Materialien 1977
Gasteig, Bommi Baumann und andere Merkwürdigkeiten
Schon wieder ein Prozess
Am 4. Oktober beginnt im neuen Justizgebäude in der Nymphenburger Straße 16 („bombensicher“) ein abgewandelter Gasteig-Prozess: Anklage gegen Gerlinde Stefaner und Gisela Erler wegen angeblicher uneidlicher Falschaussage im Gegensatz zum Polizeibeamten Diener, Einsatzleiter bei der Räumung des Gasteiggebäudes im Februar 1974, dessen Glaubwürdigkeit über alle Zweifel erhaben ist.
Und damit erst komme ich zu dem, was ich eigentlich sagen möchte: anhand des Gasteig-Projekts ist es der Stadt München und der Polizei gelungen, viel mehr zu leisten als nur einige lästige Prozesse zu führen. Das Misserfolgserlebnis, dass ein sinnvoll zu nutzendes Projekt mit Mitteln der Vernunft und Überzeugung nicht ertrotzt werden konnte, führte nicht etwa zu einer gezielten Kritik an den verantwortlichen Behörden oder zum Entwurf neuer Handlungsstrategien ihnen gegenüber, sondern zunächst zu einer Auflösung von Arbeitszusammenhängen, die sich durch die Hoffnung auf ein funktionierendes Gasteig gebildet hatten. (Können wir uns überhaupt noch vorstellen, was ein solches Haus bedeutet hätte?)
Ferner zum Zerfall der Idee, auch in anderen Vierteln Bürgerzentren zu planen, zu einer Selbstzerfleischung, zu persönlichen Tragödien, zur Auflösung von Wohngemeinschaften, zu beruflichen Schwierigkeiten, de facto Berufsverboten für einige Sozialarbeiter, zum Ende reformistischer Hoffnungen gegenüber der Münchner SPD. Gleichzeitig war dieser Zerfall aber auch ein Anfang: viele wanderten ab in Gebiete, die (zu) lange vernachlässigt worden waren. Frauen bezogen sich endlich konsequent auf ihr Frausein, andere begannen Ökologiearbeit bis hin zur KKW-Bewegung etc. Doch eine Lücke ist geblieben seit dem „Gasteig“ und vielleicht kann der jetzt beginnende Prozess, gerade in der gegenwärtigen, etwas verschleierten, politischen Landschaft, mit ein Anlass werden, den Faden wieder aufzugreifen: die Frage nämlich, wie denn Machtprobleme gegenüber dem Staat oder auch anderen Institutionen und Personen anzugehen sind.
Dieser Prozess ist nicht nur eine weitere Ausuferung der anscheinend sinnentleerten Justizmaschinerie, sondern auch ein gezielter Angriff auf zwei Personen: Gerlinde Stefaner war, das ist kein Geheimnis, immer besonders engagiert im Bürgerverein Haidhausen, jener Initiative, die das geplante Zentrum als Idee im Stadtteil verankern half – und als Vertreterin der Initiative versuchte sie auch bei dem militärisch massiven Einsatz von Polizei und MEK mit dem Einsatzleiter um freien Abzug zu verhandeln. (Erfolglos, wie wir wissen, denn die Polizei war entschlossen, ihr „Vorfeld“ zu schaffen und erkennungsdienstlich zu konservieren).
Ich als zweite Person war und bin als Trikont-Geschäftsführerin und ehemalige Exponentin der „Arbeitersache“ der Staatsanwaltschaft stets ein Dorn im Auge, was sich an mehr als zehn (eingestellten) Ermittlungsverfahren nachvollziehen lässt. Überrascht waren wir dennoch, dass die jetzige Anklage wegen angeblicher Falschaussage in einer (!) Anklageschrift mit dem Verfahren gegen Herbert Röttgen und mich wegen der Publikation des Buchs von Bommi Baumann im Trikont-Verlag formuliert wurde – schlicht der Versuch, die in der Öffentlichkeit im Fall Baumann doch sehr offene Resonanz in Mißkredit zu bringen durch den Vorwurf, die Angeklagte Erler billige nicht nur Gewalt (ausgerechnet im Bommi-Buch), sondern lüge auch schlicht und ergreifend vor Gericht – ein Manöver, das leicht dazu angetan ist, unsichere Geister noch weiter schwankend zu machen. Nebeneffekt dieser so merkwürdig scheinenden und doch gezielten Verquickung ist, daß sie für mich in letzter Instanz eine (hohe) Gesamtstrafe in beiden Verfahren erbringen könnte, eine Möglichkeit also für die Justiz, mich mit Rücksicht auf Kind und Beruf zum Stillhalten zu zwingen und zu verängstigen.
Gisela Erler
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Kurze Geschichte des leeren Platzes am Gasteig oder
Kein Platz mehr für Aussätzige
Mai 1973: Das Altersheim am Gasteig (früher „Leprosenhaus“) wird geräumt, die alten Leute zwangsumquartiert.
6000 qm Nutzfläche werden frei.
Es entsteht eine „Initiative für ein Bürgerzentrum“, Haidhausenbüro der Victor Gollanczstiftung, Normalbürger, Spontibürger, DKP, Arbeiterbund etc.
Juni 1973: Auf einer Bürgerversammlung stimmt OB Kronawitter der Idee eines Bürgerzentrums zu.
August 1973: Bürgerfest im Gasteig, über 100 Leute, mit Genehmigung der Stadt.
Herbst: Jugendfest in der Kapelle. Es werden über 800 Unterschriften gesammelt. Die Stadträte Uhl und Eigner stellen immer wieder Anträge auf Zwischennutzung. Der Antrag wird von Referat zu Referat verschleppt. Kosten für Renovierung: Unter 100.000 DM.
Spätherbst: Die Initiative bekennt sich weiter zum Zentrum, aber manche beginnen zu resignieren.
6. Dezember 1973: Demonstration für den Gasteig in der Fußgängerzone. Konfrontation mit der Polizei. Die erste Prozesslawine (Beamtenbeleidigung etc.) rollt.
Weitere Demoralisierung.
Für Februar wird, um wieder Hoffnung zu schöpfen, ein (nicht genehmigtes) Wochenende der offenen Tür geplant. Am 22. Februar werden ca. 15O Leute, darunter viele Schüler und Jugendliche, im Haus festgenommen und in der Ettstraße erkennungsdienstlich behandelt. Alle bekommen Prozesse.
Das völlig intakte Gebäude wird noch im Februar 1974 abgerissen, angeblich um den Bau eines Kulturzentrums zu ermöglichen. Das Kulturzentrum gibt es bis heute nicht, die Finanzierung für das Projekt ist noch völlig ungesichert. 4 Jahre Nutzung mindestens wurden also gewaltsam verhindert.
Blatt – Stadtzeitung für München 104 vom 23. September 1977, 9.