Materialien 1976

Frauen und Päderastie - das gabs noch nie

Es war gut, den Stein 100 Meter zu werfen. Er ermöglicht uns vielleicht, 10 Meter zu gehen.
Peter Schult

Ich liebe dich meine Kindheit. Ich liebe dich, die du weder Mutter noch Schwester bist. (Pardon, Mutter, ich sehe dich lieber als Frau.) Weder Tochter oder Sohn. Ich liebe dich – und was liegt mir denn dann, wenn ich dich liebe, an der Abstammung von unseren Vätern und ihren Wünschen nach einem Ebenbild. Und an ihren genealogischen Institutionen, – weder an Ehemann noch an Ehefrau. Überhaupt an Familie. An Persönlichkeit, Rolle oder Funktion – an ihren Reproduktionsgesetzen. Ich liebe dich: deinen Körper da, hier, jetzt. Ich/du berühre dich/mich und das reicht völlig, damit wir uns lebendig fühlen.
Luce Irigaray

Nach den Artikeln in den letzten Blättern gab es heiße Diskussionen über Päderastie, Sexualität und wie wir uns dazu verhalten. Insbesondere auch wir Frauen.

Es ist schwer etwas darüber zu schreiben, ohne in Allgemeinplätzen zu verschwinden, weil die eigene Tabuisierung zuschlägt.

Schreiben und dabei Angst haben den Mut zu verlieren, unsere Wünsche und Vorstellungen aus dem Versteck zu holen, wo sie sich vor der bürgerlichen Moral verborgen halten. Und wo wir sie vor uns selbst verbergen, weil es der Ort ist, an dem die „normale Sexualität“ zusammenbricht. Das haben wir festgestellt, in den vielen Gesprächen die wir seither führen: das Diskutieren über eine „andere Sexualität“ ist die verborgene Rede über die eigene.

Holen wir die Lust aus ihrem Versteck hervor! In den Bildern unserer Träume, unserer Phantasien bricht die Schranke des „normalen“, der Heterosexualität ein, alles ist darin möglich, Spuren einer befreiten Lust, die keine Grenzen kennt.

Aber wie können wir dies beschreiben? Wir scheitern an der Sprache unserer Phantasie, für die es noch keine Worte gibt. Das Verbot, daß wir uns auferlegen, ist zu tief, macht uns Angst, aus dem Normalen für immer auszubrechen. Je stärker sie ist, desto mehr Raum gewinnt die bürgerliche Moral in uns, macht sich da breit, wo wir sie überwunden glaubten. Was nützt uns die ganze Alternativdiskussion, wenn wir aus ihr als Revolutionäre des Lebens und Utopisten der Politik hervorgehen und als Hüter der Sexualmoral zurückbleiben? In unserer alltäglichen „Fickpraxis“, dieser patriarchat-familiären Lustfabrik, fühlen wir uns offenbar wie zu Hause. Wir sehen nicht mehr ihre Gewalttätigkeit die zum Beispiel darin besteht, dass sie alle anderen Formen von Sexualität ausgrenzt. An die „Homosexualität“ sind wir inzwischen „gewöhnt“, durch die Praxis der Schwulenorganisationen ist sie fast schon Scene-Alltag geworden. Aber die Päderastie scheint uns um einiges unheimlicher zu sein. Geschockt reagieren wir mit Ausgrenzung und merken nicht, daß es die bürgerliche Moral in uns ist, die zum millionstenmal die Perversion erfindet, um die ewigen Gesetze der Heterosexualität anzuwenden. Warum funktioniert diese Moral so gut? Weil es um die Existenz der Familie geht, diesem Treibhaus der unbefriedigten Lust, in dem wir alle aufgewachsen sind: die Familie, die unsere Sexualität gefesselt und geschnürt hat, bis nur noch das EINE übrigbleiben darf. Wer etwas „anderes“ praktiziert, bricht damit die Gesetze der familiären Welt und wird zum Gejagten dieser Moral, Opfer und Ankläger zugleich.

Die Existenz der Ausgeschlossenen ist eine Provokation der Familie, weil sie gegen die Verdrängung protestiert, dass es die Möglichkeit eines Lebens außerhalb der Familie geben könnte. Wenn wir es kapieren, sehen wir auch die Ausgeschlossenen als subjektiv Revoltierende, zu denen wir die so genannten Perversen zählen wie auch die Hexen, die ausgestoßenen Frauen, die sich weigern, ihre Lust in den Dienst der Fruchtbarkeit oder des Rollenspiels Ehefrau/Geliebte zu stellen. Wir zählen auch dazu die subversive Kraft unserer Phantasie, die eine Vorstellung der Lust entwirft, die keine Grenzen durch das übliche Beziehungsgefüge zulässt. Heterosexualität erscheint uns nicht als die „normale“ Lust, sondern als eine Lust an der Normalität. „Nicht ausbrechen“ kennen wir als die Parole der glücklichen Zweierbeziehung, die wir uns so oft herbeiwünschen, obwohl wir sie nicht mehr durchhalten. Zwischen Terror und Zärtlichkeit hin und her schwankend wird sie mühsam am Leben erhalten, denn was soll an ihre Stelle treten?

Wir haben uns ja selbst noch nicht entdeckt, außer als Moralisten, die an den „anderen“ die eigenen verbotenen Wünsche hassen. Dadurch, dass die „perverse“ Lust Verbotenes überschreitet, ist ihre Leidenschaft zugleich auch Revolte. Zärtlichkeit und Gewalt liegen nah beieinander, aber sie lassen auch ein Bild von Liebe entstehen, ohne Gewalt, welches das Un-Mögliche näher rückt. Der bürgerlichen Moral mit ihrem analytischen Verstand einerseits und ihrer lustfeindlichen Mütterlichkeit andererseits, scheint gerade das als pervers.

Lust haben an Kindern darf nur die Mutter. Lust haben an Frauen ist durch die der Heterosexualität zugrundeliegenden Schranken Verbotenes für Frauen und Männer gleichermaßen. Lust haben an sich selbst, da muss man sich erst wieder zusammensuchen. Ist das nicht die Gewalt der herrschenden Moral?

Gegen diese Moral eine Illegalität der Lust zu leben ist eine Rebellion, ist das immer wieder stattfindende revolutionäre Ereignis, das unseren Alltag auf den Kopf stellt, die Gefühle ausbrechen lässt und die Basis unseres Denkens erschüttert. Denn unsere größte Angst ist die Angst vor unserer eigenen Freiheit.

Auch unsere Befreiung, die der Frauen, ist eine gewaltige Erschütterung. Sie bedroht das familiäre, patriarchalische Rollenspiel, das uns zu Müttern, Geliebten und Transporteure von Zärtlichkeit macht, wie sie gesellschaftlich definiert ist. Unsere Verweigerung bedeutet den Einbruch der revolutionären Lust, die keine Rolle, keine Grenze kennt. Da es uns in der Vorstellung der bürgerlichen Moralisten nicht gibt, ist jedes Zeichen unserer Existenz genauso Gewalt, Bedrohung für das bürgerliche Leben, die Familie, die herkömmliche Sexualität. Je mehr wir uns der Utopie nähern, desto mehr werden wir als Eindringlinge in das besetzte Gebiet der patriarchalischen Herrschaft wahrgenommen. Wir haben jedoch begonnen, aus dem Ghetto unserer Wünsche und Gefühle auszubrechen – diesem exterritorialen Gebiet der Lust, die Menschlichkeit zurückerobernd. Darin sind wir den „ausgeschlossenen“ subjektiv Revoltierenden sehr nah. Es ist die Gewalt der Liebe, vor der die Gewalt des Hasses Angst hat.

Ein paar Frauen


Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft 5 vom Februar 1977, München, 84 f.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Schwule/Lesben

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