Nützliches
Kritik der Kritik
„Der Ruf“, die in München erscheinenden, unabhängigen Blätter der „jungen Generation“, erfreut sich ob seiner, für unsere heutigen Begriffe, einzig dastehenden kritischen Haltung eines wirkli-
chen Rufes bei der Leserschaft. Und wir möchten auch nicht den kritischen Charakter der Zeit-
schrift nur um ihrer Kritik willen angreifen. Kritik ist eine Voraussetzung des verantwortlichen menschlichen Handelns, sozusagen eine menschliche Grundfunktion. Es wäre falsch, anzunehmen, dass gerade uns Deutschen die Fähigkeit zu kritisieren abgehe, so zitiert beispielsweise schon L. Westenrieder, 1778, einen Brief über die Münchner:
„Ich habe bei den Münchnern eine Art ausgelassener Freiheit bemerkt, die man nicht leicht bei einem anderen Volk antreffen wird. Sie räsonieren öffentlich und frei über ihre Ministers, und wenn von höchster Stelle ein Mandat herauskömmt, so stehen sie zusammen und sagen überlaut ihr Urteil. Man würde glauben, diese Freiheit könnte nachteilig sein, aber hier hat sie nicht die mindeste Folge. Wenn der Tag heranrückt, an dem das Mandat befolgt werden solle, so vollziehen sie es ohne Murren und ohne zu wissen, was das seie, sich wider etwas zu setzen.“
Geht nicht gerade aus diesem Beispiel auch die Art der Kritik, wie sie heute noch gang und gäbe ist, sehr deutlich hervor. Sie ist zunächst einmal eine Kritik des anderen. Diese Kritik war auch im Dritten Reich üblich, bis zum Überdruss. Sie war aber auch eine Kritik ohne Konsequenz. Das heißt, das, was kritisiert wurde und noch heute wird, kann nicht vom Kritiker selbst aufgehoben, gebessert werden, sondern es liegt ausschließlich im Ermessen des Kritisierten, die Kritik anzuer-
kennen und etwas zur Behebung der aufgezeigten Mängel zu tun. Für den Kritiker ergeben sich nur indirekte Wirkungen. Er erhebt sich mit seiner Kritik in die Stellung eines Überlegenen, eines Besseren. An der kritisierten Sache ist nichts behoben, gehoben hat sich nur das Selbstgefühl des Kritikers. Und hier stoßen wir auf die Wurzel dieser Art von Kritik. Sie entspringt einem Mangel an Substanz, einem wirklichen oder vermeintlichen Mangel, den der Kritiker auszugleichen sucht. Die Kritik wird zum Selbstzweck, zur Kritik um der Kritik willen. Diese Art von Kritik ist also gerade das Gegenteil dessen, was man unter verantwortlicher menschlicher Tätigkeit verstehen muss.
Das Beispiel bei Westenrieder zeigt aber auch die Kehrseite der Medaille, die Folgen dieser Art von Kritik. Es ist eine Kritik ohne Folgen; der eben noch so eifrige Kritiker tut, was ihm befohlen wur-
de, „ohne zu wissen, was das seie, sich wider etwas zu setzen“. Nun, auch diese Kritik ohne Folgen ist ein Tatbestand des Dritten Reiches.
Wo die Substanz fehlt, da schleicht sich bei uns allzugern das Wörtchen „unabhängig“ ein, einen Tatbestand vortäuschend, den es nie und nimmer geben kann. „Unabhängig“ kann ehrlich gemeint sein, d. h. ohne Standpunkt, nur kritisch. Wenn es ehrlich gemeint ist, dann ist es dumm. Denn auch die Verfasser einer solchen „unabhängigen Zeitschrift“ sind in Wahrheit sehr abhängig von gewissen Dingen und seien es auch nur Ami-Kippen. Meist aber handelt es sich um eine absicht-
liche Täuschung, um die Vertretung bestimmter Tendenzen und Abhängigkeiten, die man nicht zugeben will. Man kann ein entschlossener Reaktionär sein, der weiß, was er zu verlieren hat, und der daher von seinem Standpunkt aus den Gegner mit allen Mitteln angreift und verleumdet. Man kann ein zielbewusster Sozialist sein, der weiß, unter welchen Krebsschäden die menschliche Ge-
sellschaft heute leidet und der daher, selbstkritisch und wachsam, die Verhältnisse wirklich zu ändern trachtet. Und man kann, wissentlich oder unwissentlich, zwischen den Polen stehen, nach links und nach rechts kritisch sein, und damit, objektiv gesehen, dem schaden, was sich ehrlich bemüht, neu zu gestalten und aufzubauen, und einzig dem dienen, was sich konservieren und be-
wahren will. Unabhängig – kritisch? Unabhängig von wem? Man muss das aussprechen!
Die Nation. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 1 vom März 1947, 15.