Materialien 1976

Für eine sexuelle Revolution - wider die linken Spießer!

Für viele Linke ist es klar: wer angepasst lebt, erkennt nicht die Widersprüche des Systems. Er aber, der Linke, lebt bewusst, er erkennt die Widersprüche und versucht sie durch seine Praxis aufzuheben. Wie sieht es aber mit den Widersprüchen innerhalb der Linken aus? Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, Kopf und Bauch, Kopf und Schwanz? Kopf? Leider sind es oftmals nur die Lippen, die die revolutionären Thesen verkünden, während man noch bis zum Hals im Morast seiner kleinbürgerlichen Vergangenheit steckt. Zehntausende von Spontis klatschten begeistert Beifall, als Daniel Cohn-Bendit in Frankfurt der Professorenfraktion des SB1 die Frage stellte, was sich denn eigentlich in ihrem Leben verändert hätte. Diese Frage hätte ebensogut jedem einzelnen der Applaudierenden gestellt werden können. Was hat sich denn in unserem Leben verändert? Ist das Leben in einer Wohngemeinschaft schon eine entscheidende Änderung der Lebensgewohnheiten? Oder ist es nicht heute schon wieder so, dass sich dort immer häufiger Zweierbeziehungen anbahnen, die sich kaum von einer kleinbürgerlichen Ehe unterscheiden. Zweierbeziehungen, die jeden Dritten ausschließen, deren Probleme nicht mehr von anderen Mitbewohnern geteilt oder diskutiert werden, deren Problematik oft nicht einmal mehr von den anderen bemerkt wird, in denen sich klein-bürgerliche Relikte wie Besitzansprüche, Eifersucht und Objektbeziehungen wieder ausbreiten. Ist nicht die ganze Sexualmoral der Linken im Grunde oft nur ein Aufguss der kleinbürgerlichen Moral mit einer liberalen Soße und deshalb besonders ungenießbar!?

Oder aber: Wie sieht unser Verhältnis zur Kriminalität aus, zu Randgruppen, zu ausgeflippten Haschern, zu jugendlichen Fürsorgezöglingen, zu Rockern? Hat sich da nicht auch in der Linken eine Reaktion, eine Tendenzwende angebahnt und werden da nicht immer häufiger Ansichten laut (und leider auch leise), die sich in nichts von den Ansichten eines Kleinbürgers unterscheiden? Und wer heute über Sexualität innerhalb der Linken diskutieren will, darf und kann das eine nicht vom anderen trennen, denn es ist letztenendes eine Frage des Bewusstseins. Wie aber sieht es mit diesem Bewusstsein heute in der Linken aus, und wie kommt es, dass die Frage danach, die in den 60er Jahren im Mittelpunkt der Studenten-, Schüler- und Lehrlingsrevolte stand, heute fast völlig verstummt ist und kaum noch einer vor lauter Alternativläden, Alternativzeitschriften, Alternativkneipen, Alternativwerkstätten danach zu fragen wagt. Und: Wie alternativ ist eigentlich das Bewusstsein dieser Kneipen-, Läden- und Werkstattbesitzer. Sind es tatsächlich auch immer alternative Einrichtungen oder ist es oft nur eine verschleierte Form von kleinbürgerlichem Kapitalismus.

„Das Sein prägt das Bewusstsein!“, das ist einer der Kernsätze des Marxismus, des marxistischen Denkens, aber gerade hier tritt der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis besonders deutlich zutage. Trotz aller Distanzierungen von den K-Gruppen und Parteien sehen wir das Sein in erster Linie durch die ökonomischen Verhältnisse geprägt. Trotz aller Erkenntnisse der letzten hundert Jahre haben wir anscheinend noch nicht richtig kapiert, dass unser Bewusstsein vor allem auch von kulturellen Einflüssen bestimmt wird, von den Medien, von der Literatur, von der Musik, von Filmen, vom Theater usw. Und wenn es auch viele mit dem Kopf kapiert haben, dann ist es auf jeden Fall nicht bis zum Bauch, bis zum Schwanz, bis zu den Augen und Ohren vorgedrungen, sonst werden nicht so viele dieses „Sein“ widerspruchslos akzeptieren, das auch den Kleinbürger geprägt hat und prägt und dieses „Sein“ auch noch eifrig konsumieren.

Man gehe einmal in unsere Wohngemeinschaften und sehe sich an, wie dort Abend für Abend die übelsten Law-and-Order-Serien a la „Einsatz in Manhattan“, „Die Straßen von San Francisco“ oder „Columbo“ konsumiert werden. Man sehe einmal in die Bücherschränke mancher Genossen und achte dabei nicht auf die Stapel an theoretischen Schriften und Büchern, die dort stehen, sondern betrachte die „schöngeistige“ Literatur, die gelesen wird. Das reicht von Ganghofer, Thoma und Anzengruber über Simmel, Robbins und Haley bis Thomas Mann, Albert Camus und Saul Bellow. Man höre einmal, was da alles noch an klassischer Musik konsumiert wird, die zum „bürgerlichen Kulturgut“ gehört. Wie viele Linke versuchen verzweifelt Wagner in die Ahnenreihe der großen Revolutionäre aufzunehmen und ergötzen sich an den Auftragskomponisten des Feudaladels. Wie viele Linke sind noch heute Fans des reaktionären John Ford und berauschen sich an den „einsamen Kämpfern für Recht und Ordnung“, die über die Prairie reiten und jeden, der sich gegen diese Ordnung auflehnt, abknallen oder aufhängen. Und all das: Ganghofer + Ford + Kojak + Richard Wagner + Thomas Mann + Süddeutsche Zeitung + Raimond Chandler + Reinhard Mey und noch einiges mehr prägt eben das Bewusstsein eines Kleinbürgers, der dann natürlich auch seine berüchtigten Vorurteile gegen Kriminelle, Homosexuelle, Päderasten, Rocker und alles, was sich nicht in diese kleinbürgerlichen Normen einfügt, produziert. Da kann die Theorie hundert mal nachweisen, dass die Ursachen der Kriminalität in gesellschaftlichen Verhältnissen zu suchen sind, wenn dann der entlassene Einbrecher Franz Meier dem Linken gegenübertritt, dann spukt in dessen Kopf eben immer noch der Staatsanwalt, der Bulle und es kommt zu einem gestörten Verhältnis. Kojak erweist sich als bewusstseinsprägender als alle Theorie. Natürlich klingt das hier alles etwas vereinfachend, es kommt vieles andere hinzu, das bürgerliche Elternhaus, die bürgerliche Erziehung, das ganze bürgerliche Bewusstsein, das jahrhundertelang geprägt wurde von bürgerlichen Philosophen, Pädagogen, Musikern, Schriftstellern, Politikern usw.

Der Widerspruch innerhalb der Linken beginnt ja schon mit Marx, dessen Praxis, d.h. dessen eigenes Leben, ein Musterbeispiel an Kleinbürgerlichkeit war. Und dieser Kleinbürger Marx, der seine adelige Frau wie ein Familientyrann behandelte, der sich von Kapitalisten aushalten ließ, beruft sich ausgerechnet auf den abgefallenen Jakobiner Hegel, der mit seiner Philosophie die preußische Staatsidee zementierte. Kein Wunder, dass aus dieser Mischung von Preußentum und Sozialismus so etwas wie die DDR entstand, entstehen musste.

Aber Spaß beiseite (ist es wirklich nur ein Spaß?). Die Kultur der Linken ist heute alles andere als revolutionär. Und dabei hat in den 60er Jahren eine Kulturrevolution stattgefunden, nur wurde sie zum größten Teil von der Linken verschlafen. Die hatten meistenteils keine Zeit, die mussten entweder die marxistischen Klassiker lesen oder auf den Straßen demonstrieren. Deshalb hörten sie nicht, oder nur unbewusst, dass die Jugend zwischen San Francisco und Tokio, zwischen London und Tel Aviv eine eigene, revolutionäre Musik hervorbrachte, die mit der bürgerlichen Musik kaum noch etwas zu tun hatte, die ihren eigenen Rhythmus, ihren eigenen Stil, ihre eigene Sprache hatte, die weder museal war noch von gängigen Klischees lebte, sondern von den Gefühlen, Gedanken, Problemen und Bedürfnissen eben dieser Generation kündete, die im Begriff war, aus der bürgerlichen Welt auszubrechen. Die Linke sah sich kaum die revolutionären Filme dieser Zeit an, weder die von Godard, Pasolini oder Warhol noch die eines Kluge, Herzog, Schröter, Costard, Kristl, Praunheim oder Schlöndorff, der damals „Mord und Totschlag“ mit der Musik der Rolling Stones drehte, oder den anarchistischen „Baal“ oder den großartigen revolutionären Film „Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Krombach“. Heute kritisieren die selben Linken den „Fangschuss“ und der ist natürlich eher eine Fortsetzung des „Törless“ als des „Baal“. Doch gerade das halte ich für symptomatisch für die ganze Kulturrevolution der 60er Jahre. Sie fand nämlich zum größten Teil nur auf den Feuilletonseiten der Zeitungen und in den Kulturmagazinen des Fernsehens ein Echo, nicht aber bei der Linken, und diese snobistische Kulturschickeria, der es ja nur um den modischen Gag ging, war bald gelangweilt und suchte einen neuen Gag, und fand ihn dann wieder mal in Salzburg und Bayreuth, dort fühlten sie sich im Grunde auch wohler, da waren sie wieder unter sich. Die Künstler aber blieben ohne Unterstützung und passten sich wohl oder übel wieder an, und jetzt erst fanden sie den Beifall der Linken, denn sie rannten nun plötzlich in Geissendörfers Anzengruberverfilmung und Klicks Simmelschnulze oder Warhols Frankenstein.

Wer von unseren Anarchisten, die heute mit dem Bakunin unterm Arm durch München rennen und die Weltrevolution predigen, hat sich damals die Filme von Vlado Kristl angesehen, der seinen Anarchismus auf Zelluloid bannte? Die saßen lieber in den Nachtvorstellungen vom Arri und amüsierten sich über Eddi Constantine. Heute dahingegen begeistern sie sich dafür an den relativ harmlosen Streichen einer Lina Brake.

Wer las damals Genet, Cendrars, Ginsberg, Arrabal, Burroughs, Salinger, Ferlinghetti, Bukowski, Till Kupferberg, Sanders, Gregory Corso, wer sah sich „Magic Afternoon“, „Unter Aufsicht“, das Living Theatre, das La Ma-Ma Theater, das Action Theater an? Es gab kein Gebiet, auf dem nicht experimentiert wurde, auf dem man nicht neue Wege suchte, die aus dem bürgerlichen Kulturleben herausführten, wo man nicht revolutionäre Kunst propagierte und vorführte. Das Spektrum war so breit und so vielfältig, dass man seitenlang Namen aufführen könnte, Namen, die heute fast schon wieder vergessen sind, weil sie keinen Anklang fanden oder die sich von Medien wieder einfangen ließen, die vermarktet wurden, die von der bürgerlichen Kultur geschluckt wurden, die immer alles verschlingt ohne anscheinend daran zu ersticken, die nur alles verwässert, verfälscht. Aber all das konnte nur geschehen, weil die Linke das nicht für sich reklamierte, sich nicht dazu bekannte, mehr kritisierte als sich damit zu identifizieren, sich damit auseinander zusetzen. Ähnliches konnte man ja auch nach der Oktoberrevolution in Russland erleben. Auch damals begann die Kunst aufzuleben, begann zu experimentieren, war revolutionär und wollte das Bewusstsein revolutionieren. Doch alles erstickte im kleinbürgerlichen Mief der kommunistischen Funktionäre. Man denke nur an die Dadaisten oder die Surrealisten, die bis in die 30er Jahre hinein eine revolutionäre Kunst verkündeten und die von den „sozialistischen Realisten“ a la Ilja Ehrenburg diffamiert wurden, der über sie schrieb:

„Die Surrealisten sind wohl einverstanden mit Hegel, mit Marx und mit der Revolution – was sie aber nicht wollen, das ist arbeiten. Sie haben ihre eigenen Beschäftigungen. Sie studieren zum Beispiel die Päderastie und die Träume. Sie befleißigen sich, das Geld der anderen zu verzehren, der eine eine Erbschaft, der andere die Mitgift seiner Frau. Sie begannen damit, obszöne Wortspiele zu fabrizieren. Die Einfältigsten unter ihnen geben zu, dass ihr ganzes Problem ist, den Mädchen nachzulaufen.

Die, die etwas Bescheid wissen, kapieren, dass man damit nicht weit kommt. Das Thema ‚Frauen’ ist für sie bereits Konformismus, und sie entwerfen ein ganz anderes Programm: Onanismus, Päderastie, Fetischismus, Exhibitionismus und selbst Sodomie. Doch setzt das in Paris kaum jemanden in Erstaunen. Also wird Freud als Aushängeschild verwendet, und die gewöhnlichsten Perversionen hüllen sich sogleich in den Schleier des Unerklärlichen …“

In diesen Sätzen kommt der ganze bornierte Ausdruck eines linken Spießers zum Vorschein, die Moral eines Kleinbürgers, und natürlich die Vorurteile gegen bestimmte Formen der Sexualität, wie sie nahtlos von der Bourgeoisie übernommen wurden. Breton hat Ehrenburg damals eine saftige Ohrfeige verpasst. Die Surrealisten hatten als erste das ganze kulturelle Gebäude des europäischen Bürgertums umgestoßen, das auf einem zunehmend begrenzten und anachronistischen Rationalismus und Idealismus fußte. Es hat einem kollektiven intellektuellem Abenteuer Platz gemacht, das zeitlich und gesellschaftlich über die Grenzen des Surrealismus weiterwirkte, weil es die nicht vorherzubestimmende revolutionäre Aktion darstellt und mehr oder weniger die Kulturrevolution der 60er Jahre auslöste.

Es ist bezeichnend, dass heute, nachdem diese Kulturrevolution verschieden ist, viele Linke im nachhinein den Zugang finden und nachholen wollen, was sie damals verpassten, für sich entdecken wollen, was ihnen schon nicht mehr gehört. Dazu gehören nicht allein die Rockmusik und die Drogen, sondern auch die Literatur und die alternativen Lebensformen. Und wenn es auch noch Linke gibt, die nicht an diese Kulturrevolution glauben, so haben doch inzwischen viele Rechte gemerkt, was damals stattgefunden hat und suchen teils bewundernd, teils irritiert nach den Nachwirkungen und Spuren. (Man denke nur an Klaus Mehnerts Buch „Jugend im Zeitbruch“ oder Friedrich Heers und Hans Schusters Untersuchungen über dieses Phänomen.) Wer aber von den Linken erinnert sich daran, dass die Vorbilder für alle unsere alternativen Einrichtungen, für die Kneipen, Zeitschriften und Läden in den Free Shops von San Francisco zu suchen sind. Natürlich sind inzwischen so viele Ansatzpunkte der damaligen Kulturrevolution zum Allgemeingut geworden, dass es mitunter zu seltsamen Mischungen kommt. Der eine hört zwar Rockmusik, liest dafür aber Ludwig Thoma (der zuletzt Chefredakteur des rechtsradikalen „Miesbacher Anzeigers“ war) und Spilleine. Oder einer liest revolutionäre Literatur und hört dafür Fesl und Reinhard Mey und hält beide noch für fortschrittlich. Der Dritte sieht sich zwar revolutionäre Filme an, liest aber Simmel und hört Barockmusik. Das gibt dann ein ziemlich schizophrenes Bewusstsein, was dann oftmals in seinen Ansichten, etwa zur Sexualität zum Ausdruck kommt.

Sollte es möglich sein, die Kulturrevolution den Bürgern wieder aus den Zähnen zu reissen, sie zu neuem Leben zu erwecken und sie für uns zu beanspruchen, dann müssten wir allerdings auch versuchen die alten Fehler zu vermeiden. Dann muss die ökonomische und politische Veränderung Hand in Hand gehen mit einer kulturellen Veränderung, dann muss man versuchen Marx (Die Welt ändern) und Rimbaud (Das Leben ändern) zu vereinen und so zu einem neuen Bewusstsein zu gelangen. Aber vielleicht ist es für eine Wiedergewinnung zu spät, vielleicht sollte man eher nach neuen Wegen suchen und neue Wege gehen, die Ansätze sind vorhanden.

Der Ansatz war einmal da. Es gab damals viele, die ihr Leben zu verändern begannen. Die ausbrachen aus der bürgerlichen Welt, sich lossagten vom Elternhaus, von der Schule, von der Fabrik, von der bürgerlichen Moral. Die hörten nicht nur die neue Musik, die versuchten auch ihre Inhalte zu verstehen und vor allem danach zu leben. Die lasen nicht nur die neue Literatur, die lebten sie, die gingen nicht mehr in Ford-Filme, die sahen sich revolutionäre Filme an und diskutierten darüber. Die revolutionierten erst einmal ihr eigenes Leben, ehe sie revolutionäre Ansprüche an andere stellten. Die gingen auch auf die Straße und demonstrierten gegen Springer und die Notstandsgesetze, aber sie wurden oftmals von den Linken nicht akzeptiert, die Linken wussten mit ihnen nichts anzufangen, sie standen ihnen oftmals ratlos gegenüber. Der Gammler – und ich meine hier den Typ, der von den Beatniks geprägt wurde – war für das bestehende System eine Provokation und er wurde von diesem System schon verfolgt, als sich die Linke noch der Gunst der Massenmedien erfreute, weil man ihn als eine Gefahr für die bestehende Gesellschaftsordnung erkannt hatte – und er war eine Gefahr, weil er für unzählige Jugendliche eine Aufforderung zur totalen Verweigerung darstellte, eine lebende, allen sichtbare Aufforderung.

„Drogen, sexuelle Perversion und Diebstahl dürfen nicht mit revolutionärer Aktion in eins geworfen werden.“ Monsieur Juquin, Mitglied des ZK der KP

Im Sommer 1967 – auf dem Höhepunkt der Jugendrebellion – sind in den Vereinigten Staaten mehr als 500.000 Jugendliche aus dem System ausgebrochen und begannen sich in einigen Kommunen und Kollektiven zu organisieren. Bei uns waren es nahezu 50.000. Noch heute scheinen viele Linke nicht kapiert zu haben, was dieser Exodus für das System bedeutete, es war eine totale Absage an die bestehende Gesellschaftsordnung. Das Verhältnis der Linken zu diesem Symptom ist noch immer gestört, so wie es damals teilweise gestört war. Die Unfähigkeit mit diesem Symptom fertig zu werden, führte zur Ablehnung der ganzen Bewegung, zur Ablehnung von Verweigerung und Bewusstseinsveränderung.

Dabei konsumieren heute die meisten Linken dieselbe Rockmusik, über die sie sich damals so aufregten. Man denke an die Flugblätter gegen die Stones- Konzerte oder an die Vertreibung der Ton-Steine-Scherben aus politischen Veranstaltungen. Dass dieses gestörte Verhältnis auch mit dazu beitrug, dass die Jugendrebellion scheiterte, das haben viele Linke noch nicht begriffen. Diese Rebellen gerieten praktisch zwischen alle Fronten. Der Weg zurück war für die meisten versperrt, sie hatten die Schiffe hinter sich verbrannt, ganz im Gegenteil zu vielen Linken, die immer noch mit einem Fuß in ihrem bürgerlichen Elternhaus stehen, die sich bürgerlichen Beruf, dank ihres Studiums, die sich ihren „Ausbruch“ oftmals nur mit einem monatlichen Scheck des Vaters leisten können. Der Weg nach vorn, das heißt, der Übergang von der Revolte zur Revolution war versperrt, weil sie von der Linken nicht oder nur teilweise akzeptiert wurden. So blieb ihnen meist nur die Flucht in die Dimension des Rausches, sei es der Drogen oder der irgendeiner Sekte oder Religion. Natürlich gab es Ausnahmen und vor allem gab es differenzierte Entwicklungen, mitunter auch entgegengesetzte. So stieß etwa Bommi Baumann von der Jugendrebellion zur revolutionären Linken, während andere, wie z.B. Langhans oder Hüsch von der revolutionären Linken zur Religion fanden.

Ich lebte damals, Mitte der 60er Jahre, mit einigen dieser Jugendlichen Rebellen zusammen. Zwei von ihnen, fünfzehn und sechzehn Jahre alt, waren aus einem Erziehungsheim geflohen, einer siebzehn Jahre alt, hatte seine Mechanikerlehre aufgegeben und das Elternhaus verlassen, einer sechzehn Jahre alt, hatte die Oberschule verlassen und mit dem Elterhaus gebrochen. Das einzige Mädchen in dieser Gemeinschaft war die achtzehnjährige Tochter eines Juristen und hatte sich im gegenseitigen Einverständnis von zu Hause getrennt. (Im Laufe der Jahre ging der eine oder andere, dafür kamen neue, im Grunde blieb die Zusammensetzung die gleiche und bietet somit auch einen Durchschnitt über die soziale Zusammensetzung dieser Scene.) Wir hockten in unserer Wohnung und hörten stundenlang Musik, wir rauchten unseren Joint und wir lasen Kerouac, Ginsberg, Sanders, Kupferberg, Genet, Cendrars usw., wir gingen in die neuen Theaterstücke und waren da, wenn ein avantgardistisches Theater in die Stadt kam, wir nahmen an den Ostermärschen teil und verteilten Flugblätter, wir waren bei der Erstürmung und Belagerung des Springerhauses dabei und bei der Besetzung der Akademie, wir waren während der Kampagne gegen die Notstandsgesetze in der Uni und halfen beim Drucken und Verteilen der Flugblätter und wir boykottierten die Fa. Rockwell, weil sie einen Arbeiter entlassen hatte, der an der Anti-Notstands-Demonstration teilgenommen hatte. Wir glaubten an die Veränderung der Welt und wir wollten daran teilnehmen. Es gab nichts, mit dem wir uns nicht beschäftigten, wir machten gemeinsam Gedichte und gaben eine Zeitschrift heraus, wir lasen Che Guevara und Debray und diskutierten über revolutionäre Theorien, wir sprachen über Wilhelm Reich und über sexuelle Probleme.

Die Jungens schliefen mit mir und mit dem Mädchen, es gab da keine Unterschiede und keine Problematik. Für sie war Homosexualität weder Unzucht noch Abnormität, sonder eine Variante sexueller Praktiken, es gehörte einfach zu dem Leben, das wir führen wollten. Der Kampf um sexuelle Freiheit war ja ein wesentlicher Bestandteil der Jugendrebellion, ohne den die Ereignisse von Berkeley und Nanterre nicht zu verstehen sind. Wir hatten auch bei Reich gelesen, der bereits vor fünfzig Jahren zu der Feststellung gekommen war, dass das von der bürgerlichen Gesellschaft normierte „Triebleben“ krankhaft sei, aber wir haben den patriarchalischen Subkulturheros in vielem hinter uns gelassen, denn selbst er hatte ja bekanntlich zur Homosexualität ein etwas gestörtes Verhältnis. Wir hielten uns mehr an neuere, gründlichere Untersuchungen des Problems. Für uns war Homosexualität nicht die sexuelle Praxis eines dritten Geschlechts, wie es während der ersten Jugendrebellion vor dem ersten Weltkrieg besonders von Hans Blüher propagiert wurde, der die homoerotische Liebe in Einklang mit dem Nationalismus bringen wollte, und schon gar nicht der Sexus einer frauenfeindlichen Männergemeinschaft. Es gab keine „Eifersucht“ zwischen dem Mädchen und mir und schon gar nicht gegenüber den Jungens, weder von ihr noch von mir.

Dass die Homosexualität in unserer Gesellschaft als „abweichendes“ Verhalten angesehen wird, ergibt sich zwangsläufig schon aus ihrer Struktur als einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Der Sexualtrieb des Menschen äußert sich ja bekanntlich von der frühesten Kindheit an. Er ist ein Trieb von beträchtlicher Stärke, da er den ganzen Menschen beeinflusst. Er lässt sich allerdings – etwa im Gegensatz zum Nahrungstrieb – völlig unterdrücken, ohne dass der Mensch dabei zugrunde geht. Damit ist der Trieb aber nicht aus der Welt geschafft. Wenn er unterdrückt wird, entstehen Ablenkungsprozesse, die sich als Verdrängung oder Sublimierung äußern. Die Tatsache der Verdrängbarkeit und der Unterdrückbarkeit machen den Sexualtrieb zu einem idealen Gegenstand herrschaftlicher Manipulation durch Normierung. Dabei besteht die Regel, dass je herrschaftlicher eine Gesellschaft ist, sie desto mehr Sorgfalt auf die Manipulation des Sexualtriebes der Beherrschten verwendet. Man denke nur an die Nazis, an den Stalinismus oder an die Katholische Kirche. (So hat W. Reich einmal nachgewiesen, dass der Beginn der stalinistischen Liquidationsmaßnahmen mit dem Verbot der Homosexualität zusammenfiel.) Je stärker der herrschaftliche Charakter in einer Gesellschaft ausgeprägt ist, desto restriktiver ist in der Regel das sexuelle Normensystem. Die Menschen in dieser Gesellschaft werden auf die Reproduktionsfunktion (d.h. auf das Kindermachen) verwiesen und die Lustfunktion wird nur geduldet unter der Voraussetzung, daß alle Sexualakte auf die Befruchtung hin vollzogen werden.

„Betrachten wir das sexuelle Normensystem unserer Gesellschaft, so zeigt sich, dass das herrschende sexuelle Normensystem durch Irrationalität und Herrschaftscharakter qua Unterdrückung gekennzeichnet ist.“ (Prof. Schmidt-Relenberg). In der bürgerlichen Gesellschaft funktioniert die repressive Sexualmoral als Disziplinierungsmittel in den Sozialisationsprozessen. Wichtigstes Medium hierbei ist die bürgerliche Familienideologie bzw. die Institution der Familie überhaupt.

Nun kommen ja leider die meisten Linken aus bürgerlichen Familien und übertragen diese „bürgerliche Moral“ in die revolutionäre Linke. Sie haben immer noch nicht kapiert, dass gelebte Sexualität ein wichtiger Faktor ist, der freiheitliches Verhalten bewirkt. Wer heute in der Linken die Ideologie der Familie verteidigt (und sei es in der Form einer kleinbürgerlichen Zweierbeziehung), verteidigt damit auch die bürgerliche Moral, hilft so die Herrschaftsstrukturen des bürgerlich-kapitalistischen Staates zu zementieren. Natürlich hatten die meisten Linken das damals mehr oder weniger mit dem Kopf begriffen, sie wussten, dass unterdrückte Sexualität dem System als Herrschaftsinstrument dient, aber wenn ich mit den Jungens ins Cafe Europa oder ins Chez Margot kam, herrschte entweder betretenes Schweigen oder „wohlwollende liberale Toleranz“. Dass man aber die erkannte Theorie auch in der Praxis nachvollzog und lebte, ging anscheinend nicht in ihren Kopf.

Ganz anders dagegen verhielt sich die damalige Subkulturscene der Hippies und Gammler. Die hatten zwar den Reich nicht im Kopf, aber für sie war meine Sexualität etwas völlig normales, die sie akzeptierten. Wenn damals auf der Leopoldstraße ein junger Ausreißer auftauchte und nach einer Unterkunft suchte, dann kam jeder sofort zu mir und fragte mich, ob er nicht bei mir schlafen könnte. Und das alles ohne Hintergedanken, ohne das süffisante Lächeln, das noch heute bei solchen Anlässen in der linken Scene auftaucht ohne Anzüglichkeiten. Dabei hatten diese Leute vorher meist mit dem Jungen gesprochen und ihm gesagt, dass ich homosexuell wäre. Im Gammler- und Hippietreff „Marianne“ kam jeder Junge zu mir, sprach mit mir, setzte sich zu mir, sie alle wussten, dass ich schwul war, aber nie „genierte“ sich deswegen jemand oder „schämte“ sich mit mir gesehen zu werden, was vorher und auch nachher oft wieder der Fall war. Eines Tages schlief im Lokal ein Junge neben mir ein und lehnte dabei seinen Kopf an meine Schulter. Ich habe weder ein schiefes Wort von jemandem gehört noch lachte jemand anzüglich, alle sahen das als normal an. Ein anderes Mal ging ich mit einem Jungen über die Leopoldstraße und ein Polizist, der mich kannte, rief den Jungen zu sich, warnte ihn vor mir, bemerkte, der Junge solle lieber meine Gesellschaft meiden, ich wäre schwul. Der Junge sagte „Na und“ und ging mit mir weiter.

Komme ich heute dagegen mit einem Jungen in die linke Scene, herrscht wieder das betretene Schweigen, bestenfalls wohlwollende Toleranz. Man muss das erlebt haben, wenn einer der Jungen mal zu einem Termin mitkam, kaum einer der Genossen wagte ihn anzusprechen, wohl aus Angst nicht den richtigen Ton zu finden. Kaum einer unterhielt sich mit ihm. Für manche war dieses eisige Schweigen bedrückend, sie kamen ein zweites Mal nicht mehr mit. Oder aber, als die HAM bei einem Knastfest mitmachte, was da an anzüglichen Bemerkungen von Genossen fiel, natürlich nur, wenn keiner der Schwulen dabei war. Von mir wussten sie es anscheinend nicht. Für die Linke ist Homosexualität noch immer ein Phänomen, mit dem sie nicht fertig werden, auf jeden Fall keine selbstverständliche Variante der Sexualität, von Päderastie schon gar nicht zu reden.

„Wäre ich nie mit Algeriern ins Bett gegangen, so hätte ich vielleicht niemals die Algerische Befreiungsfront unterstützen können …“ Jean Genet

Viele Linke, in deren Hinterkopf immer noch der Staatsanwalt, der Bulle nistet, die immer noch unbewusst die bürgerliche Moral verinnerlicht haben und mit sich herumschleppen, sollten sich wenigstens einmal mit der Geschichte der Homosexualität befassen. Vielleicht erkennen sie dann schon von daher die Fragwürdigkeit der sexuellen Normen in unserer Gesellschaft. Nicht allein dass die Päderastie, die Knabenliebe, vor dem Christentum eine sehr große (wenn auch bedenkliche) Rolle gespielt hat, sowohl in Griechenland wie auch im alten Rom, sondern auch heute noch in vielen arabischen Ländern anzutreffen ist. Und selbst in Europa gibt es ja sehr unterschiedliche Auffassungen. Während in der BRD noch vor einigen Jahren jeder geschlechtliche Verkehr zwischen Männern strafbar war, egal ob sie achtzehn oder achtzig waren, gab es in anderen Ländern Gesetze, die den homosexuellen Verkehr ab einem gewissen Alter erlaubten, in Frankreich ab einundzwanzig Jahren, in Schweden ab sechzehn Jahren, in Luxemburg ab vierzehn Jahren, in Spanien sogar schon ab zwölf Jahren. Das würde also heißen, dass unsere Linken, die noch heute ihre Nasen rümpfen, wenn sie hören, dass jemand mit einem sechzehnjährigen Jungen schläft, spiesshafter denken als ein holländischer oder schwedischer Konservativer. Sollte ihnen das nicht zu denken geben. Oder gilt immer noch, was die Zeitschrift „Schwuchtel“ vor einiger Zeit schrieb: „Wer durch die Gesellschaft zum Außenseiter gemacht wurde, der bleibt auch in der Linken ein Außenseiter.“

Diese linken Moralapostel sind dann die gleichen Genossen, die von „neuen Verkehrsformen“, „neuer Sensibilität“ „Neuer Zärtlichkeit“ reden. Denken sie sich eigentlich etwas dabei oder plappern sie nur Worte nach?

Natürlich ist der Afterverkehr allein für sich kein revolutionärer Akt, ebenso wenig wie der Geschlechtsverkehr mit einer Stute oder der nächtliche Spaziergang eines Exhibitionisten. Es gibt leider genügend angepasste Homosexuelle und homosexuelle Spießer, genau so wie es Tunten gibt, die für Franz Josef Strauß schwärmen und die CSU wählen, oder Lederjungs, die sich für den Faschismus begeistern. Es gibt sogar reaktionäre Schwule. Ein besonders übles Kapitel – und ein typisches Beispiel für die bürgerliche Moral – ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis des Nationalismus zur Homosexualität. So verteidigte Hitler vor der Machtübernahme seinen schwulen Obersten SA-Chef Ernst Röhm gegen die Vorwürfe entrüsteter Eltern mit der Begründung: „Die SA ist kein Kaffeekränzchen von Betschwestern“, während er nach der Machtergreifung die Liquidierung des unbequemen Rivalen mit der Erklärung rechtfertigte, er habe Deutschland vor dieser sittenzersetzenden homosexuellen SA-Clique schützen müssen. Aber im Grunde handelte Hitler nicht anders als jener brave Familienvater, der seinem Sohn den Umgang mit mir verbot, weil ich ihn „sittlich gefährden“ würde, während er selber in seinem Betrieb jeden Morgen ein fünfzehnjähriges Lehrmädchen mit einem Griff unter den Rock begrüßte. Bürgerliche Moral, also verlogene Moral. Ich bin deshalb auch dagegen, Leute wie Röhm in die Ahnenreihe revolutionärer Homoheroen einzureihen, sowenig wie ich annehme, dass die Frauenbewegung Leni Riefenstahl oder Hanna Reitsch als Vorkämpferinnen der Emanzipation betrachten würde.

Sexualität wird erst dann revolutionär, wenn man die sexuelle Repression als Herrschaftsinstrument erkannt hat und sich dagegen wehrt. Das heißt, wenn man die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in ihrer Unterdrückungs- und Ausbeutungsfunktion erkannt hat, dann wird der Homosexuelle oder der Päderast sich als Unterdrückten erkennen und sich mit allen anderen Unterdrückten oder Ausgebeuteten gemeinsam dagegen wehren. Wer allerdings nur für die Abschaffung des Paragraphen 175 kämpft, wer nur für die Herabsetzung des Schutzalters bei Jugendlichen eintritt oder für die Gleichberechtigung des Homosexuellen innerhalb des Systems, der ist lediglich ein Reformist, genau so wie der Sozialarbeiter oder der Gefangene, der einzig und allein für eine Reform des Strafvollzuges eintritt und nicht die Funktion des Knastes generell in Frage stellt Der Homosexuelle aber, der grundsätzlich die Existenz unserer Gesellschaftsordnung in Frage stellt und sich gegen die Unterdrückung wehrt, ist dann in erster Linie nicht mehr Schwuler, sondern Unterdrückter und muss sich in einem solidarischen Zusammenhang mit allen Unterdrückten sehen. Es ist dann nicht mehr so wichtig, in welcher Stelle er sich wehrt und das System bekämpft. Er kann das als Schwuler und ehemaliger Gefangener in einer Roten Hilfe tun, als Buchhändler und Schwuler in einem linken Buchladen und als schwuler Journalist bei einer linken Zeitung, denn er sollte ja innerhalb der Linken nicht in erster Linie als Schwuler gesehen werden, sondern als revolutionärer Genosse im gemeinsamen Kampf gegen den gemeinsamen Gegner. Ich wehre mich auf jeden Fall dagegen, von einem Getto ins andere abgeschoben zu werden, vom bürgerlichen Schwulen-Getto ins linke Schwulen-Getto, vom „Grünen Kakadu“ in die Teestube der HAM. Ist es nicht seltsam, dass die Schwulen der Linken auch erst wieder einige Zeitschriften gründen mussten, um sich Gehör zu verschaffen. So alternativ sind also unsere alternativen Zeitschriften auch wieder nicht. Und dabei haben bis zu dreißig Prozent (davon etwa drei Prozent ausschließlich) der Bevölkerung in den westlichen Gesellschaften zeitweilige homosexuelle oder bisexuelle Neigungen.

Natürlich kann es für einen Homosexuellen leichter sein sich zu einem Revolutionär zu entwickeln, weil er die Unterdrückung unmittelbar empfindet, weil er sie täglich offener zu spüren bekommt (In dieser Hinsicht ist er den Frauen oder den Internierten in unseren Gefängnissen gleichgestellt). Vor allem ist auch der Zusammenhang zwischen sexueller Unterdrückung und revolutionärer Praxis sehr offensichtlich. Was für die Herrschenden unterdrückbares Phänomen ist, kann auch gleichzeitig Vehikel der Befreiung für den Unterdrückten sein. Zwischen beidem besteht ein dialektischer Zusammenhang. Meine eigene Geschichte ist dafür ebenso beispielhaft wie die Geschichte aller Individuen und Gruppen, deren revolutionäre Entwicklung nicht von ihrer gleichzeitigen Emanzipation zu trennen ist. (Im Gegensatz dazu: Wo die Revolution nicht mit einer Emanzipation verbunden war, endete sie immer in Reaktion. Wenn es einen gemeinsamen Nenner gab, auf dem man 1968 sowohl die kommunistischen Parteien des Ostblocks wie die katholische CSU und auch die faschistische Junta in Griechenland bringen konnte, dann war es die Ablehnung der Rockmusik, der langen Haare, der freien Sexualität, der modernen Kunst usw.)

Ich habe im Laufe der letzten fünfundzwanzig Jahre alle Stadien eines Homosexuellen durchlaufen, die möglich sind, das heißt vom aberranten, mehr oder weniger systemkonformen Verhalten über einen Nonkonformismus bis zur revolutionären Phase. Während der ersten, systemkonformen Periode lebte ich als Heimleiter und Mitglied des Bundesvorstandes der Deutschen Jungdemokraten in Stuttgart. Ich hatte die Normen und Gesetze unseres Systems verinnerlicht und, wenn ich sie „verletzte“, das heißt, wenn ich mit einem Jungen schlief, dann war mir bewusst, dass ich eine „kriminelle“ Handlung begangen hatte. Ich war weit davon entfernt, die Gesetze oder die bestehenden Moralvorstellungen anzuzweifeln. Ich führte ein Doppelleben, war Dr. Jekyll und Mr. Hyde, also praktisch ein schizophrener Mensch. Tagsüber konferierte ich mit irgendeinem Minister oder Abgeordneten oder belehrte die Jugendlichen im Heim über die Vorzüge unserer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und nachts schlich ich in die dunklen Viertel der Großstädte, suchte auf Bahnhöfen und Toiletten flüchtige Bekanntschaften, um gegen Bezahlung ein rasches sexuelles Abenteuer in dunklen Parks und Absteigen zu erleben. Ich lernte die kriminalisierte und diffamierte Subkultur der Homosexuellen kennen, die ich brauchte und gleichzeitig verachtete. Ich lebte in ständiger Angst, tagsüber jemandem zu begegnen, mit dem ich am Abend zuvor Küsse und Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte und mich plagten „Gewissensbisse“ und „Schuldgefühle“ über diesen Lebenswandel. Meine Beziehungen waren reine Objektbeziehungen, meine sexuellen Kontakte Geschäftsabschlüsse, die den Warencharakter nicht verleugnen konnten und die Helle des Tages scheuten. Diese Periode endete mit einem Ausbruch aus der bürgerlichen Welt und meiner Flucht in die Fremdenlegion.

Die Jahre in Afrika brachten äußere und innere Veränderungen mit sich, es war eine Zeit der Besinnung und des Übergangs. Nicht nur, dass ich andere Länder kennen lernte, ich lernte auch andere gesellschaftliche Normen kennen, ich sah, dass hier erlaubt war, was bei uns verboten und strafbar war und begann an den Moralvorstellungen unseres Systems zu zweifeln. Warum sollte die Knabenliebe in Deutschland ein Verbrechen sein, wenn sie hier als normal angesehen wurde, warum sollte ich durch den Zufall der Geburt zum Verbrecher bestimmt sein. Ich fing also an zu überlegen, wie unsere Moralvorstellung entstanden war und was für eine Funktion sie hatte. Ich entdeckte, dass die bürgerliche Moral nicht seit ewig geltende und überall gültige Normen enthielt, sondern nur den Interessen einer bestimmten Gruppe dient, die ihre Machtpositionen und ökonomischen Grundlagen sichern und schützen wollte.

So begann ich mich allmählich von den Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft zu lösen. Ich las Gide und Cocteau, entdeckte die homoerotischen Züge der deutschen Jugendbewegung und stieß natürlich – wie alle Homosexuellen und Päderasten – auf die Griechen und ihre Knabenliebe, ohne allerdings damals die staatserhaltende Funktion der Päderastie im alten Griechenland zu entdecken, wie sie vor allem von Plato gelehrt wurde. Freilich amüsierte mich trotzdem die Tatsache, dass Plato ausgerechnet vom Christentum als quasi „vorchristlicher“ Heiliger gepriesen wurde. Fortan „schämte“ ich mich jedenfalls nicht mehr, mich mit einem algerischen oder marokkanischen Jungen sehen zu lassen und schloss Freundschaft mit ihnen. Und über sie vollzog sich auch eine politische Bewusstseinsveränderung, denn ich lernte durch sie die Sorgen und Probleme der algerischen Bevölkerung kennen, ich bekam einen emotionalen Bezug dazu, was Kolonialismus und imperialistische Unterdrückungspolitik bedeutet. Meine Kontakte zur marokkanischen und algerischen Befreiungsfront waren die logischen Konsequenzen dieser Wandlung.

Als ich 1961 nach München zurückkam, war ich Nonkonformist, ich erkannte keine Normen und Gesetze mehr an und verstieß bewusst gegen sie. Meine damalige Situation lässt sich am besten mit einem Zitat aus Hesses „Steppenwolf“ beschreiben: „Ich war im Lauf der Zeit berufslos, familienlos, heimatlos geworden, stand außerhalb aller sozialen Gruppen, allein, von niemanden geliebt, von vielen beargwöhnt, in ständigem, bitteren Konflikt mit der öffentlichen Meinung, Moral, und wenn ich auch noch im bürgerlichen Rahmen lebte, war ich doch inmitten dieser Welt mit meinem ganzen Fühlen und Denken ein Fremder. Religion, Vaterland, Familie, Staat waren mir entwertet und gingen mich nichts mehr an.“

Damit änderte sich auch mein Verhältnis zu meinen sexuellen Partnern. Ich lernte viele Jungens kennen, ich sprach offen mit ihnen über meine Neigungen und Bedürfnisse und ich suchte auch andere Beziehungen zu ihnen als nur sexuelle. Sie waren nicht mehr Objekte für mich, sondern Freunde, gleichwertige und gleichberechtigte Partner. Wir gingen zusammen aus, unterhielten uns über unsere Probleme, sie erzählten mir von ihren Schwierigkeiten in der Schule oder im Beruf, mit den Eltern und sprachen über ihre sexuellen Probleme. Mich kümmerten nicht mehr die „schiefen“ Blicke der anderen, das Getuschel hinter meinem Rücken, ich kannte keine Schuldgefühle mehr, ich wollte nicht länger ein Doppelleben führen, mich verband ja nichts mehr mit dieser Gesellschaft.

Natürlich kam ich auch mit Strichjungen in Berührung, dafür sorgte schon die Moral dieser Gesellschaft, die Vorurteile, von denen natürlich auch die meisten Jungen geprägt wurden und der Kreis der „normalen“ Jungen war klein, man musste schon in den Dunstkreis der homosexuellen Subkultur gehen, um Anschluss zu finden. Es war auch oft gefährlich, andere Jungens anzusprechen, die meisten waren misstrauisch, ängstlich und standen derartigen Kontakten ablehnend gegenüber. So kam es, dass sich die meisten Jungen im Milieu der bekannten Bars und Treffs aufhielten, die man ohne Gefahr ansprechen konnte. Aber gerade auch hier versuchte ich das Verhältnis Strichjunge/Freier aufzulösen, versuchte es in andere, menschliche Beziehungen umzuwandeln, ging auch so oft wie möglich mit ihnen aus diesem Milieu fort, in andere Lokale, denn schon das veränderte oft die Beziehungen.

„Der Kapitalismus macht seine Homosexuellen zu missratenen Normalen, ganz wie er seine Arbeiter zu falschen Bourgeois macht.“ Guy Hocquenghe

Und dann merkte ich oftmals, dass es meist ganz andere Gründe waren als nur materielle, was diese Jungens auf den Strich führte. Sie kamen zumeist aus kaputten Familien, lebten in deklassierten Vierteln, hatten Schwierigkeiten in der Schule, im Beruf, in der Familie, lebten ohne Kontakte und menschliche Beziehungen und suchten hier in diesem Milieu meist einen Ersatz dafür. Viele waren aus einem Heim abgehauen und sahen im Strich die einzige Möglichkeit um zu leben, zogen dieses Leben vor allem einem kriminellen Dasein, der anderen Existenzmöglichkeit, vor. Ihre Notlage wurde zumeist ausgenützt, man nahm sie mit und schickte sie anschließend wieder auf die Straße, oft wurden sie nicht einmal mit in die Wohnung genommen, sondern nur rasch in eine Toilette gezogen, in einen dunklen Winkel im Park und mit zehn oder zwanzig Mark abgespeist. Ich nahm sie stets mit nach Hause, ließ sie bei mir wohnen, nicht nur eine Nacht, sondern solange sie wollten. Auch die Linke ist ja später mit ihrem Versuch gescheitert, diese jugendlichen Ausreißer in die linke Scene zu integrieren. Die meisten von ihnen, die bei Genossen wohnten, wurden dann kriminell oder es kam zu Konflikten und man setzte sie wieder auf die Straße. Ein sehr kleiner Prozentsatz wurde zu „angepassten Arbeitern“ dressiert. Das Problem ist ja bis heute ungelöst, zumindest in München, wir haben kein SSHK wie in Köln oder ähnliche Einrichtungen. Ich kann mir wenigstens zu Gute halten, dass mich mit den meisten Jungens von damals noch heute freundschaftliche Beziehungen verbinden. Sie zumindest schienen nicht nur das Gefühl gehabt zu haben, ausgenutzt zu werden. Natürlich gab es Ausnahmen.

Die dritte Periode, die revolutionäre Phase, begann Mitte der 60er Jahre und fiel zusammen mit der Jugend- oder Studentenrevolte. Beeinflusst von den Beatniks und ausgelöst durch die politischen Demonstrationen gegen die atomare Bewaffnung, gegen die amerikanische Vietnampolitik usw. begann ich nicht länger nur die Gültigkeit bestimmter Normen und Gesetze anzuzweifeln, sondern bestritt insgesamt die Legitimität des gesellschaftlichen Systems. Indem ich gegen die politische und ökonomische Unterdrückung der dritten Welt demonstrierte, demonstrierte ich auch zugleich gegen meine eigene sexuelle Unterdrückung. Der Mensch muss insgesamt befreit werden, nicht nur auf einem Gebiet. Ich fühlte mich solidarisch mit den Black Panthers oder den Vietcongs, weil ich hier im Lande selbst ein Neger war, ein Homosexueller.

Und auch die Jungens, die von zu Hause oder aus dem Heim abgehauen waren, waren Unterdrückte, sie wurden von den Eltern, von den Lehrern oder von ihren Meistern unterdrückt. Von da her sah ich auch meine Beziehungen zu den Jungens und wir diskutierten darüber. Der Gammler wurde unterdrückt und verfolgt, der Hippie, der Haschraucher, und von da her stellte sich eine Gemeinsamkeit zwischen uns her, die sie verstanden und akzeptierten und in der wir lebten. Natürlich gab es Konflikte, diese Konflikte betrafen mich nicht allein, mit diesen Konflikten muss heute jeder Linke sich auseinandersetzen, muss mit ihnen leben. Jede Bewusstseinsänderung entwickelt sich langsam, und dieser Prozess löst immer wieder andere Prozesse aus.

So ist z.B. bürgerliches Denken vor allem auch Besitzdenken und dieses Besitzdenken setzt sich bis in unsere Beziehungen fort. Ehe und Familie haben ihren Ursprung ja ganz sicher nicht in sexuellen und kommunikativen Bedürfnissen, sondern in ökonomischen Bedingungen wie Privateigentum, Vererbung von Vermögen und dem hieraus entstandenen patriarchalischen Verhältnissen. Von da her ergeben sich Besitzansprüche des Mannes auf die Frau, der Mutter auf das Kind. Unterdrückungsmechanismen wirken von oben nach unten weiter. Der im Betrieb oder im Büro unterdrückte Mann unterdrückt zu Hause seine Frau, die wiederum unterdrückt ihre Kinder, das Kind, das Kind eventuell das Haustier. Viele Eltern sehen sowieso ihre Kinder als ihren Besitz an. Wer die Kinder antastet, der tastet auch den Besitz der Familie an, der geht wahrscheinlich auch an den Safe. Andererseits wehren sich auch viele Mütter gegen jegliche sexuellen Kontakte ihrer Kinder, aus Angst sie zu verlieren, es wird ihnen ja etwas genommen. Von daher sind viele Ängste gegen die Sexualität der Kinder zu verstehen. All das muss berücksichtigt werden, wenn man über Sexualität diskutieren will. Ein anderer Aspekt: Wie sollen Eltern reagieren, wenn sich die Sexualität der Kinder bemerkbar macht. Ein Problem, das bei der Diskussion über Päderastie beachtet werden muss. Oder auch: Wer weiß eigentlich, dass der größte Schaden bei einem Kind nicht durch ein sexuelles Erlebnis entsteht, sondern durch die Problematisierung danach, durch die Fragen, Vorwürfe, Verhöre.

Vorurteile entstehen ja zumeist auf Grund von Unwissenheit. Die Aufgabe von Besitzansprüchen kann sich erst im Laufe von Jahren vollziehen, meist nach vielen Kämpfen, heftigen Diskussionen und Reaktionen. Wichtig ist nur, dass man tatsächlich dazu bereit ist, dass man die Zusammenhänge zwischen Ursprüngen und der eigenen Situation kapiert hat. Wichtig ist, dass man erst mal verunsichert wird, dann ist man auch eher bereit nachzudenken, und ich wurde verunsichert. So mancher Junge dieser Zeit hat sich gegen die „Abhängigkeit“ von mir gewehrt, so gewehrt, dass ich teilweise zu Drogen griff, um mein sexuelles Verlangen zu unterdrücken. Aber auch zu anderen Abhängigkeiten. Ich habe keine Lust auf meine sexuellen Bedürfnisse zu verzichten, mich selbst zu deformieren.

Problematisch war und ist auch die Frage der Autorität, vor allem zwischen einem erwachsenen Mann und einem Jugendlichen. Grundsätzlich muss ich dazu sagen, dass ich immer eine gewisse Schutzgrenze akzeptiert habe. Weniger auf Grund irgendwelcher sexualwissenschaftlicher Erkenntnisse, hier gibt es nach neuesten Ergebnissen kaum eine Grenze, nicht von ungefähr wurde in Schweden die Abschaffung jeglicher Altersgrenzen beantragt. Ich habe für mich diese Begrenzung auf Grund meiner eigenen Erfahrungen und auf Grund meiner eigenen Bedürfnisse entschieden, ich halte Jugendliche ab vierzehn Jahre für alt und reif genug, allein über ihre sexuellen Beziehungen zu entscheiden. Außerdem stehe ich voll und ganz zu der Erklärung von W.H. Bendt: „Sexuelle Beziehungen, gleich welcher Art und zwischen wem, die nicht auf absoluter Freiwilligkeit und Einverständnis beruhen, sind nichts weiter als ein Ausbeutungsverhältnis.“ Damit ist auch meine Einstellung zur „Verführung“ umrissen.

Das Autoritätsproblem ist ja auch nicht allein für den Homosexuellen oder Päderasten ein heikles Problem, sondern für jeden antiautoritären Linken. Ich habe versucht dem zu entgehen, indem ich nach Möglichkeit immer Partner suchte, mit denen ich keinen direkten Arbeitszusammenhang hatte. Man mag das als eine Flucht – vor dem Problem ansehen, ich kenne aber keine andere oder bessere Lösung und letztenendes ist das auch nicht mein Problem, ich bin weder Lehrer noch Meister noch Vorgesetzter und habe auch nicht die Absicht irgendetwas ähnliches zu werden. Indem ich nicht einem Jungen als der große Polit-Guru gegenüberstehe, konnte ich meine Autorität auch immer etwas abbauen. Die Autorität des Alters wird – ich habe das oft genug mit Befriedigung zur Kenntnis genommen – von den Jugendlichen heute zum Glück kaum noch respektiert. Hier hat sich doch etwas vom antiautoritären Geist der 60er Jahre erhalten und Wirkung gezeigt. Nur viele Linke scheinen das noch nicht bemerkt zu haben, für sie scheint das noch ein Problem zu sein, so geht das zumindest aus ihren Einwänden hervor.

Im übrigen ist natürlich das Autoritätsproblem nicht allein ein Problem der Autoritäten, sondern auch das derjenigen, die andere als Autoritäten aufbauen und akzeptieren. Und ein sechzehnjähriger Junge sieht einen homosexuellen Mann weit weniger als Autorität an, als viele Linke ihre Gurus. Schon gar nicht, wenn dieser Mann ein ähnliches Bewusstsein wie sie hat, wenn er die Musik dieser Jugend nicht nur akzeptiert, sondern auch von ihr geprägt wurde, wenn er die gleichen Drogenerfahrungen hat, die gleichen Filme und Bücher gesehen und gelesen hat, ihre Ansichten über Arbeit, Familie, Schule, Eltern usw. teilt, ihre sexuellen Bedürfnisse anerkennt usw. Das ist dann alles eher eine Frage des Bewusstseins als der Autorität und ich kann da aus Erfahrung mitreden. Ein bürgerlicher Schwuler hat vielleicht andere Probleme, doch ich habe seit 1966 das Milieu der bürgerlichen Schwulen, die Subkultur der Homo-Bars und Treffs nicht mehr oder nur noch ganz selten aufgesucht.

Weit problematischer ist da immer noch das Verhältnis der Schwulen oder Päderasten zur Linken. Man denke z.B. an die Geschichte des Homosexuellen, von der Cohn-Bendit im „Grossen Basar“ berichtet. Ich sehe auch heute noch kaum eine Möglichkeit für einen Päderasten oder Ephebophilen, in einer WG mit Heterosexuellen zu wohnen. (Vielleicht sollte man mal zur Unterscheidung klären: Man unterscheidet zwei große Hauptgruppen und zwei kleinere Nebengruppen. Die beiden Hauptgruppen – zu denen ca. 90 Prozent aller Homosexuellen zählen – sind die Ephebophilen, die Personen vom Beginn bis zum Abschluss der geschlechtlichen Reife, also Jungens von etwa vierzehn bis einundzwanzig Jahren lieben und Androphile, die zu Personen vom Beginn des Mannesalters bis zum Beginn des Greisenalters neigen. Hinzu kommen noch zwei Nebengruppen, die Pädophilen und die Gerontophilen, von denen die ersteren zu noch nicht geschlechtsreifen Personen tendieren, während die anderen nur für Greise sexuelle Empfindungen verspüren.)

Was ergeben sich da für Probleme? Vielleicht weniger für den bewussten und sich zu seinen Bedürfnissen bekennenden Genossen als vielmehr für den jungen Partner. Man muss diese Scheu heute noch einfach als gegeben hinnehmen, das Klima ist auch bei der Linken noch nicht reif für eine völlig unvoreingenommene Haltung ihm gegenüber. Wenn die sexuellen Kontakte bekannt sind, dann wird der Besuch eines Jungen in einer WG oftmals zu einem Spießrutenlaufen und der Schwule wird, wenn sich das erst mal rumgesprochen hat, bald keinen Jungen mehr finden, der zu ihm kommt. Ich habe da meine Erfahrungen gesammelt und aus diesem Grunde auch das freiwillige Exil im Gartenhaus vorgezogen. Natürlich wäre es da vielleicht besser, wenn sich mehrere Homosexuelle oder Päderasten zusammensetzen würden und auch gemeinsam wohnen. Aber auch das ergäbe Komplikationen. Einmal weil ich mich grundsätzlich gegen Gettos für Schwule ausspreche, zum anderen weil sich hier für Bullen Ansatzpunkte ergeben würden. Diese Wohnungen wären bald beliebte Objekte für eine Observation, ähnlich einer konspirativen Wohnung der Stadtguerilla.

Ich bin deshalb auch mehr für eine Bewusstseinsveränderung innerhalb der Linken, die permanent von den Schwulen vorangetrieben werden müsste, also auch hier: Coming out aus dem linken Getto und hinein in alle „normalen“ linken Gruppen. Wir müssen die Sexualität als Waffe wieder entdecken und sie ständig im Kampf einsetzen. Die Problematik der Schwulen ist im Grunde die Problematik aller, denn wir sind alle sexuelle Unterdrückte. Der Kampf gegen die bürgerliche Moral ist gleichzeitig der Kampf gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung. In diesem Sinne gibt es zwar Differenzierungen, aber keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Heterosexuellen, Homosexuellen oder Päderasten. Deshalb sollten sich besonders die Homosexuellen davor hüten, aus der Homosexualität eine „Weltanschauung“ zu machen, ihr „Anderssein“ zu kultivieren. Sie bestätigen oder bestärken damit nur bestehende Vorurteile. Homosexualität oder Päderastie sind nur Varianten der Sexualität und nichts mehr und nichts weniger.

Der Kampf gegen die bürgerlichen Normen ist auch gleichzeitig ein Kampf gegen die bürgerliche Familie, dieses Treibhaus von Neurosen, diesen Kerker aller Lust. Wer gegen die ökonomische Unterdrückung kämpft, der muss auch gleichzeitig gegen die sexuelle Unterdrückung kämpfen, denn unser Kampf gilt aller Unterdrückung. Eine Revolution, die nicht gleichzeitig mit einer Emanzipation Hand in Hand geht, mit einer Emanzipation auf allen Gebieten, endet immer mit einer neuen Unterdrückung. Wer gegen die bürgerlichen Normen und Wertvorstellungen kämpft, der muss auch gleichzeitig gegen die sexuellen Normen der bürgerlichen Gesellschaft kämpfen, die erst die Unterscheidung in „normale“, „unnormale“ oder „perverse“ Sexualpraktiken eingeführt hat.

Wer das nicht kapiert hat, der beweist nur, dass er doch lediglich ein „kleinbürgerlicher Rebell“ ist und kein Revolutionär. Die Revolution ist kein abstrakter, utopischer Begriff, sie darf nicht auf ein unbekanntes Datum in weiter Ferne fixiert werden. Revolution ist immer, wir müssen nur beginnen, sie zu leben!

Peter Schult


Peter Schult Dokumentation, München 1977, 18 ff. und Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft 5 vom Februar 1977, München, 86 ff.

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1 = Sozialistischer Bund

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Schwule/Lesben

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