Materialien 1976
Die Chance des Ökosozialismus
Was bedeuten die »Grenzen des Wachstums« für die Wirtschaftspolitik?
Ich fühle mich berufen, von außen an das Thema heranzukommen, und zwar von einem Standpunkt aus, für den es leider noch kein hübsches Wort gibt. Ich muss also den etwas schwerfälligen, aber bisher noch besten Ausdruck gebrauchen – vom Standpunkt des konsequenten Ökologisten aus. Der konsequente Ökologist hat zunächst ohne Vorurteil an die Politik und an die Politiker heranzutreten. Er geht von einem einzigen kategorischen Indikativ aus, der im vierten vorchristlichen Jahrhundert in einem taoistischen Werk formuliert worden ist: Die Welt gehört nicht einer Gattung, sie gehört der Welt. Dazu tritt ein einziger kategorischer Imperativ, den ich so formuliert habe: Bisher hat sich der Materialismus damit begnügt, die Welt zu verändern, jetzt kommt es darauf an, sie zu erhalten.
Dieser Imperativ schließt natürlich ein Werturteil ein, nämlich das Werturteil, dass die Welt es wert ist, erhalten zu werden. Das ist keineswegs selbstverständlich. Theoretisch wird diese Position sogar von Leuten angegriffen, die ich sehr ernst nehme, wie etwa meinen alten Freund Theo Pirker, der behauptet oder feststellt, dass wir überhaupt nicht verantwortlich für unsere Enkel planen könnten, weil wir die Parameter nicht kennen, nach denen sie werden leben müssen, und dass das eigentliche Axiom nach wie vor der Satz von Jeffersen sein muss: Wir halten es für evident, dass die Welt in ihrer ganzen Fülle der gegenwärtigen Generation zu ihrer Nutznießung übergeben ist.
Für die Praxis des Alltags zunächst bleibt festzustellen, dass selbstverständlich die große Mehrheit die Erhaltenswürdigkeit der Welt verneint, denn etwas wollen, bedeutet, die Folgen dessen wollen und in Kauf nehmen was man will. Das Strafrecht geht völlig richtig davon aus, dass der Autofahrer, der bei Rot durch die Ampel braust, für den resultierenden Tod des Kindes verantwortlich ist, auch wenn seine Intention eine ganz andere war. Dazu kommt – ich glaube das schließen zu können aus Gesprächen vor allem mit sogenannten Konservativen -, dass ein großer sadomasochistischer Komplex in unserer Gesellschaft steckt, der im Grunde genommen mit einer gewissen Wollust auf den großen Knall wartet. Demgegenüber hat der Ökologist axiomatisch an dem kategorischen Indikativ und dem kategorischen Imperativ festzuhalten, die genannt wurden. Und von hier aus befragt er die herrschende Produktionspraxis. Er hat zu fordern, dass sie sich den durchaus flexiblen Gegebenheiten der ökologischen Regelsysteme unterwirft, mit anderen Worten, dass sich die politische Ökonomie einer politischen Ökologie unterwirft.
Hier ist in der Praxis dann immer der Punkt, wo die Wirtschaftler auftreten und sagen: die haben ja keine Ahnung. Ich kann nur sagen: ich brauche keine Ahnung zu haben – die Wirtschaft erhält einen neuen Auftrag. Die sogenannte Wirtschaftslehre hat diesen Auftrag wahrzunehmen. Wenn natürlich führende Koryphäen der sogenannten Wirtschaft wie unser jetzt ausgeschiedener Bundesminister Friederichs von vornherein erklären, dass das ganze ein Ritt auf dem Tiger sei, dass man aber nicht herunterkomme, dann nimmt für mich diese Art von Wirtschaftswissenschaft den Charakter einer vollkommen zwecklosen Scholastik an.
Es genügt der Hinweis auf die beiden für unser Untersuchungsthema relevanten Wirtschaftssysteme. Die Freiwirtschaft, der Kapitalismus oder wie immer man das nennen will, operierte bisher ungeheuer erfolgreich mit der systematischen Umkehrung der tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisse. Es ist objektiv so, dass das Produktionssystem von den Gegebenheiten des Ökosystems abhängt und das Wirtschaftssystem seinerseits die Gegebenheiten des Produktionssystems zu organisieren hätte. In Wahrheit ist in unserer Wirtschaftsverfassung der gegenläufige Trend, die gegenläufige Organisation erkennbar. Die Kapitalverwertung entscheidet über die Natur des Produktionssystems, das seinerseits das Ökosystem versklavt und ausbeutet. Die offensichtliche Unmöglichkeit, ein solches System auf die Dauer durchzuhalten, wurde und wird durch Wechselreiterei auf die Lebensmöglichkeiten der Enkel verschleiert. Ihre galoppierende Reduktion kann nicht mehr geleugnet werden.
Das System des realen Sozialismus rühmt sich seiner Möglichkeiten der Berücksichtigung ökologischer Faktoren, welche sich aus der Abschaffung des Kapitalakkumulationsprinzips ergeben. In Wahrheit jedoch – erstens – verbleibt der Rentabilitätsdruck, der vom Produktionssystem auf das Ökosystem ausgeübt wird, das lässt sich nachweisen, und zweitens schlägt jede ökologische Fehlentscheidung infolge der fehlenden demokratischen Außensteuerung voll auf die Realität durch. Das beste Beispiel dafür ist die nicht vorhandene Opposition gegen Kernkraftwerke in den Ländern des Comecon. Es ist auch interessant, dass sehr ernstzunehmende nonkonformistische Schriftsteller und Intellektuelle das Problem überhaupt noch nicht in die Sicht bekommen haben, weil natürlich das, was man im weitesten Sinne als das Charta-77-Problem bezeichnen könnte, ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Wer interessiert ist, über diese Dinge noch etwas mehr zu erfahren, den bitte ich, meinen Bericht in L 76 Nr. 2 über ein langes Gespräch mit den Redakteuren von »Woprossi filosofii« (Fragen der Philosophie) in Moskau nachzulesen.
Grundsätzlich, d.h. abgelöst von den Gegebenheiten der Theorie-Praxis, sind zwei Entwicklungen vorstellbar, welche diesen Erfordernissen gerecht werden könnten. Aus den bisherigen Systemen heraus einmal eine Entwicklung des kapitalistischen Systems in eine Art von internationalem oder großräumigen Faschismus, eine Allianz z.B. von multinationalen Konzernen, einigen Mitgliedern des Zehner-Clubs und den sogenannten Eliten der Dritten Welt. Ihr Programm wäre eine Internalisierung aller ökologischen Kosten mit voller Weitergabe an die Konsumenten, evtl. Abschottung gegenüber dem unlösbaren Problem der Vierten Welt, wie etwa Bevölkerungsprobleme, die bis zu Maßnahmen physischer Liquidation gehen könnten. Zweitens eine globale kommunistische Verteilungsdiktatur a la Wolfgang Harich, also ein Marxismus mit radikal gekappter Eschatologie, außerordentlichen Vollmachten der Distribution und der ewigen Wiederkehr des gleichen.
Die Kritik dieser beiden Systeme ist jedoch unschwer einzuleiten, wenn man sich klarmacht, dass die ökologische Bilanzierung immer und überall auf Energiebasis vorgenommen werden kann. Dies gilt sowohl für die Analyse der politisch-gesellschaftlichen Effizienz, wie auch für die toxisch-noxische Belastung, also die sogenannte Umweltverschmutzung selbst. Beide Systeme aber und die mögliche Entwicklung, die ich angedeutet habe, die möglichen Extrapolationen aus den existierenden Systemen, leiden unter den hohen Reibungsverlusten, welche sie der planetarischen Bilanz auferlegen. Die Internalisierung der Ökokosten als kapitalistische Aushilfe bedeutet nichts anderes als den Versuch, das Perpetuum mobile zu bauen. Also wenn man Leute wie Kahn oder auch meinen CSU-Abgeordneten Kreile fragt nach dem ökologischen Problem, dann ist die Antwort, wenn wir genug Geld haben, können wir das alles lösen. Wobei übersehen wird, dass Geld natürlich die Resultante bereits einer Energiefreisetzung von ungeheuren Ausmaßen ist, – wenn also mehr Geld benötigt wird, wird mehr Energie freigesetzt, und das Perpetuum mobile, der ganze Klapperatismus bleibt stehen.
Demgegenüber muss festgestellt werden, dass die entsprechenden regionalen Verbesserungen auf Kosten einer internationalen Arbeitsteilung vorgenommen werden können, die per Saldo bereits läuft; es gilt die Formel vom geometrisch steigenden Energieverlust bei linear steigender Produktivität. Recycling ist hier eines der energieaufwendigsten Beispiele. Was hinzukommt, ist der Verschleiß durch Dissens oder Gleichgültigkeit. Ganz konkret, nicht nur als Metapher, ist Dissens oder Gleichgültigkeit ein ungeheurer gesellschaftlicher Reibungsverlust, eine Abwärme, die als solche in die Produktionsbilanz eingesetzt werden kann. Das ist die zentrale Schwäche aller Verteilungsdiktaturen, aber darüber hinaus aller Übergrößen, und zwar schon sichtbar bei uns in den Großkonzernen. Das Beispiel lässt sich in der Mikroökonomie belegen durch den weit überdurchschnittlichen Verschleiß von Dingen wie Dienstwagen, öffentlichen Einrichtungen jeder Art, das Problem des gemeinsamen Korridors in großen Wohnkondominien usw. Im weitesten Sinne lässt sich auch das gesamte Transportproblem auf den Begriff der Reibungsverluste reduzieren. Es gibt die schöne Geschichte, dass sich am Zarenhof der Zar erkundigte, warum er so wenig Geld von den Steuern zu sehen bekäme, die in den Provinzen einbehoben würden, und ein Höfling unten am Tisch hörte das, nahm einen Eisbrocken, ließ ihn für den Zaren weiterreichen, und er ging durch viele Hände und bis der Zar ihn erhielt, war er fast verschwunden.
Damit stellt sich ökologisch gesehen der sogenannte demokratische oder ökologische Zentralismus als Contradictio in adjecto heraus.
Zu entwerfen wäre, von der ökologischen Forderung her,
a) ein Produktions- und Wirtschaftssystem, das dem Ideal einer Kreislaufwirtschaft aus laufendem Energieeinkommen möglichst nahe kommt,
b) ein Produktions- und Wirtschaftssystem mit möglichst geringen Energieverlusten durch – im weitesten Sinne – Transport und Dissens.
Der Kenner wird unschwer erkennen, dass sich die bei den Begriffe mutadis mutandis durch Entfremdung subsummieren lassen, und wir stoßen also vom strikt ökologistischen Standpunkt aus auf einen einzigen utopischen oder real-utopischen Vorschlag, der diese Art zu wirtschaften beschreibt, der heißt: freie Assoziation der unmittelbar Produzierenden. Was passierte, wäre natürlich eine ungeheure Schrumpfung des Brutto-Sozialprodukts, die ich außerordentlich begrüßen würde, denn dies ist ein völlig fiktiver Begriff. Ich gebe ein Beispiel: Wenn uns über Nacht die Gabe der Gesundheit geschenkt würde, so dass die Nation nur mehr das hätte, was man früher so hatte, einen geknacksten Fuß oder eine Grippe und dergleichen, entstünde ein ungeheures Arbeitslosenproblem; Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Pharmaindustrie usw. Das gleiche gilt und galt bei den Kernkraftwerken; Sicherheitspersonal, Bauten usw. Die betreffende Arbeitsplatzdebatte stellt sich also größtenteils als irrationale Mythologie heraus. Faktum ist, dass wir eine großenteils ungeliebte Arbeitslast falsch verteilen,
a) durch die Trennung zwischen Produktion und Konsum; das beste Beispiel ist das Trimmfahrrad im Keller, das als reiner Konsumartikel zu keiner Produktionsleistung mehr, etwa einer Transportleistung, zu gebrauchen ist,
b) durch den steigenden Anteil an Manpower zur Verwaltung der Reibungsverluste.
Dass sich Kapitalinteressen dieser Reorganisation entgegenstellen, ist klar, aber ich fürchte, dass das Kapital in diesem Fall nur einen Teil der Machtinteressen darstellt, denn auch der Staat ist interessiert an einem Reibungsverlust, an möglichst großen Transportbewegungen im weitesten Sinne. Das Inkasso der Mächtigen hat seit den Zeiten der Raubritter noch jeweils an den Relaispunkten des Transports stattgefunden. Von hierher erklärt sich auch das Zentralinteresse der Mächtigen an einer zentralisierten Energiewirtschaft. Der Weg vom Kollektor auf dem Dach in den Warmwasserboiler ist schlechthin sehr schwierig zu besteuern. Von hierher gesehen glaubte sich der Staat berechtigt, 19 Milliarden à fonds perdu für Kernenergiezwecke vorleisten zu können.
Der politische Ansatz: der Aufbau dezentraler Gegenmacht ist notwendig, beginnend mit der Energie, und zwar rein konkret physikalisch. Der dezentralisierte Einsatz von Solarenergie im Niedrigtemperaturbereich ist thermodynamisch nach dem 2. Gesetz der allerbeste überhaupt. Wenn schon die Hälfe des gesamten Energiebedarfs der Nation in Haushalte und an Kleinverbraucher geht, und weit über die Hälfte dieses Verbrauchs auf dem Gebiet der Niedrigtemperatur, also Raumzimmerwärme und Warmwasser usw. liegt, ist hier – politisch absolut real – eine ungeheure Reduktion der Energiebilanz, der Energierechnung der Nation möglich. Ich halte das für den Hebel der ganzen Sache. Voraussetzung der Organisation solcher dezentralen Assoziationen der unmittelbar frei Produzierenden ist der Abbau an Dissens und Unlust, also an Reibung, d h. dass diejenigen Betriebsgrößen gesucht werden müssen, innerhalb derer diese Unlust nur noch minimal oder nicht vorhanden ist, wo im Gegenteil Konsumenergie in Produktionsenergie übersetzt wird, mit nicht nur Verlust, sondern Gewinn an persönlicher Satisfaktion.
Letzte Bemerkung zu den Gewerkschaften. Die sogenannte Loderer-Linie in der Kernkraftwerkfrage ist nicht nur kurzfristig als Arbeitsplatzideologie verständlich, sondern mittelfristig auch als Reaktion, als durchaus verständliche Reaktion auf das von mir angedeutete Inkassoproblem der Macht. Der DGB hat sich zu fragen, wie er die Struktur des Inkassos bei einem rapide abnehmenden Arbeitsvolumen, scheinbar rapide abnehmendem Arbeitsvolumen, regeln will. Ich glaube, dass er hier nicht schwarz zu sehen braucht, wenn er das Modell einer neuen, radikalen Mitbestimmung ganz ernst nimmt. Wenn er sich nämlich an die Spitze der Bewegung setzt – die Macht liegt hier buchstäblich auf der Straße – und die Frage stellt: was soll wie in welchem Umfang überhaupt produziert werden. Der konsequente Ökologist wird auf jeden Fall den Aufbau dezentraler Strukturen fordern. Es ist Sache der Gewerkschaftsbewegung, die Chance zu erkennen, die sich ihnen im Ökosozialismus bildet. Ich lasse hier die Katze aus dem Sack.
Andererseits kann der Ökologist nicht damit rechnen, hier und heute seinen Zielen näher zu kommen, wenn er etwa im Stil der meisten bürgerlichen Ökologisten die Errungenschaften der Arbeiterbewegung als irrelevant oder gar schädlich beiseite schiebt. Das hat übrigens die Mehrzahl der europäischen Ökologisten erkannt. Kürzlich in Metz auf einer Tagung, wo Vertreter von 12 Nationen anwesend waren, ist in dieser Hinsicht eigentlich bereits ein erfreulicherweise Konsens erzielt worden. Soviel zum Material. Die Diskussion wird weiteres erbringen.
Carl Amery
L’76. Demokratie und Sozialismus. Politische und literarische Beiträge 7 vom 1. Vierteljahr 1978, 119 ff.