Materialien 1976

2 Jahre + 3 Monate für Peter Schult

Wir hatten bisher zum „Fall“ Peter Schult, der ständiger Mitarbeiter bei uns ist, geschwiegen. Mit der uns selbst gegebenen Begründung, vor Abschluss des Prozesses könne eine Stellungnahme ihm vielleicht eher schaden als nützen. Jetzt müssen wir feststellen, dass das ein frommer Selbstbetrug war, über ein für uns alle so wichtiges Thema wie „Sexualität, Moral und (bürgerliche) Moral“ eine offene Diskussion anzufangen. Wir haben geschwiegen (und damit Peter allein gelassen), obwohl jeder von uns abstrakt im Kopfe hatte, dass es hierbei auch für uns selbst um ganz entscheidende Fragen ging.

Obwohl jeder, der Peter etwas näher kennt, seit langem weiß, dass er Homosexueller ist, waren viele durch die Beschuldigungen doch so verunsichert, dass sie die Behauptungen von Staatsanwaltschaft und Presse für durchaus möglich hielten. Schlimm ist nicht, dass Peter nicht von allen Seiten mit bedingungslosen Solidaritätserklärungen überschüttet wurde (was er auch sicher nicht gewollt hätte), schlimm ist, dass auch von Genoss(inn)en schon ein Vor-Urteil erfolgte, ohne dass diese sich überhaupt bemühten, die Fakten zu überprüfen. Dann ist es nur noch der logische Gipfelpunkt einer solchen Einstellung, wenn z. B. – wie jetzt geschehen – wir von Frauen aus der Frauenbewegung hören, die empört sind, dass so ein Typ überhaupt noch Artikel bei uns veröffentlichen darf. Hier wird also aus der Tatsache, dass wir bisher geschwiegen haben, ohne nachzufragen, der erschreckende Umkehrschluss gezogen, dass dann wohl alle Gerüchte stimmen müssten und so einer dann gefälligst auch aus der Linken „rauszusäubern“ sei. Hoch lebe die bürgerliche Moral!

Damit das nicht so bleibt, haben wir uns entschlossen, diese Diskussion trotz/gerade wegen aller unserer Schwierigkeiten anzufangen. Daher in dieser Nummer neben dem folgenden Prozessbericht ein Päderastie-Artikel. Für die nächsten Nummern wollen wir weitere Artikel zu diesem Themenbereich vorbereiten, wünschen aber auch von euch Stellungnahmen und Beiträge.

Es ist einfach unglaublich: Richter Sauter verurteilte Peter am 7. Oktober 1976 zu 2 Jahren 3 Monaten Gefängnis wegen angeblichen Missbrauchs eines Kindes. Drei Jahre hatte der SA beantragt, Freispruch Peters Verteidiger. Wir halten dieses Urteil nicht nur für eine krasses Fehlurteil, sondern haben darüber hinaus den Verdacht, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuginge. Passiert ist folgendes:

Am 21. Juni traf Peter in der S-Bahn ein Mädchen, das von zu Hause weggelaufen war, erzählte, dass es dort ständig Prügel bekomme (mit der Peitsche!) und nicht mehr zurück könne. Peter nahm sie, weil es schon fast Mitternacht war, mit nach Hause und redete mit ihr. Dort hörte Peter von dem Mädchen das Schicksal eines Kindes, das wohl leider kein Einzelfall ist: Der Vater prügelt es ständig, die Brüder probieren ihre pubertierende Sexualität an ihr aus, sie reißt ständig aus und man droht ihr, sie in ein Heim zu stecken. Sie will nicht nach Hause.

Da das Mädchen erzählt, dass die Lehrerin gut zu ihr sei, schlägt Peter dem Mädchen vor, es solle gleich in der Früh zur Lehrerin gehen und mit dieser zu den Eltern. Er gibt ihr eine Decke, sie schläft ein. Am Morgen bringt Peter sie zur S-Bahn und kauft ihr einen Fahrschein, sie verspricht ihm, in die Schule zu fahren. „Wenn alles schief läuft, können wir uns wieder am Ostbahnhof treffen, vielleicht kann ich oder andere noch etwas für dich tun“, verabschiedet sie Peter.

Das Mädchen steigt an der nächsten Station aus und geht zum Ostbahnhof zurück. Es wartet auf Peter. Offenbar hat sie Angst zurückzufahren und erhofft sich Hilfe von Peter, zu dem sie Vertrauen gefasst hat. Sie wartet zwei Stunden, dann wird sie von der Polizei aufgegriffen. Das Mädchen ist enttäuscht von Peter, macht ihn wohl verantwortlich, dass sie jetzt zurückmuss, vielleicht in ein Heim. „Ich hätte ihn grün und blau schlagen können“, schildert sie später in der Gerichtsverhandlung ihre Gefühle Peter gegenüber.

Als die Verhöre der Polizeibeamtinnen beginnen, wittern diese gleich „unsittliche Handlungen“, als sie hören, dass das Kind bei einem Mann über Nacht war. „Du hast es erfasst“, sagt das Mädchen und liefert ihnen die unsittlichen Handlungen. Ein paar Tage später wird Peter verhaftet.

Wie uns Peters Verteidiger erzählt hat, muss der SA in solchen Fällen sofort ein Gutachten über die Glaubwürdigkeit des Kindes anfertigen lassen, da es später sehr schwierig ist, festzustellen, ob das Kind gelogen hat oder nicht. Peters SA unternimmt nichts. Auch als der Verteidiger ein Gutachten beantragt, geschieht nichts dergleichen. Im Gegenteil, der SA stellt eine Anklage zusammen und schickt sie an den Richter. Wieder beantragt Peters Anwalt ein Gutachten. Richter Sauter beauftragt den vorgeschlagenen Gutachter, Prof. Lempp aus Tübingen. Der Gutachter erstellt, nachdem er das Kind gesprochen und getestet hat, ein Gutachten und kommt zu dem Ergebnis, dass eine Falschaussage des Kindes durchaus möglich ist.

Noch am gleichen Tag wird Peter entlassen. Als am 29. September die Verhandlung beginnt, passiert etwas Merkwürdiges. Der gleiche SA, der vorher die Erstellung eines Gutachtens verweigerte, wohl auf den Zeitablauf und die Schwierigkeit, später das Versäumte nachzuholen, vertraute, kam mit einem eigenen Gutachter – Herrn Germanus Gundlich. Obwohl Prof. Lempp einer der bekanntesten Gutachter auf seinem Gebiet ist und von daher ein zweiter Gutachter nicht notwendig und auch nicht üblich ist, wurde Herr Gundlich als Zweitgutachter bestellt.

Stand das Gutachten dieses Gutachters schon vor der Verhandlung fest? Wir möchten es vermuten – obwohl wir wissen, dass wir es nicht beweisen können.

Die Verhandlung nahm ihren Lauf. Die Zeugen bestätigten das traurige Schicksal des Mädchens, von dem uns Peter erzählt hatte. Die Mutter erzählte, das Mädchen „lüge wie gedruckt“, stehle und habe oft Schläge bekommen, es habe „große sexuelle Neugierde“. Der Vater habe nach dem letzten Ausreißversuch gesagt, er werde sie so schlagen, dass sie nicht mehr stehen könne, wenn sie noch einmal ausreiße. Auch die Lehrerin – viel verständnisvoller als die Mutter – bestätigt diese Dinge.

Das Kind sei zu Hause ungeliebt, meint die Lehrerin, es werde geschlagen, einmal sogar mit dem Elektrokabel. Sie stehle oft. Immer, wenn man sie erwische, sage sie die Unwahrheit. Sie suche die Aufmerksamkeit der Umgebung und wolle im Mittelpunkt stehen.

Das Mädchen wurde auch gehört – hierbei war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Aus dem Plädoyer von Peters Anwalt können wir schließen, dass das Mädchen einige Punkte jetzt anders erzählte, Formulierungen der Beamtinnen übernommen hatte: „Die Kriminalbeamtin hat gesagt, dass …“, „Ich musste der Kriminalbeamtin versprechen, dass …“.

Dann kamen die Gutachter. Prof. Lempp meinte, dass das Kind eventuell sexuelle Erlebnisse mit ihren Brüdern oder anderen Männern auf Peter übertragen hat. Motiv könnte sein, dass sie enttäuscht und wütend auf Peter war. Prof. Lempp meinte am Schluss „die Glaubwürdigkeit sei nicht unerheblich eingeschränkt“. Hätte man ihn eher beauftragt, hätte er es genauer sagen können. Den SA-Gutachter störte dies alles nicht, weder, dass er so spät das Kind begutachtete, noch dass er die Akten nicht kannte, keine Tests mit ihm vornehmen konnte, noch dass ein Gutachter, der ihm fachlich turmhoch überlegen ist, zu einem klaren Ergebnis gekommen war. Er erstattete sein Gutachten, wie es wohl von ihm erwartet wurde: „Das Kind ist glaubwürdig, daran gibt es keinen Zweifel!“

Peters Anwalt stellte den Antrag, dieses Gutachten durch einen Obergutachter überprüfen zu lassen, bevor man sich ihm anschloss. Außerdem müsse dem Lempp-Gutachten gefolgt werden, da nur er überzeugend war. Der SA hatte sich seinem Gutachter voll angeschlossen und beantragte drei Jahre. Und so geschah es dann. Allerdings müssen die drei Jahre auf 2 Jahre und 3 Monate ermäßigt werden, da Peter ein hartes Leben hatte und dies mildernd zu berücksichtigen sei, meinte Richter Sauter und die Schöffinnen schwiegen dazu, wie schon während der ganzen Verhandlung.

Gleich nach der Urteilsverkündung fand sich ein Rollkommando von sechs Beamten ein. Die hatten wohl schon vorher gewusst, wie das Urteil ausging. Peter wurden die Hände auf den Rücken gefesselt, dies mit solcher Brutalität, dass die Handgelenke ganz blutig waren. Noch am Montag konnte sein Anwalt die verschorften Stellen sehen. In der Haftzelle des Gerichtes warteten schon zehn weitere Beamte auf ihn, die ihn bis auf die Unterhose filzten und dann nach Stadelheim brachten.

Peter selbst hat im Prozess erzählt, was er von der Anklage hält. Er hat sich zu seiner Homosexualität bekannt und das Verhältnis zu dem sechzehnjährigen Jungen, der mitangeklagt war, eingeräumt.

„Ich akzeptiere nicht ein Gesetz, das es mir verbietet, Beziehungen zu haben mit Jungen, wenn das ohne Gewalt, ohne Ausnutzung von Autorität den gegenseitigen Bedürfnissen entspricht. Mit dem neunjährigen Mädchen habe ich keinen sexuellen Kontakt gehabt und könnte so etwas auch nicht mit meinen Vorstellungen vereinbaren.“

Blatt


Blatt. Stadtzeitung für München 79 vom 15. Oktober 1976, 10 f.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Schwule/Lesben

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