Materialien 1976
Hintergrund einer Zeitungsnotiz
Frau sprang aus dem Fenster
München — Durch einen Sprung aus dem Fenster eines psychotherapeutischen Kommunikationszentrums in der Schwanthalerstraße versuchte sich am Mittwoch abend eine 21-jährige Münchnerin das Leben zu nehmen. Die Frau überlebte den Sturz in 10m Tiefe mit lebensgefährlichen Verletzungen. Die 21-jährige hatte während der Sprechstunde im Kommunikationszentrum plötzlich das Fenster aufgerissen und war hinausgesprungen. — Nachricht aus der AZ vom 19. März 1976.
Diese 21jährige Münchnerin, die einen Tag später gestorben ist, hatte eine zweijährige Erfahrung mit der Münchner Psychiatrie, sie wurde durch fünf verschiedene Kliniken geschleust. Im letzten Herbst zog sie nach ihrer Entlassung aus dem Max Plank-Institut für Psychiatrie (die dort begonnene Gruppentherapie wurde zweimal wöchentlich fortgesetzt) in ein Wohnheim mit psychiatrischer Betreuung. Dort entwickelte sich eine Beziehung zu einem ehemaligen Fixer. Plötzlich wurde sie nach Haar zwangseingewiesen um sie dem gefährlichen Einfluß ihres Freundes zu entziehen, mit dem sie auch einmal die Arbeitstherapie geschwänzt hatte. So schnell geht das. Nachdem sie freiwillig ihre Entmündigung für die Dauer ihrer Behandlung in dieser Anstalt unterschrieben hatte, kam sie in das „Geschlossene Haus“ für Frauen. Sie war mit drei chronischen Patienten in einem Zinmer. Sie durfte dreimal die Woche für ca. zwei Stunden Besuche empfangen und in dem dafür eigens vorhandenen Besuchszimmer, wenn es leer war, malen. Sie wollte Künstlerin werden und war früher auf einer Graphikerschule. Wie gut man jedoch malen kann unter dem täglichen Einfluß von ruhigstellenden Medikamenten und der Situation einer geschlossenen Abteilung kann sich jeder denken. Sie konnte dieses Privileg zum Malen immer weniger nutzen.
Von Anfang an werden Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und damit Selbstvertrauen unterdrückt, beispielsweise auch durch Zigarettenrationierung, Belohnung für angepasstes Verhalten durch Chips (5 Chips = Hofgang) und Überwachung des persönlichen Eigentums. Worin liegt das Ziel dieser Therapie? Wie wir hörten: im Erlernen von Ordnung und Arbeit. Ihre Ängste steigerten sich ins Unerträgliche. Sie verlor jegliche Kritikfähigkeit. In dieser Erfahrung machte sie ihren ersten Selbstmordversuch. Bei einem ihrer ersten Wochenendbesuche zu Hause versuchte sie sich die Pulsadern zu öffnen. Bei einem darauf folgenden Besuch erklärte sie uns, „daß sie froh ist, in Haar vor solchen Dummheiten geschützt zu sein.“ Hatte sie die Meinung der Ärztin verinnerlicht?
Um den Erfolg der Therapie nicht zu gefährden, sollten sich auch die Besucher den Therapievorschriften unterwerfen. Als wir den Briefkontakt zu ihrem Freund ermöglichten, bekamen alle Nichtverwandten Besuchsverbot. Bei einem Versuch etwas über die genauen Gründe dieses Verbots von der behandelnden Ärztin zu erfahren, erreichten wir nur mit Mühe und Not einen vertretenden Arzt, der sich mit charmantem Lächeln einer Erklärung entzog und damit unsere Machtlosigkeit bestätigte. Nach einer 1 ½ monatigen Trennung erzählte sie uns bei einem Wochenendbesuch bei ihren Eltern: „Ich darf ins ‚Offene Haus’, wenn ich Ordnung gelernt habe!“ Eine Woche später erfuhren wir von ihrem Selbstmord.
Bei der Beerdigung sprach der Pfarrer sinngemäß: Wir mußten ohnmächtig mitansehen, wie ihre furchtbaren Ängste sie in den Selbstmord trieben. Amen.
sirene
wer informationen über haar hat, soll sich bei uns melden. wir brauchen sie dringend. blatt 223 221
Blatt. Stadtzeitung für München 69 vom 7. Mai 1976, 15.