht stand
Um 6.00 Uhr morgens knallt der Beamte hinter mir die Tür ins Schloss. Ich stehe in der Zugangszelle der Polizeihaftanstalt in der Ettstraße und versuche mich etwas zu orientieren. Obwohl draußen bereits heller Tag ist, herrscht hier drinnen ein schummeriges Halbdunkel, das den ganzen Tag anhält und nur durch eine trübe Funzel etwas aufgehellt wird. Es stinkt nach Männerschweiß, Urin und kaltem Zigarettenrauch. Kein Wunder, der 6 × 8 Meter große Raum hat nur ein Fenster, dessen obere, halbaufgeklappte Hälfte spärlich Luft und Licht in den Raum lässt. Mein Eintreten ist für die anderen, vielleicht zehn oder zwölf männlichen Wesen, die sich aus Laken und Decken schälen, das Zeichen zum Aufstehen. Sie klettern von einer Holzpritsche, die in einer Höhe von einem halben Fuß entlang den Wänden montiert ist und starren müde und teilnahmslos vor sich hin. Sie alle sind im Laufe des gestrigen Tages und der heutigen Nacht hier eingeliefert worden und warten nun auf die erkennungsdienstliche Behandlung, auf das Verhör oder den Ermittlungsrichter . Sie sind das Strandgut, eines Großstadtwochenendes, hängen geblieben in den Netzen der Polizei.
Um mich kümmert sich keiner, jeder ist mit sich selbst beschäftigt, jeder hat sein Schicksal und seine Geschichte, die irgend wann am gestrigen Abend oder in dieser Nacht in eine Katastrophe mündete und ihn in diese Zelle führte. Jeder von ihnen steht noch im Schatten dieses Ereignisses, das keinen Raum für den anderen lässt und dieses Loch hier ist auch nicht geeignet, um aus diesem innerlichen und äußerlichen Zusammenbruch einen Ausweg zu finden. Für jeden von ihnen bedeutet die Verhaftung zuerst einmal einen totalen Bruch mit der Vergangenheit, eine jähe Trennung von der Frau, von der Familie, von den Freunden, von der Arbeitsstelle, von der Wohnung, von allen bisherigen Lebensgewohnheiten und mit dieser Umstellung wird so schnell keiner fertig. Wer hofft, dass ihm jemand hier drinnen den Übergang erleichtert, ihm irgendeine Hilfe anbietet, etwas Verständnis entgegenbringt, der sieht sich bitter enttäuscht.
Ein mürrischer Beamter schließt um halb sieben die Zelle auf, die Matratzen und Decken müssen herausgegeben werden, eine Brühe wird serviert, die nur entfernt an Kaffee erinnert (an Malzkaffee natürlich) und ein paar Scheiben Brot. Für zehn Minuten wird nun das Wasser aufgedreht, der Hahn befindet sich außerhalb der Zelle und jeder versucht sich so gut es geht, den Schlaf aus den Augen zu waschen. Dann knallt die Tür zu und jeder ist wieder seinem Schicksal überlassen. Ich fühle mich müde und zerschlagen und versuche mich auf der Holzpritsche etwas auszustrecken. Nach einigen Minuten tut mir jeder Knochen weh, ich drehe mich auf die andere Seite, bis auch die schmerzt und lande schließlich auf dem Rücken. Aber auch in dieser Lage halte ich es nicht lange aus, richte mich auf und stecke mir eine Zigarette an. Sogleich spüre ich die sehnsüchtigen Blicke der anderen und verteile Zigaretten. Kaum einer hat Geld in der Tasche, kann sich also nicht mal ein paar Zigaretten kaufen und gerade die helfen doch ein wenig die Langeweile und die Verunsicherung zu überbrücken. Wir sitzen da und warten, sind müde und können nicht schlafen, weil man uns die Matratzen und die Decken genommen hat und wissen nicht, was wir mit uns anfangen sollen. Es gibt keine Zeitung, keine Zeitschriften, kein Spiel, kein Radio, keine Bücher, nichts, nicht einmal frisches Wasser und allmählich wird es immer heißer in der Zelle. Draußen brennt unbarmherzig die Sonne, die große Hitzewelle hält an, fast 32 Grad und hier drinnen ist es noch heißer als draußen, kein Windzug, keine Brise, keine frische Luft.
Neben mir liegt ein älterer hagerer Mann mit weißgrauen Haaren und versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich erfahre, dass er Ungar ist, seit 1956 in der Bundesrepublik lebt. Bis vor einigen Monaten hatte er einen festen Arbeitsplatz in einem Kaufhaus, dann wurde er arbeitslos, seitdem schlägt er sich als Hilfsarbeiter durch. Er lebte mit einer deutschen Frau zusammen, die auf den Strich ging. Das störte ihn wenig, er war froh, wenigstens einen Menschen zu haben, mit dem er reden konnte, der ihm irgendwie das Gefühl der Geborgenheit gab. Auch als sie zu trinken anfing, wollte er sich nicht trennen. Doch es wurde immer schlimmer, sie schleppte ihre Freier immer häufiger mit in die gemeinsame Wohnung. Und da sie der Alkohol immer mehr zeichnete, wurden auch die Freier immer ordinärer, kam es immer häufiger zu Zank und Streit. Sie kotzte ihm die Wohnung voll und nässte die Betten. Er beschloss sich von ihr zu trennen und setzte sie vor die Tür. Aber nun begann sie ihn zu terrorisieren. Ihre Zuhälter und Saufbrüder kamen zu L. und bedrohten ihn. Schließlich besorgte er sich eine Gaspistole, durchbohrte den Lauf und stopfte scharfe Munition hinein. Als dann wieder einmal einer der Macker vor der Tür stand und Einlass begehrte, gab er zwei Warnschüsse ab, aber der Kerl ließ sich nicht einschüchtern und rüttelte weiter an der Tür. L. öffnete und schoss ihm eine Kugel in den Bauch. „Ich wollte ihn nicht töten“, sagte er ruhig, „ich war doch sogar mal ungarischer Meister im Pistolenschießen, wenn ich ihn hätte töten wollen, hätte ich woanders hingezielt.“ L. wurde die ganze Nacht verhört, pausenlos drangen die Polizisten auf ihn ein, als er wieder in die Zelle zurückkehrt, ist aus der Notwehr versuchter Totschlag geworden.
M. kommt aus Algerien, wurde in Guelma geborgen, wuchs unter der französischen Besatzung auf, die er noch heute bewundert. Er entfremdete sich seinem Volk und dessen Lebensgewohnheiten. Als er keine Arbeit findet, zieht er mit seiner Frau nach England. Dort führt er ein entwurzeltes Leben, er blieb der ewige Ausländer, der Fremde, der Außenseiter, der Farbige. Er kommt auf die schiefe Bahn, lernt ein paar Gangster kennen und fährt mit denen nach Deutschland um den „großen Coup“ zu landen. Bei einem Überfall auf ein Juweliergeschäft, bei dem er kaum das Geld für die Heimreise nach England erbeutet, wird er verhaftet. Nun fragt er sich, was aus seiner Frau in England werden soll, die nicht weiß, wo er ist und was er getan hat. Er weiß, dass sein Leben verpfuscht ist, aber er nimmt es mit der Gelassenheit des Orientalen. Kismet. Er singt und lacht. „Wenn ich im Knast bin, werde ich viel Sport treiben und Deutsch lernen, irgendwas muss man tun, dann vergeht schon die Zeit.“ Später will er wieder nach Algerien zurückgehen, im Knast sehnt sich jeder nach der Geborgenheit seiner Heimat.
Ein anderer Ausländer, ein Iraner, läuft mit einem blauen Auge herum, das haben ihm ein paar Beamte gestern Abend verpasst, die anderen hier waren Zeugen und bestätigen es mir. Er spricht kein Wort Deutsch, nicht mal englisch oder französisch. Er kann mit keinem hier reden und sich nicht verständlich machen, daher kam es auch zu dem gestrigen Zwischenfall. Er wollte sich ein paar Zigaretten besorgen lassen, aber keiner verstand ihn, jeder deutete seine Gesten und Zeichen falsch. Dann, als er mit Gewalt zu dem Zigarettenautomaten auf dem Gang wollte, schlugen sie zu. Ich lasse mir seinen Haftbefehl zeigen, er hatte ½ Gramm (wohlbemerkt eineinhalb Gramm) Haschisch bei sich. Draußen lebt seine Frau und seine Kinder, er weiß nicht, wie er sie erreichen soll, sie waren nur zu Besuch hier und irgendwo in der Stadt steht auch noch sein Auto.
Die Zeit will und will nicht vergehen, jede Minute wird zur Ewigkeit, die Hitze wird immer unerträglicher, die Luft miefiger, die Langeweile immer trostloser, das Wasser in der Kanne immer wärmer. Schließlich drücke ich auf den Knopf und warte, dass jemand kommt. Aber ich muss lange warten, fast eine Stunde, dann fordere ich den Beamten auf, das Wasser laufen zu lassen. Er knurrt mich an, das wäre ein Notruf und dürfte nur bei äußerster Gefahr gedrückt werden. Auf meine Bemerkung, wenn tatsächlich etwas passiert wäre, dann wäre es jetzt – nach einer Stunde – bestimmt zu spät, knurrt er nur, aber schließlich lässt er uns gnädig eine Kanne Wasser abfüllen. Dann hocken wir wieder da und warten, Stunde um Stunde, ab und zu wird einer geholt, kommt nach einiger Zeit zurück, entweder vom Verhör oder mit einem Haftbefehl; jeder der geht, hofft, jeder der zurückkommt, ist enttäuschter als vorher.
Es wird immer unerträglicher in dem Loch. Wenn einer scheißen muss, stinkt es noch eine Stunde später, die Toilette ist genau mir gegenüber in einer Ecke, ich sehe jeden scheißen, pissen, furzen und habe mitunter das Gefühl, in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt zu hausen. Endlich, so um 18 Uhr, kommt wieder ein Wachtel und teilt die Matratzen und Decken aus, dazu gibt’s noch eine Tasse Tee, ein paar dünne Scheiben Brot und eine dünne Scheibe Leberkäs. Aber nun kann man sich wenigstens etwas ausstrecken. Irgendwann döse ich dann vor Müdigkeit ein, wälze mich unruhig hin und her, wache ab und zu wieder auf, döse weiter. Die Hitze lässt nicht nach, der penetrante Scheißhausgestank fällt auf mich wie ein Gummihammer. Als ich gegen Mitternacht wieder mal aufwache, bemerke ich, dass man vergessen hat das Licht auszuschalten. Wieder drücke ich auf die Glocke. Nach einiger Zeit schlurft jemand an die Zelle, öffnet die Klappe, fragt was los wäre und dreht endlich das Licht aus. Aber auch dann kann ich nicht wieder einschlafen. Über dem Scheißhaus bleibt ein Notlicht brennen und der Schein knallt mir genau ins Gesicht. Und dann geht noch jede Stunde die Türe auf und ein Neuer kommt in die Zelle. Das alte Lied beginnt von vorn, das Strandgut der Nacht wird in den Raum gespült. Einer der Neuzugänge kann nicht schlafen, er wandert unruhig in der Zelle auf und ab, bis jemand aus einer Ecke ihn anbrüllt. Dann bleibt er vor seinem Bett stehen, steht dort die ganze Nacht wie zur Salzsäule erstarrt, ein Säulenheiliger im Nachtasyl.
Um 3 Uhr wird wieder einer in die Zelle geschubst, er setzt sich schweigend auf ein freies Lager und starrt vor sich hin. Ich bin aufgewacht, ich weiß nicht zum wievielten Male, und sehe zu ihm hinüber. Im Licht der Scheißhausfunzel sehe ich, dass der Kerl am ganzen Leibe zittert, auf seiner Stirn funkeln Schweißperlen, ab und zu stöhnt er, hustet trocken, schnauft und schleicht dann zu der Wasserkanne um zu trinken. Ich muss an Gorkis Nachtasyl denken, schlimmer kann es auch nicht gewesen sein. Als am Morgen das Licht wieder angeht, hockt der Zitterer immer noch auf seiner Matratze und der andere steht immer noch vor seinem Lager. Ein Alptraum? Oder bin ich hier in einer Irrenanstalt? Der da auf dem Bett hockt, ist ein Alkoholiker, ich sehe das auf den ersten Blick, und zwar im schlimmsten Stadium; seine Augen sind blutig unterlaufen, Schweiß perlt auf seiner Stirn, die Paranoia liegt in seinen angstvollen Blicken. Ich gehe zu ihm hin und biete ihm eine Zigarette an, die er mit zitterigen Händen anzündet. Dann bedankt er sich und lächelt wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum.
Nach der Morgenbrühe, die man hier Kaffee nennt, versuche ich mit ihm zu sprechen. Er ist über 40, hat Betriebswissenschaften studiert und arbeitete als Geschäftsführer in einem Hotel, 3.500.- Mark pro Monat. Aber dauernd die Angst im Nacken zu versagen, den Job zu verlieren. Als ihm dann die Frau durchbrannte, begann er zu saufen. Er soff und soff, bis er seinen Job verlor. Später lernte er eine Frau kennen und zog zu ihr nach München, hoffte sich wieder zu fangen und machte mit ihr einen Laden auf, Getränke und Rauchwaren. Aber der Affe saß ihm schon zu fest im Nacken. Eines Tages setzte sie ihm die Koffer vor die Tür. Nun stand er da und wusste nicht wohin, er soff erst mal einige Tage und Nächte durch, bis er fast umfiel, schließlich hatte er nur noch einen Gedanken: Schlafen! Er brach in das Geschäft der Freundin ein, legte sich im Nebenzimmer auf die Couch und schlief ein.
Nach ihm hatte man noch einen kleinen dicken Krauskopf in des Zelle gesteckt. 21 Jahre alt, pickliges Gesicht, pfiffige Augen hinter einer dicken Brille, frühreif und durchtrieben, Marke „Ich-bin-unschuldig-alles-wird-sich-schon-klären“, ein Möchtegernrocker im Giesinger Lucky-Look. Er hat es faustdick hinter den Ohren. Mit drei Halbwüchsigen zwischen vierzehn und siebzehn Jahren setzte er die Vorurteile seiner Umgebung in die Praxis um und kassierte an einer Toilette einen Schwulen ab. Dass aus diesem Rocker-Abenteuer nun ein nächtlicher Raubüberfall wurde, leuchtet ihm nicht ganz ein. „Aber das war doch ein Schwuler!“ Nun schiebt jeder die Schuld auf den anderen, jeder belastet jeden, keiner will’s gewesen sein. Doch nach einer Stunde prahlt er schon mit Autodiebstählen und früheren Klappen-Erlebnissen. Ein paar Tage später – ich sitze schon in Stadelheim – fällt mir der Polizeibericht vom Montag in die Hände, ich kann den Alptraum dieser Nacht auf ein paar Zeilen reduziert in der Zeitung nachlesen. In Gedanken sehe ich den smarten und alerten Polizeireporter einer hochangesehenen Zeitung in der Ettstraße, gut ausgeschlafen, frisch rasiert, satt, mit sich und der Welt zufrieden, wie er „Fall“ für „Fall“ den Polizeibericht durchgeht, nichts versteht, nichts verstehen will, keine Zusammenhänge sieht und begreift, nur den einen Gedanken im Kopf: ob das auch „ankommt“, was es für Schlagzeilen abgibt und genau so sieht auch der Bericht aus: „Nächtlicher Überfall auf Rentner. Vier junge Burschen rauben ihm Tasche mit 160 Mark. Mutiger Passant stellt Täter.“ – „Mit einer umgebauten Gaspistole schoss der 42-jährige Bauhilfsarbeiter Lajos B. vor seiner Wohnung im Münchner Osten auf den 25 Jahre alten Gerhard K.“ „Am Einbruchsort Rausch ausgeschlafen. Wenig Mühe hatte die Polizei mit der Festnahme eines Einbrechers in einem Tabakwarengeschäft. Er schlief total betrunken auf dem Sofa eines Nebenzimmers.“
Ich sehe ihn vor mir, diesen Zuhälter der öffentlichen Meinung, dem jedes Schamgefühl fehlt, der nur das Erröten kennt, das einer Backpfeife folgt. Er denkt nur in „Fällen“, er reduziert das Leben eines Menschen auf eine Schlagzeile. Er, der sicher noch keine Nacht in diesem Asyl verbrachte, der dieses Loch bestimmt nicht einmal kennt, vermarktet die Ware Nachricht und verschachert die Menschlichkeit für ein paar Silberlinge auf dem Zeitungsstrich.
Peter Schult
Blatt. Stadtzeitung für München 75 vom 30. Juli 1976, 4 f. und Peter Schult Dokumentation, München 1977, 5 ff.