Materialien 1977

Ernährung und Politik

Eine Diskussion im Milbertshofener Stadtteilzentrum gab mir den Anstoß,
die folgenden Gedanken aufzuschreiben.

Ich glaube mehr und mehr, dass eine Auseinandersetzung mit der durch die großen Lebensmittelkonzerne durchgesetzten Ernährungsweise ebenso wichtig ist, wie der radikale und phantasievolle Kampf gegen Atomkraftwerke. Atomkraftwerke und unseren heutigen Ernährungsgewohnheiten sind alle beide Ausdruck derselben kapitalistischen Entwicklung, derselben Interessen. Sie sind Ausdruck der Tatsache, dass Tod und Krankheit in der heutigen Gesellschaft mehr und mehr künstlich produziert werden. Atomkraftwerke sind nur der extreme Ausdruck einer Entwicklung, die schon viel früher begonnen hat und ihre klebrigen Finger in alle Ritzen unseres Lebens steckt. Denn kapitalistische Entwicklung hat immer diese beiden Aspekte: einerseits die Ausbeutung von Arbeit auf immer größerer Stufenleiter, andererseits die Mechanisierung und Industrialisierung möglichst aller Bereiche unseres Lebens. Schon längst ist die Sinnlosigkeit dieser Entwicklung überdeutlich und trotzdem ist es immer wieder notwendig, einzelne Aspekte eingehender zu diskutieren, um sich dagegen wehren zu können.

Ein solcher Aspekt ist die Ernährung: Mittlerweile hat es die Lebensmittelindustrie geschafft, unsere ganzen Hauptnahrungsmittel derart zu behandeln, dass sie zu eindeutigen Giften geworden sind. Mehr und mehr Leute sterben an Krebs und es wird zunehmend deutlicher, dass ein wichtiger Grund für das Umsichgreifen dieser modernen Zivilisationsseuche die Ernährung mit isolierten Kohlenhydraten ist. Dass der Stoffwechsel des Menschen durch den isolierten Zucker entscheidend gefährdet wird, hat sich bereits herumgesprochen. Mit der Stärke, die wir in Form von Brot, Kuchen, Teigwaren, Mehl und Pudding zu uns nehmen, besteht dasselbe Problem:

„Alle Getreidearten wären in idealer Weise befähigt, uns mit den notwendigen Vitalstoffen zu versorgen, wenn … ja wenn wir das ganze Korn zu uns nehmen: Entwerten wir es wie den Zucker, entfernen wir Keim und Randschicht zugunsten des Schweintrogs und essen den sterilen Mehlkörper, dann wäre es besser, wir äßen gar nichts. Reine Stärke ohne Begleitstoffe, wie wir sie mit Weißbrot und Nudeln, mit Graubrot und poliertem Reis auf unseren Speisezettel setzen, wirkt ähnlich verheerend auf unsere Gesundheit wie isolierter Zucker.“

Dies ist ein Zitat aus der Broschüre: „Auch dazu ward ihm der Verstand. Über Sinn und Unsinn unserer Ernährungsgewohnheiten“ von Gerda Wurster, erschienen bei Edition Wandlungen. Es ist eine sehr informative Broschüre, die ich nur empfehlen kann.

Zu diesem Problem der isolierten Kohlenhydrate kommen noch viele andere: z. B. die chemische Ölherstellung, die chemische Behandlung von Obst und Gemüse, das Pasteurisieren der Milch usw. Alles Methoden, mit denen unsere Nahrungsmittel behandelt werden, allein weil dahinter Profitinteressen stecken.

Nun sind die Folgen dieser Ernährung meistens nicht so schnell wirksam wie z.B. die Folgen eines Unfalls in einem Atomkraftwerk oder ein Arbeitsunfall, oder vielleicht die Folgen alltäglichen Stresses. Sie sind aber genauso effektiv. Wenn es berechtigt ist zu fragen, was nützt uns eine gesündere Lebens- und Ernährungsweise, wenn im ganzen Land Atomkraftwerke stehen, so ist die umgekehrte Frage genauso berechtigt: Was nützt es uns, wenn wir den Bau von Atomkraftwerken verhindern, wenn wir einige Zeit später an der Industrialisierung unserer Ernährung krepieren?

Uns nützt es sicher nichts: Verdienen werden daran allenfalls jene Sparten kapitalistischer Geschäftemacher, die schon heute an dieser Entwicklung fett werden: die pharmazeutische Industrie, die Ärzte, die Krankenkassen. Und ich glaube mehr und mehr, dass die Industrialisierung der Krankheit ein ganz wesentlicher Stützpfeiler dieser Gesellschaft ist. Jedes Stück Selbstkontrolle, das wir über unsere Körper zurückgewinnen, ist deshalb gleichzeitig ein Stück politischer Autonomie. Je mehr es uns gelingt, uns durch eine andere Ernährung, durch das Wiederentdecken der Selbstheilungskräfte unserer Körper ein Stück Unabhängigkeit von den Institutionen dieser Gesellschaft zu erobern, desto mehr schaffen wir Voraussetzungen für eine radikale Umwälzung dieser Gesellschaft. Dabei ist mir schon klar, dass dies nur   sinnvoll ist als Bestandteil einer viel umfassenderen praktischen und theoretischen Erforschung einer neuen Lebensweise.

Alternative Ernährungslehre ist hierzulande vor allem durch die makrobiotische Heilslehre bekannt geworden. Abgesehen von einigen nützlichen Erkenntnissen ist diese Lehre überaus dogmatisch und in vieler Hinsicht dumm. Sie hat der Verbreitung dieser Erkenntnisse deshalb mehr geschadet als genützt. Denn wenn wir über eine nicht krankmachende Ernährung diskutieren wollen, sind dogmatische Vorschriften nur   lästig. Neben dem verstandesmäßigen Begreifen einiger wesentlicher physiologischer Vorgänge in unserem Körper handelt es sich doch vor allem um eine phantasievolle Neuentdeckung unserer Bedürfnisse, unseres Geschmacks und auch eines neuen Verhältnisses zum Wohlbefinden, was uns durch die Industrialisierung des Lebens systematisch zerstört wurde.

Und wie ist es mit der Unabhängigkeit? Tauschen wir nicht bloß den Konsumtrip in den Warenhäusern mit einer Abhängigkeit von den Makro-Läden aus? Und in den Warenhäusern trauten wir uns wenigstens noch zu klauen. Ich glaube, es gibt hier ein Problem, an dem sich die Linke bisher schwer getan hat, solidarisch zu diskutieren. Makro-Läden sind sehr ähnlichen Problemen ausgesetzt wie beispielsweise linke Verleger und Buchläden. Beide haben mit den Gesetzen des kapitalistischen Marktes zu kämpfen. Und beide haben durchaus Möglichkeiten gefunden und manchmal auch vertan, sich diesen Gesetzmäßigkeiten nicht völlig auszuliefern. Dass Bücher wahnsinnig teuer geworden sind, ist meistens nur   zum kleinen Teil die Schuld der linken Verlage. Ebenso können die Makro-Läden vorerst wenig dafür, dass ihre Produkte relativ teuer sind. Nun können wir aber nicht alle über einen Kamm scheren; es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Wagenbach-Verlag und dem Trikont-Verlag. Der erste ist strukturell ziemlich eindeutig bürgerlich, der andere widersetzt sich dem seit Jahren und steht auch in einem ganz anderen Verhältnis zur Bewegung. Ähnliches gibt es bei den Makro-Läden. Ich zweifle nicht daran, dass sich in den letzten Jahren viele Organisationen und Individuen um den Markt natürlicher Lebensmittel zu kümmern begonnen haben, weil sie eine Marktlücke entdeckt haben. Auf der anderen Seite finden wir viele Individuen und Gruppen, denen es tatsächlich um die Organisation des Überlebens geht, um den Vertrieb von Überlebensmitteln. So kann zum Beispiel im Erdgarten keine Rede davon sein, dass sich jemand privat am Verkauf natürlicher Lebensmittel bereichert und die Entlöhnung der Mitarbeitenden ist z. B. in diesem Fall eindeutig egalitär und außerdem nicht höher als in linken Alternativprojekten (Soweit mir die Entlöhnungsverhältnisse in solchen bekannt ist).

Ich finde es durchaus berechtigt, sich für neue Organisationsformen einzusetzen. Zum Beispiel für Lebensmittel-Kooperativen. Im Lebascha experimentieren wir damit schon länger herum und sind gerade momentan dabei, wichtige Schritte vorwärts zu machen.. Wahrscheinlich wird es uns gelingen, natürliche Lebensmittel für die Mitglieder der Kooperative zu verbilligen. Der Gerechtigkeit halber müssen wir aber sagen, dass unser ganzes Vorhaben ohne eine Zusammenarbeit mit den bestehenden Einkaufsstrukturen auf zittrigen Beinen stehen würde. Es wird sich herausstellen, wie das weitergehen wird.

(In den Staaten gab es Anfang dieses Jahres eine konzentrierte Aktion der herkömmlichen Läden gegen den Großhändler Erewohon – vergleichbar mit dem belgischen Makro-Konzern Lima – mit der diese Läden den Großhändler zwingen wollten, keine Kooperativen mehr zu beliefern. Erewhon allerdings hat sich geweigert, auf diesen Druck einzugehen.)

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Blatt – Stadtzeitung für München 93 vom 6. Mai 1977, 18 f.

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1 = Meinrad Rohner, geborener Schweizer, wird 1974 Mitglied im Kollektiv von Lebasch und vertreibt Bücher des Trikont Verlages. 1976 eröffnet er die Buchhandlung Tramplpfad in der Elsässerstraße in Haidhausen, die bis 1982 existiert.