Materialien 1977
Im Namen des Volkes?
Am Montag, den 4. April, beginnt um 9.00 Uhr im Sitzungssaal 28 des Landgerichts München I am Stachus die Berufungsverhandlung gegen den zweiundzwanzigjährigen Ernst Hemm. Sein Fall ist einer jener Fälle, die nie zum FALL werden. Die Boulevard-Presse widmet ihm keine Zeile, denn er hat nicht den publizistischen Stellenwert einer Ingrid van Bergen und er ist auch kein politischer Gefangener, für den sich die Genossen engagieren. Menschen wie Ernst H. stehen Tag für Tag vor westdeutschen Gerichten und werden von der Justizmaschinerie verschaukelt, ohne dass je ein Hahn danach kräht.
Ernst wuchs am Rande Münchens im Schatten von Betonsilos auf, zwischen denen es am Tage kein Leben gibt und die nachts im kalten Neonlicht einer gespensterhaften Totenstadt gleichen. In diesen trostlosen Trabantenstädten gibt es für Jugendliche praktisch nur eine Art von Freizeitbeschäftigung: Mopeddiebstahl und Automatenknacken.
Ernst wurde mit 14 Jahren zum ersten Mal zu einer Jugendstrafe verurteilt und damit war – für den Kenner unseres Strafvollzuges keine Überraschung – sein weiteres Leben vorprogrammiert. Kaum entlassen saß er schon wieder im Knast. Unsere Gesellschaft produziert die Kriminalität und die Justiz tut ihr möglichstes, um sie am Leben zu erhalten. Mit 21 Jahren hat es Ernst bereits auf sechs Vorstrafen gebracht. Addiert man die Summe seiner Beute, kommt man vielleicht auf 100,— DM. Die Kosten für die Prozesse und die Knastaufenthalte belaufen sich sicher auf 100.000 Mark. Es lebe die Gerechtigkeit!
Im Oktober letzten Jahres knackte er mit einigen Freunden einen Keller dieser Betonsilos auf. Man erbeutete einige Flaschen Wein und zwei Flaschen Limonade, die man an Ort und Stelle austrinkt. Mit dem Wein in der Tasche werden sie geschnappt und eingesperrt. Am 19. Januar hat Ernst Verhandlung. Sein Verteidiger, ein Anwalt aus einer bekannten Kanzlei in der Schwanthalerstrasse, erscheint nicht, da die Mutter von Ernst, eine Witwe mit vier Kindern, nicht genug Geld auf den Tisch geblättert hatte. Die Anzahlung behält er ein für die Knastbesuche. Richter und Staatsanwalt sind unter sich und verhandeln über den Kopf des Angeklagten hinweg, der sich in diesem Paragraphenwald nicht auskennt und beiden hilflos ausgeliefert ist. Es klingt wie Hohn, als der Staatsanwalt die „schwere Jugend“ des Angeklagten als Milderungsgrund anführt und „nur“ 2 ½ (in Worten: Zweieinhalb) Jahre Gefängnis beantragt. Der Richter erweist sich als „menschlich“ und mildert die Strafe auf 1 ½ Jahre ab. Man fasst sich an den Kopf: Für 2 Flaschen Limonade im Werte von 1.80 DM achtzehn Monate Knast. Die Mutter, die im Zuschauerraum sitzt, ruft „Unverschämt“ und wird vom Richter verwarnt.
Der Staatsanwalt geht in Berufung. Nun ist am Montag, den 4. April Berufungsverhandlung. Man sollte sich diesen Prozess einmal ansehen, man sollte sich mit eigenen Augen und Ohren davon überzeugen, wie im „Namen des Volkes“ Urteile gefällt werden, die sich gegen das Volk richten. Sowohl gegen den Jungen, den erst die Justiz zum „Verbrecher“ machte, wie auch gegen den Steuerzahler, der für die 1.80 DM den kostspieligen Justizapparat bezahlen muss.
Peter Schult
Blatt – Stadtzeitung für München 91 vom 1. April 1977, 17.