Materialien 1977

Plädoyer für eine freiwillige Selbstkontrolle

Ein ziemlich ausgelogener Fernseh-Kommentar von Helmut Ruge

Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ist unsere Demokratie eine Wanzokratie, und warum heißen Wanzen Trauben, das sind einige Fragen, mit denen ich mich heute beschäf-
tigen möchte. Was die erste Frage betrifft: Was geht vor, die Freiheit oder der Verfassungsschutz? – so würde ich sagen: Die Freiheit, wenn der Verfassungsschutz nicht vorgeht.

Trotzdem, wenn auch manches an der Kritik dran ist, oder auch alles, sollte man nicht übertreiben. Wer weiß, was noch kommt. Anders gefragt: Liegt es nicht an unserer falschen Einstellung zum Verfassungsschutz, dass es so kommen musste? Oder: Haben wir nicht immer nur unsere eigene, kleine, banale, persönliche Freiheit im Auge gehabt und den Verfassungsschutz draußen vor der Tür gelassen, so dass er einfach einbrechen musste. Noch anders gefragt: Warum öffnen wir nicht gleich die Tür, wenn er sowieso rein muss. Und er muss rein – bei jedem von uns, wenn wir als Volk überleben wollen. Und wir überleben nur, wenn wir Atomkraftwerke bauen. Und je mehr Atomkraftwerke wir bauen, umso verdächtiger wird jeder, weil dann jeder in der Nähe eines Atomkraftwerkes wohnen kann, so dass jeder zuviel weiß, weil er aus der Gegend stammt – und diese Informationen könnte er ja weitergeben – an wen und was dann?

Liebe Zuschauer, finden wir uns damit ab. Das ist das Beste, was wir aus unserer Situation machen können. Das gilt besonders für die Befürworter von Atomkraftwerken – weil es bei den Gegnern noch klarer ist. Wer dagegen ist, sucht Kontakt. Kontakt sucht man zu Gruppen. Und was können das für Gruppen sein? Von Gruppen zum Sprengstoff ist der Weg ja gewöhnlich nicht weit.

Warum zwingen wir den Verfassungsschutz, bei uns einzubrechen, statt dass wir gleich immer einen Drittschlüssel für den Verfassungsschutz machen? Und bei der Abgabe lernen wir gleich unseren Kontaktbeamten kennen, der sich allzu oft als ganz normaler, sympathischer Mitmensch herausstellt, der persönlich nicht das Geringste gegen uns hat. Im Gegenteil. Oder warum ersparen wir den Beamten nicht das peinliche Dampfbad mit unseren Briefen? Durchschlag genügt.

Oder diese ganzen entsetzlichen Fragen, die wir uns immer stellen lassen, wenn wir in den öffentlichen Dienst hinein wollen, bis wir es zugeben, und dann nicht mehr hinein können.
Warum geben wir es nicht gleich zu? Da wäre vieles leichter.

Liefern wir selbst unser Belastungsmaterial, dann kann uns nichts Unvorhergesehenes mehr passieren. Eine freiwillige Selbstkontrolle, die auf der freiwilligen Selbstbeobachtung beruht, entspricht sowohl dem Geist der Eigeninitiative wie auch unserem modernen Freiheitsbegriff. Schon Goethe sagte in einem unveröffentlichten Gedicht: Die größte Freiheit ist, sie sich selbst
zu beschneiden.


konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 5 vom 28. April 1977, 48 f.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Bürgerrechte

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