Materialien 1976

Der Osten

Die Gegend des Münchner Ostens in den Griff zu bekommen ist keine leichte Sache. Sicher, jeder Münchner weiß, dass hier (in Riem) der Flughafen liegt und doch bedeutet dieser für die „Flug-
gäste“ etwas anderes als etwa für die Truderinger, die mit dem Lärm der startenden und landenden Jets leben müssen. Dass Oberföhring wie auch Berg am Laim ehemalige Dörfer mit langer Historie sind, kann man noch merken. „Am allerältesten ist das berühmte Dorf Trudering, denn das schreibt sich gar aus der germanischen Heidenzeit her, als noch die Druiden ihren Spuk trieben.“ (Franz Trautmann)

Noch was kennt jeder Münchner: das Arabella-Haus, Wohnstätte der Jet-Set-Generation. Im 23. Stock schwimmen und über München schauen.

Und um diese Wohnscheibe gruppieren sich Hoch- und Flachbauten, so als ob sie alle etwas von dem Flair abbekommen wollten: der Cosima-Park , der Arabella-Park, der Fidelio-Park, die Park-
stadt Bogenhausen etc. Und gegenwärtig baut die Hypobank gar das nach dem Fernsehturm höch-
ste Gebäude Münchens (120 m hoch, 200 m lang) – direkt neben dem Arabella-Haus nur einen Steinwurf von Siemens entfernt.

Zur Charakterisierung derer, die im Bannkreis des Arabella-Hochhauses wohnen, ein kurzes Er-
lebnis des Schreibers:

Es war vor zwei Jahren. Ich jobbte in einer kleinen Klitsche für Garten- und Landschaftsbau – einmal weil ich dringend Geld brachte, zum Anderen um mich mal wieder körperlich zu betätigen. Eines Morgens meinte der Chef zu mir: „Wir müssen morgen in die Elektrastrasse (hinter dem Arabella-Haus) fahren. Ich hab da einen Auftrag, eine Dachterrasse zu begrünen. Ich hole Sie gegen 10 Uhr von der Baustelle ab.“

Am nächsten Morgen stehen wir pünktlich um 11 Uhr vor dem Eingang des Hochhauses in der Elektrastraße. Der Chef drückt auf einen der unzähligen Klingelknöpfe, eine Stimme aus dem Lautsprecher sagt, „Ja, hallo?“ „Firma Pfl. und Pfl.“, antwortet mein Chef in die Richtung, aus der die Stimme zu kommen scheint. Die Stimme sagt, „Ja, kommen Sie hoch.“ Ein Summen ertönt. Wir öffnen die Tür, treten hinein, die Tür schließt sich hinter uns. Gediegene Vornehmheit empfängt uns. Wir schreiten auf grauem Plüschteppich zum Lift, die Tür öffnet sich, innen der Plüschteppich vornehm blau.

Im 12. Stock empfängt uns ein Innenarchitekt, „Beauftragter der Eigentumsgemeinschaft des Hauses zur Neugestaltung der Dachterrasse.“ Er legt uns fein säuberlich gezeichnete Pläne, Skizzen und Perspektiven vor: „Wir wollen in das triste Betongrau ein wenig Farbe bringen. Gegenwärtig sind die Maler dabei, die Wände, Sockel und Treppen gelb und weiß zu streichen, das sind unsere Grundfarben. Sie harmonieren besonders gut mit dem Blau des (beheizten) Swimming-Pools. Ihre Aufgabe wäre es nun, eine Grüngestaltung vorzunehmen, die sich an diesen Farben orientiert. Wir dachten an eine Bepflanzung in zartem Rosa mit kräftigem Rot und strahlendem Weiß. Wir haben uns auf diese Farben in der Eigentümerversammlung geeinigt.“

Zu mir gewendet: „Könnten Sie mir mal einen Plan zeichnen, möglichst mit farbigen Ansichten, wie man dieses Konzept verwirklichen kann?“ – mein Chef hatte ihm erzählt, dass ich mal Gar-
tenarchitektur studiert habe – „Ja, kann ich schon machen.“

Wir fahren hinauf um die Örtlichkeiten in Augenschein zu nehmen. Frischer Wind empfangt uns. – es ist März – dem Swimmingpool entströmen kleine Dampfwolken. Der Blick über die Brüstung reicht weit über die Stadt. Nach Westen das Arabellahaus, dahinter die Frauentürme, die Kuppel des Armeemuseums und der Alte Peter, nach Osten und Norden eine schier unüberschaubare An-
sammlung von Ein- und Zweifamilienhäusern – die charakteristische Bebauung des Münchner Ostens, bewohnt von „besseren“ Angestellten, Beamten, Juristen, Ärzten, Versicherungsvertretern etc.

Wenige Tage später sitze ich wieder dem Innenarchitekten in seiner sonnendurchfluteten Arbeits- und Wohnstätte im 12. Stockwerk gegenüber. Ich hatte ein paar Pläne und Skizzen angelegt und wartete auf ein wohlwollendes Ja zu meinen Bepflanzungsabsichten. Doch er bekommt nach kurzem Studium meiner Vorlage zunächst einen roten Kopf, der sich sehr deutlich von der in dezenten Farben gehaltenen Gardinenkollektion an der Wand hinter ihm abhebt. „Daraus kann man ja gar nichts erkennen, wir möchten gerne sehen, wie die einzelnen Pflanzen in Größe und Farbe miteinander harmonieren.“ Er zeigt mir seine Zeichnungen von der Inneneinrichtung eines hochherrschaftlichen Wohnraums. Ich habe große Mühe, ihm klarzumachen, dass man Pflanzen nicht mit Wohnzimmerschränken und Clubsesseln vergleichen kann, weil letztere immer gleich aussehen, während sich Pflanzen im Laufe des Jahres immer wieder verändern.

Schließlich gibt er doch seine Zustimmung, d. h. wir könnten mit der Ausführung beginnen. Ta-
gelang transportieren wir (zwei deutsche und ein türkischer Arbeiter) Kies, Torfmull und Humus in Kübeln per Lift auf das Dach des Hauses, sehr zum Leidwesen des Hausmeisterehepaars, das um die Unversehrtheit der grauen und blauen Teppiche fürchtet und jeden unserer Transporte mit einem Staubsauger-Großeinsatz beantwortet – um ja den sauberkeitsgewohnten Augen der vor-
nehmen Bewohner kein Leid zuzumuten. Als wir darangehen, die aufgestellten Betonkästen zu füllen und der starke Wind dort oben immer wieder kleine Brisen trockenen Torfmulls auf der Wasseroberfläche des Schwimmbeckens verteilt, dreht der Hausmeister beinahe ganz durch: Wie ein Derwisch springt er bewaffnet mit einem Netz an einer langen Stange den Swimmingpool ent-
lang, um das Wasser wieder von der ungewollten Staubschicht zu befreien.

Und dann kommen sie – während wir unsere Brotzeit machen: bademäntelumhüllte Damen, geübt einherschreitend, würdige Herren mit grauen Schläfen, das Handtuch lässig über die Schulter geworfen, ältere Damen mit kunstvoll drapierten Haaren konsterniert ob unseres befremdlichen Treibens, uns kurzen Blicks geringschätzig zu mustern und dann langsam ins inzwischen wieder saubere Wasser zu gleiten, ein paar mal hin und her zu schwimmen und dann ebenso würdevoll wie sie gekommen waren, wieder zu verschwinden – ein Schauspiel in luftiger Höhe Münchens, fremdartig für uns, aber wohl doch Realität, die sich jeden Tag wiederholt. Wir bereiten ihnen eine dem Auge wohlgefällige Gartenlandschaft (die Pflanzen waren per Flugzeug aus Schleswig-Hol-
stein eingeflogen), verwischen die Spuren unserer Arbeit und verlassen dann unsere Arbeitsstelle – wir werden sie nie mehr wiedersehen …


Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 151 ff.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Militanz