Materialien 1977
Wie leben wir morgen? Technokratenstaat contra Rechtsstaat
Diskussionsveranstaltung in München am 1. Oktober
Die größten Probleme bei der Einführung weiterer Atomkraftwerke, insbesondere der schnellen Brüter, sind gesellschaftliche Probleme. Die Menschen, die in Kernkraftwerken, Wiederaufberei-
tungsanlagen und Zulieferfirmen arbeiten, müssen zum Schutz vor Terroristen bis in Einzelheiten ihres Privatlebens überwacht werden. Eine effektive Überwachung wird auch die Arbeiter, die das Kraftwerk bauen und alle Menschen, die in seiner Umgebung wohnen, mit einbeziehen. Kernkraft-
gegner werden als potentielle Attentäter erfasst und ihre Organisationen mit Spitzeln durchsetzt. Wer für die Freiheit ist, muss daher gegen die erweiterte Anwendung der Kernkraft sein, weil sie zwingend zur Überwachung und Bespitzelung der Bürger führt.
Diesen Ausführungen von Prof. Dr. Robert Jungk beim eintägigen Kongress der Humanistischen Union „Wie leben wir morgen?“ folgte Prof. Dr. Wilhelm Steinmüller, Universität Regensburg, der zeigte: Das Instrumentarium, das zur totalen Oberwachung gebraucht werden kann, wird gerade gebaut. Computerbänke des Staates und der Wirtschaft sammeln erreichbare Daten über die Bür-
ger und tauschen sie auch aus. In der Sozialdatenbank, an der seit zehn Jahren gebaut wird, wer-
den neun von zehn Bürgern erfasst sein. Die angebliche „Anonymisierung“ der Daten besteht da-
rin, dass der Name gegen eine Nummer ausgetauscht wird. Niemand außer dem Bundesdaten-
schutzbeauftragten darf dieses System gegen Missbrauch kontrollieren. Ein Mensch allein kann aber ein System von solch gigantischen Ausmaßen nicht überwachen. Die Einrichtung der großen Datenbänke und das staatliche Meldewesen ergeben zusammen eine auf der Welt einmalige tech-
nisch organisatorische Vorkehrung für ein perfektes Überwachungssystem, dem nahezu keine Kontrollmöglichkeiten gegenüber stehen.
Die oft konstruierte Behauptung, mehr Umweltschutz bedeute weniger Arbeitsplätze, widerlegte der Vorsitzende des Bundes Naturschutz, Hubert Weinzierl. Umweltschutz verlagert das Wachs-
tum; es besteht z.B. ein Nachholbedarf an Kläranlagen im Werte von 7 Milliarden DM. Wer Natur-
schutz gegen Wirtschaftswachstum aufrechnet, ohne zu sagen, welches Wachstum er meint, muss sich fragen lassen, was seine Vorstellung eines menschengerechten Lebens ist.
In der anschließenden Diskussion der Referenten mit dem Publikum wurde unter anderem gefor-
dert, dass in Deutschland eine Auskunftspflicht der Behörden an Journalisten eingeführt wird, die dem amerikanischen „freedom of information act“ entspricht.
Mitteilungen der Humanistische Union 81 vom Dezember 1977, 42.